Page images
PDF
EPUB

Das V. Hauptstück.

Von dem Wunderbaren in
der Poesie.

1. §.

2m ersten Hauptstücke ist schon beyläufig gedacht worden, daß sichs die ältesten Dichter hätten angelegen seyn lassen, sich bey dem menschlichen Geschlechte ein Anfehen zu erwerben, und von ihm bewundert zu werden. Nun bewundert man nichts Gemeines und Alltägliches, sondern lauter neue, seltsame und vortreffliche Sachen. Daher mußten auch die Poeten auf etwas Ungemeines dènken, dadurch sie die Leute an sich ziehen, einnehmen und gleichsam bezaubern könnten. In den ältesten Zeiten nun, war dieses eben nicht zu schwer. Denn unwissenden Leuten war alles, was man ihnen vorsingen oder sagen konnte, sehr neu und seltsam: das macht, sie hatten noch nichts bessers gesehen oder gehöret. Allein in den folgenden Zeiten hat es den Dichtern mehr Mühe gemacht. Je aufgeklårter die Zeiten wurden, desto schwerer ward es auch, das Wunderbare zu erfinden, und die Aufmerksamkeit dadurch zu gewinnen. Der Grund dieser Bemühung aber steckt in der menschlichen Neugierigkeit; und die Wirkungen habens ge wiesen, daß sie nicht vergebens gewesen. An sich selbst aber ist dergleichen Mittel, die Leute aufmerksam zu machen, ganz erlaubt: wenn man nur den guten Endzweck hat, sie bey der Belustigung zu bessern und zu lehren.

[ocr errors]

2. §. Nun kann man wohl freylich die Fabel selbst, davon wir im vorigen Hauptstücke gehandelt haben, von dem Wunderbaren nicht ganz ausschließen. Die åsopischen Fabeln insonderheit sind von der Art, daß sie Kindern und Ein. fältigen sehr wunderbar vorkommen; bloß weil es neu und

feltsam

feltsam zu hören ist, daß Thiere, Bäume und andere leblose Dinge vernünftig geredet haben sollen. Die Fabeln von Göttern sind völlig von eben der Gattung. Es dünkete den alten Heiden sehr wundersam zu seyn, wenn sie höreten, daß die größten himmlischen und irdischen Götter zwar sonst eben so, als wir Menschen, gleichwohl aber viel mächtiger, stärker, künstlicher, wißiger und weiser, ja gar unsterblich wären, wie Hesiodus und Homerus se beschrieben. Dieses leßte nahm die damalige Einfalt wunder, da es doch vielmehr das erste håtte thun sollen: und sie hatten einige Ursache dazu, weil die ersten Poeten sehr unrichtige Begriffe von der Gottheir gehabt, die der Vernunft nothwendig lauter Anstoß und Aegerniß geben mußten. Die menschlichen Fabeln, die in Heldengedichten, Schauspielen und Schäfergedichten hauptsächlich herrschen, scheinen anfangs nicht viel Wunderbares in sich zu begreifen: weil lauter Personen darinn vorkommen, die gewöhnlicher Weise in der Welt zu reden und zu handeln pflegen. Allein die Verwirrungen dieser Fabeln, die mannigfaltigen unvermutheten Zufälle, die ihren Hauptpersonen begegnen, die großmüthigen oder verzagten Entschließungen, die sie dabey fassen, und andre folche Stücke mehr, machen eine sonst ganz wahrscheinliche Fabel oft so wunderbar, als ob Bäume und Thiere mit einander geredet håtten; oder als ob ein halb Dußend Götter fichtbar erschienen wären.

3. §. Wir können also, nach dieser Anleitung, das Wunderbare in drey Gattungen eintheilen: davon die erste, alles, was von Göttern und Geistern herrühret; die andre, alles, was von Glück und Unglück, von Menschen und ihren Handlungen entsteht; die dritte, was von Thieren und andern leblosen Dingen kömmt, in sich begreift. Alle drey Arten sehen den Leser oder Zuschauer eines Gedichtes in Erstaunen, wenn sie nur wohl ersonnen, und glücklich angebracht wor den: alle drey müssen auch nach gewissen Regeln eingerichtet werden, wenn sie nicht kindisch und lächerlich herauskommen follen.

4. S. Das erste Wunderbare, was die Götter verursachen, ist wohl zweifelsohne der Beystand, den sie dem Poeten selbst leisten sollen. Wir finden, daß die Alten, nicht nur die Musen, sondern auch wohl andre Gottheiten, als den Ju« piter, Phobus, Bacchus, Mars, imgleichen die Venus, Diana, Sonne 2c. angerufen haben: doch haben die erstern allezeit den Vorzug behalten, daß man sie für die eigentlichen Gehülfinnen der Dichter angenommen hat. Daher entstunden nun die häufigen Anrufungen derselben, die wir in allen Arten der Gedichte antreffen. Die Poeten achteten fichs für eine Ehre, von den Musen getrieben und begeistert zu seyn, oder es wenigstens zu heißen: ja sie begaben sich fast alles Antheils, den sie an ihren Sachen hatten, ura nur für göttlich erleuchtete Männer gehalten zu werden; die gleich den Propheten, nicht von sich selbst, sondern aus höherer Eingebung geredet und geschrieben hätten. Bey der Einfalt der ältesten Völker, war dieses auch etwas leichtes. Die dummen Leute, die irgend eines mietelmäßigen Poeten Verse höreten, dachten so gleich: das gienge nicht natürlich zu, daß ein solcher Mensch, wie sie, dergleichen ungemeine Dinge aus seinem eigenen Kopfe vorbringen könnte. Der Schluß war also richtig: haben sie es nicht von sich selbst; so hat es ihnen ein höheres Wesen, eine Gottheit, oder eine Muse eingegeben. Wir finden selbst in der Vertheidigungsrede des Sokrates beym Plato, daß Sokrates von den Poeten sagt: sie pflegten viele herrliche und schöne Sprüche und Sachen zu sagen; doch wären sie daher den Propheten gleich, die auch treffliche Dinge sagten, aber selbst dasjenige nicht verstünden, was sie redeten. Dergestalt könnte wohl so gar dieser Weltweise die Poeten für begeisterte Leute gehalten haben. Und warum das nicht? Zum wenigften hat es mit ihren göttlichen Trieben eben sö viel Richtigfeit gehabt, als mit seinem Geiste, der ihn allezeit gewarnet haben soll. Wenn nun die Poeten, diesem gemeinen Wahne zu folgen, fleißig die Mufen anriefen: so klang es in den Ohren des Pöbels so andächtig, als wenn heutiges Tages Prediger

