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Gellert's Fusstapfen traten, sowie über Lessing's und Goethe's Jugendarbeiten, die ebenfalls teilweise moralisch oder rührend sind, wird in ausführlicheren deutschen Litteraturgeschichten gehandelt.

Hier wird uns nur die » Minna v. Barnhelm« noch einen Augenblick beschäftigen. Wir sahen, dass Lessing dem Lustspiel die Krone zuerkennt, welches zugleich rührt und belustigt, und dies Prinzip hat er denn auch in der »Minna«, dem wahren Muster eines rührenden Lustspiels, durchgeführt. Stofflich beruht dieselbe auf einem Stück de la Chaussée's, auf der >> Ecole des amis < 1), wie die Parallele zwischen der Handlung und den Charakteren beider ergiebt. Monrose, ein verwundeter und verarmter Offizier, will sein Verhältniss mit Hortence brechen, da er ihr keine würdige Zukunft bieten zu können meint. Hortence bemerkt seine Kälte, glaubt, sie habe seine Liebe verloren und beschliesst, ins Kloster zurückzukehren. Da nun der Dichter eine Freundesschule geben will, überträgt er Aramont und Ariste die Rolle, die Liebenden zusammenzuführen, und diese bilden nun die eigentlich handelnden Personen, während Monrose und Hortence eine passive Lage einnehmen. Lessing erkannte mit feinem Gefühl diesen Fehler. Er schälte aus der didaktischen Hülle der Freundesschule den eigentlichen Kern heraus und gestaltete denselben zu einem einheitlichen Drama. Die Hülfspersonen Aramont und Ariste fallen, Minna selbst übernimmt ihre Rolle und wird dadurch zur wirklichen handelnden Hauptperson, die ihr schliessliches Glück sich selbst verdankt. Monrose und Tellheim sind dieselben biederen, pflichtgetreuen Naturen, nur ist die kriegerische Tüchtigkeit Tellheim's in schärferes Licht gestellt, wie erklärlich, da das Stück die Frucht des siebenjährigen Krieges ist. Hortence ist von einer innigen, warmen Neigung zu Monrose ergriffen, aber sie bleibt schüchtern und zurückhaltend, während Minna durch die Liebe energisch und thatkräftig wird. In der Ausführung weicht Lessing von seinem Vorbilde ab, wie ja durch die Uebertragung der Haupthandlung auf die Heldin bedingt ist. Während in der >> Ecole des amis« die Liebenden sich von Anfang an am selben Orte befinden, ist Minna auf der Reise und im Begriff, ihren Tellheim aufzusuchen. Zufällig treffen beide in einem Wirtshause zusammen. Während Monrose der Geliebten die Hand reicht, nachdem die Fürsorge Ariste's ihm eine materiell sorgenlose Stellung in Aussicht gestellt hat, erneut Tellheim das Verhältniss nur, als jene >pia fraus Minna's ihn glauben macht, dass sie ihm kein Opfer mehr bringe, da auch ihr Vermögen verloren sei. Denn nun hält er es für seine Pflicht, die Geliebte vor einer unwürdigen Zukunft zu schützen. Der Punkt, dass der vielgeprüfte, pflichttreue Offizier, dem die Ehre über Alles geht, verdächtigt wird, anvertraute Gelder veruntreut zu haben, kehrt auch in der »Minna« wieder. In Aramont

1) Kawczyński hat das Verdienst, in seiner Schrift zuerst darauf aufmerksam gemacht zu haben.

und Ariste wird die edle aufopferungsvolle Freundschaft, in Werner und Just die selbstvergessene Diener- und Untergebenentreue verherrlicht. So scheinen denn die Identität der Fabel, die Aehnlichkeit der Charaktere die Abhängigkeit von der >> Ecole des amis<< mit ziemlicher Sicherheit darzuthun. Die Hauptabweichung, natürlich ganz abgesehen von der dramatisch künstlerischen Gestaltung, besteht in der Riccautepisode und in Minna's edelmütigem Betruge. Ueber diese nun giebt uns eine Untersuchung von Schuchardt im Gymnasialprogramm von Schleiz 1879 1) die wichtigsten Aufschlüsse. Vereinigt man die hier aufgestellte Ansicht mit dem oben gezogenen Resultate, so liegt die ganze Entwickelungsgeschichte der »Minna« klar und deutlich vor. Für die Vermutung Schuchardt's, Lessing sei in der Erfindung der Fabel originell, substituieren wir unsern Schluss, dass der Stoff de la Chaussée entlehnt sei, und nehmen das weitere Ergebniss Schuchardt's herüber, dass Lessing durch die Captivi des Plautus beeinflusst sei«, denn sagt der Verfasser:

1. spielt auch hier der edelmütige Betrug eine wichtige Rolle, indem ein Sklave, der mit seinem Herrn zugleich gefangen ist, sich für den Herrn ausgiebt, damit jener als Sklave in die Heimat entlassen werde;

