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Ueber Schiller's Lyrik im Verhältnisse zu ihrer musikalischen Behandlung.
Von Dr. F. A. Braudstaeter.

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Heinrich von Kleist, seine Jugend und die Familie Schroffenstein. Von Dr.
R. A. Schillmann.
Solution des difficultés que présente l'accord du participe passé dans la langue
française. Von Fr. Haase.

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474

Miscellen.

Seite 124-128. 333-350. 476-478.

Bibliographischer Anzeiger.

Seite 351-352. 479-480.

Ueber

den innern Bau und den Abschluss des

lyrischen Gedichtes. *)

In den Lehrbüchern der Poetik, auch diejenigen nicht ausgeschlossen, die im Ganzen sorgfältig auf die Technik der einzelnen Dichtungsarten sich einlassen, giebt es kaum eine ungenügendere Partie, als die von der innern Gliederung und dem Abschluss des lyrischen Gedichtes handelnde. Unter den mir bekannten Poetiken geht das Werk von Rud. Gottschall (die Dichtkunst und ihre Technik vom Standpunkt der Neuzeit Breslau 1858) am tiefsten auf die hier in Betracht kommenden Fragen ein, befriedigt aber auch nicht in seinen Ergebnissen. Wesshalb dieses Feld der Poetik so besonders mangelhaft angebaut geblieben ist, lässt sich freilich leicht erkennen. Die Gesetze für die Gliederung eines objectiven Gedichtes, mag nun das Object eine Handlung, ein Bild, oder eine Gedankengruppe sein, treten dem Theoretiker, wie dem ausübenden Künstler viel bestimmter und deutlicher entgegen. Eine Hand

*) Die hier vorgelegte Untersuchung ruht wesentlich auf der Betrachtung lyrischer Gedichte der neuern Literaturen, besonders der vaterländischen, in der die lyrische Poesie sich zu einer so herrlichen Blüthe, wie in keiner andern, entfaltet hat. Die besondern Formen der Gliederung lyrischer Gedichte, wie sie sich in der Chor-Lyrik des griechischen Dramas, in der Poesie der Minnesänger und anderswo ausgebildet haben, sind hier absichtlich ansser Acht gelassen. Was ich aus meinen frühern Arbeiten zur Aufhellung des Gegenstandes für dienlich erachtete, habe ich, wenn die Form passend und sachgemäss schien, kein Bedenken getragen unverändert aufzunehmen.

Archiv f. n. Sprachen. XXXV.

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lung durchläuft in der Regel mehrere Stadien, hat ihre Ausruh- und Wendepunkte und erreicht schliesslich ein festes Ziel; dem erzählenden Dichter ergeben sich daher aus dem Gegenstande sichere Anhaltspunkte sowohl für die innere Organisation als für den Abschluss seines Gedichtes. Der beschreibende Dichter entfaltet die Haupttheile des Bildes vor unserm inneren Sinne; wenn er den Kreis durchmessen hat, schliesst er ab, nachdem er aus den Haupttheilen die Glieder seiner Dichtung gebildet hat. Aehnlich verhält es sich mit dem didaktischen Dichter. Anders aber steht es um die eigentliche Lyrik. Hier ist die Empfindung, die Stimmung das Herrschende, und Bilder und Vorstellungen müssen sich ihr fügen und unterordnen. „Man beobachte“, sagt der oben erwähnte Poetiker, „das eigene Gemüth, wenn es von einer Empfindung erregt und beherrscht wird. Welchen Träumereien giebt es sich hin! Welche Reihen von Vorstellungen gaukeln an ihm vorüber! Wie zufällig ist der Uebergang von der einen zur andern, wie locker ihre Verknüpfung! Wie verweilt es bei der einen mit ausmalender Geschäftigkeit, während es über die andere im Fluge hinwegeilt! Doch die Empfindung selbst bleibt immer der Kern, an den die krystallinischen Gebilde der Phantasie anschiessen." Nicht also die unsteten, regellos wechselnden, alles Ebenmasses, aller logischen Folgerichtigkeit entbehrenden Bilder, Vorstellungen und Gedanken scheinen es zu sein, was die Anhaltspunkte zur Gliederung und Abgrenzung des lyrischen Gedichtes hergeben kann, sondern die im Gedicht herrschende Stimmung und Empfindung. Aber sind so ätherische Seelengebilde, wie Stimmung und Empfindung, wohl dazu geeignet, die Grundlage für feste Gliederung und scharfe Abrundung eines Gedichtes zu bieten? Diese Frage muss bejaht werden, wenn gleich nicht zu leugnen ist, dass sowohl dem Dichter das instinctive Empfinden der Gliederungs- und Abgrenzungsgesetze, als dem Poetiker das deutliche Erkennen derselben auf diesem Felde der Dichtkunst weniger leicht, als auf andern, werden muss