Prediger Gott um seinen Beystand zu ihrer Arbeit anflehen, ob sie gleich studiret haben; und folglich machte es dem Dichter ein gutes Ansehen. Und daher mag es vieleicht gekommen seyn, daß so gar Lucrez, der doch keine Vorsehung oder Wirkung der Götter in der Welt glaubte, eben das Buch, von der Natur der Dinge, darinn er diese Lehre eutragen willens war, mit einer Anrufung der Göttinn Venus angefangen hat.

5. §. Wie aber alle Dinge großen Misbräuchen unterworfen sind, so geht es auch mit dem Anrufen der Musen. Die heidnische Mythologie ist niemals systematisch vorgetragen worden: daher ist es denn geschehen, daß auch die alten Poeten vielfältig wider ihr eigen Fabelsystema verstoßen haben, indem sie die Mufen zur Unzeit angerufen. Man kann an allen Gedichten die Forme von der Materie, oder die äußere Gestalt von dem Inhalte unterscheiden, und daben verschiedene Fehler anmerken, die von den Poeten be gangen worden. Der Forme nach ist ein Gedichte entweder groß, oder klein; entweder episch, oder dramatisch; entweder in erhabener Schreibart abgefaßt, oder in einer niedrigen und gemeinen Art des Ausdruckes geschrieben. Da wird es nun leicht zu begreifen seyn, daß ein Poet wohl in großen, epischen und erhabenen: aber nicht in kleinen, dramatischen und nie. drigen Gedichten die Musen anrufen müsse. Die Ursache ist bald zu finden. Die Kräfte eines Menschen, von gutem aufgewecktem Kopfe, langen zur Noth, auch nach der Einfältigsten Geständnisse, schon zu, ein Sonnet, ein Madrigal, eine Arie, kleine Ode, Satire, ja auch wohl Elegien, Briefe und Schäfergedichte zu verfertigen. Was ist es also nothig, in solchen Kleinigkeiten den göttlichen Beystand der Musen zu suchen?

6. §. Sollte man es nun wohl denken, daß auch die allerbesten Dichter des Alterthums, eine so deutliche Wahrheit nicht erkannt haben sollten? Gleichwohl ist es leicht zu erweisen: und man muß sich also auf ihre Erempel nicht be rufen, um unsre Regel umzustoßen. Die Alten sind nämlich

auch

auch Menschen gewesen, und haben also irren können. 3. E. Virgil scheint dieses nicht allezeit bedacht zu haben, indem er in seinen Eklogen gar oft die Musen anruft: da doch diese Art von Gedichten so was schweres, und erhabenes nicht an sich hat. 3. E. Ecl. IV.

Sicelides Mufæ, paullo majora canamus!

Ecl. VIII.

Vos quæ refponderit Alphefibus,

Dicite Pierides! Non omnia poffumus omnes. Horaz ist hierinn viel bescheidner gewesen, weil er wohl unzähliche kleine Doen, Briefe und Satiren gemacht, ohne die Musen ein einzigmal anzurufen. Nur wenn er etwas größeres machen will, dergleichen die IV. Ode des III. Buches ist, so hebt er an:

Defcende cœlo, et dic age tibia,

Regina longum Calliope melos.

Oder wenn er eine Jubelode abfasset, so wendet er sich an
verschiedene Gottheiten. Siehe sein Carmen fæculare:
Phoebe, filvarumque potens Diana,
Lucidum cœli decus! o colendi
Semper, et culti! date quæ precamur

Tempore facro. etc.

Hieraus ist nun leicht zu schließen, daß die heutigen Poeten, die in allen elenden Hochzeit- und Leichenversen der Musen Hülfe haben wollen, die Hoheit dieser Göttinnen schlecht verstehen: wenn sie sich einbilden, daß sie sich um ihrer elenden Kleinigkeiten wegen viel bemühen würden. Es würde auch ber so vielem magern Zeuge nicht leicht zu besorgen seyn, daß man ihre Einfälle für etwas Uebermenschliches halten möchte.

7. §. Die epischen Gedichte heißen hier alle diejenigen, darinn der Poet selber redet, ob er gleich zuweilen auch andre redend einführet. Hierinn geht es nun freylich an, daß er die Musen nach Beschaffenheit der Sachen anrufen könne :

« PreviousContinue »