Jede Empfindung, jedes Gefühl, jede Leidenschaft ist ein Seelengebilde, das nicht ruhend, nicht wechsellos beharrt, sondern sein Leben, seine Entwickelungsphasen und Metamorphosen hat, das von äussern oder innern Anregungen genährt und belebt,

oder bekämpft und gehemmt wird, das mit andern Seelengebilden in Wechselwirkung und Wahlverwandtschaft steht, andere anzieht, abstösst, mit andern Verbindungen eingeht, andere erzeugt, oder, wenn es zusammengesetzt ist, sich zersetzen kann. Das Leben solcher Seelengebilde zu beobachten, ihrem Wachsen, Culminiren, Abnehmen und Schwinden, ihren Entwickelungsstufen und Umbildungen, ihren Verbindungs- und Zersetzungsprocessen nachzuspüren, mag schwierig sein; aber dem unbefangenen, mit dem Auge eines Naturforschers prüfenden Beobachter kommen dabei die mustergültigsten lyrischen Gedichte selbst zu Hülfe, indem sich schon in ihrer äusseren Gliederung jene inneren Wandlungen abspiegeln. Wäre das betreffende Feld der Psychologie mehr im Einzelnen angebaut, so wäre der Boden für den Aufbau der Theorie des lyrischen Gedichts vorbereitet. Jetzt bleibt dem Poetiker zunächst nichts übrig, als, nach Art des Naturforschers, sich an die Erzeugnisse der lyrischen Poesie selbst zu wenden, und ihnen ihre Bildungsund Organisationsgesetze abzulauschen.

Praktisch verwendbar würde eine zuverlässige, psychologisch begründete und auf's Einzelne eingehende Theorie des lyrischen Gedichtes nach zwei Seiten hin sein; für den ausübenden Künstler und für seinen Interpreten, den Lehrer. Freilich wird keine Poetik je das mangelnde Genie ersetzen, und das ächte Genie wird sets auch ohne Hülfe der Poetik den Weg finden. Aber darum ist doch eine Poetik, wie wir sie im Sinne haben, für den ausübenden Künstler nicht werthlos. Nicht alles Wirken und Schaffen des Dichters ist ein bewusstloses, und wo ein klares Bewusstsein waltet, da hat auch die klar ausgesprochene Regel ihren Werth. Kann sie nicht Ersatz bieten für die fehlende Schöpfungskraft, so kann sie doch vor Verirrungen, vor Fehlgriffen schützen. Sie kann auf einzelne Mittel und Kunstgriffe aufmerksam machen, die der Dichter sonst übersehen haben würde; sie kann, wo mehrere Mittel zum Zwecke sich darbieten, das zweckmässigste, wo mehrere Wege zum Ziele gegeben sind, den kürzesten bezeichnen. Und wenn man zugiebt, dass für keinen Dichter das Studium grosser Vorbilder nutzlos ist, so erkennt man damit auch den Nutzen der Poetik an, die einen Leitfaden zu diesem Studium bietet.

Es bedarf keiner Erörterung, dass wie dem Dichter für die Praxis, so auch dem Lehrer für die Interpretation eines poetischen Products mit einer wirklich ergiebigen Poetik gedient ist, indem ja die wahre und volle Interpretation eines dichterischen Kunstwerks nichts Geringeres als ein geistiges Nachschaffen und Nachbilden desselben ist.

Aber freilich muss eine Poetik, wenn sie der Dichter und Lehrer willkommen heissen sollen, auch wirklich ergiebig sein und nicht in allgemeinen und hohlen Formeln bestehen, die keine Anwendung auf einen gegebenen concreten Fall zulassen. Als Wilhelm von Humbold seine eben vollendete Schrift über Goethe's Hermann und Dorethea an Schiller übersandte, war dieser durch die Vortrefflichkeit der Arbeit höchlich überrascht und richtete an den Verfasser ein Dankschreiben, worin er freudig anerkannte, dass noch nie ein Dichterwerk so liberal und so gründlich, so vielseitig und so bestimmt, so kritisch und so ästhetisch zugleich beurtheilt worden sei. Dennoch vermisste er etwas an der Schrift, und zwar einen mittleren Theil, welcher die allgemeinen Grundsätze der Metaphysik der Dichtkunst auf besondere reducire und die Anwendung auf das Individuelle ermögliche. Von der philosophischen Höhe, auf die sich Humboldt bei seiner Untersuchung gestellt hatte, fand Schiller „keinen Weg zum Gegenstande hinab." Der Künstler brauche specielle und empirische Formeln, die der Philosoph als zu eng und unrein ansehe; was dagegen für den Letztern sich zum allgemeinen Gesetz qualificire, das erscheine dem Künstler bei der Ausübung hohl und leer. Wenn er so über Humboldt's Schrift urtheilte, die keineswegs ausschliesslich auf kahlen metapsysischen Höhen verweilt, wo für die Praxis keine Blüthe und Frucht gedeiht, was würde er erst zu manchen später entstandenen Poetiken und Aesthetiken gesagt haben? In gleichem Sinne äusserte er sich in einem Brief an Goethe auf Anlass einer ihm zugesandten Recension seiner Jungfrau von Orleans. „Es ist mir dabei recht fühlbar geworden," schrieb er, dass von der transcendentalen Philosophie zu dem wirklichen Factum noch eine Brücke fehlt. In der ganzen Recension ist von dem eigentlichen Werke nichts ausgesprochen; es war auch auf dem eingeschlagenen Wege

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