2. ist der Parasit Ergasilus das Vorbild des Arlequin-Parasit Riccaut, da Lessing in der Kritik der Gefangenen des Plautus eine Nachahmung verspricht, da im selben Jahre, wo >> Minna v. Barnhelm <« erschien, Lessing den Harlekin, der gleichbedeutend sei mit dem Parasit der Alten, verteidigte: »Ich dächte, wir zögen ihm, dem Harlekin, das Jäckchen wieder an«, da schliesslich im Riccaut und Ergasilus die gemeinen Eigenschaften des Menschen im Gegensatz zu den edlen personifiziert sind. Also die » Ecole des amis << lieferte die einfache Fabel, die beiden hauptsächlichsten Abweichungen sind auf die » Captivi« zurückzuführen. Die » Minna« steht als rührendes Lustspiel einzig in ihrer Art da, denn alle früheren oder späteren Produkte derselben Richtung haben nur kurze Lebensfähigkeit besessen. Nachdem auch das bürgerliche Trauerspiel in Deutschland Eingang gefunden hatte, entstand durch eine Vermischung beider Gattungen das Schauspiel, wie es Klinger und Lenz kultivierten.

In Italien begründete das moralische Rührdrama Carlo Goldoni (1707-1797), der bedeutendste italienische Lustspieldichter, der die >> Commedia dell' arte« zur Sitten- und Charakterkomödie nach französischem Muster emporhob. Seine Rührdramen sind bald vorwiegend heiter, bald ernst, bald mehr, bald weniger lehrhaft, ganz wie die de la Chaussée'schen; eine weibliche Idealgestalt steht häufig im Mittelpunkt, um Rührung und Bewunderung zu erregen.

Das italienische Rührdrama 2) beruht zum Teil auf französischem, zum Teil auf direkt englischem Einfluss, denn auch hier gründete man nach dem Vorbilde des Tattler und Spectator moralische Zeit

1) Besprochen in Herrig's Archiv, Bd. 65, S. 348.
2) cf. Klein, Geschichte des Drama's, t. VI.

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schriften, z. B. »Lettere famigliari (1755), »Osservatore veneto periodico (1768) von Gasparo Gozzi. >>Il Caffé (1765 bis 1766, Brescia und Venedig), von P. Verri, Alessandro Verri, Beccaria, Frisi und Carli. Die >> Pamela« war mit demselben Enthusiasmus wie in andern Ländern aufgenommen worden. Goldoni dramatisierte nicht nur den ersten Teil, worauf de la Chaussée sich beschränkt hatte, sondern auch den zweiten: »Pamela maritata«. » La Peruviana<< desselben Dichters beruht auf dem Roman » La Péruvienne<< der Mme de Graffigny, die als Verfasserin des Rührdrama's >> Cénie << oben genannt wurde. >>La vedova spiritosa« von Goldoni geht auf eine moralische Erzählung Marmontel's (1723 1799), »Contes moraux«<, Paris 1761 zurück. Seine bedeutendsten anderen Rührdramen sind: »La donna prudente<«<, >>La buona moglie«, »La madre amorosa«, donna forte << (eine zweite Pamela), »La buona madre«, »La Famiglia del Antiquario« u. s. w. Neben diesen Rührstücken verfasste Goldoni eine grosse Menge von Intriguen-, Charakter- und Stegreifkomödien, so dass die Zahl seiner Theaterdichtungen sich auf etwa 180 beläuft. Das Rührdrama in Spanien begründete Ignaz de Luzan (1702 bis 1754), der Vorkämpfer des Franzosentums in der spanischen Litteratur, seit man mit der nationalen Tradition gebrochen hatte, indem er direkt auf französische Muster zurückging. Möglicherweise trat er auf einer diplomatischen Sendung in Paris von 1747-1750 mit de la Chaussée selbst in Berührung. Wenigstens erschien nach seiner Rückkehr als Ergebniss des Pariser Aufenthalts die Uebersetzung des >> Préjugé à la mode< 1751 unter dem Titel: »La rason contra la moda«.

§ 8. Sociale und kulturhistorische Bedeutung
des Rührdrama's.

Nachdem wir nun von der Aufnahme des Rührdrama's in Frankreich, Deutschland, Italien und Spanien eine kurze Skizze gegeben haben, deren weitere Ausführung in eine Geschichte des Rührdrama's gehört, möge zur umfassenden Würdigung der neuen Erscheinung ein kurzer Blick auf ihre sociale und kulturhistorische Bedeutung geworfen werden. Mit dem achtzehnten Jahrhundert beginnt für die politische Entwickelung der grossen Kulturvölker Europa's eine neue Epoche der Mittelstand erringt sich eine gleichberechtigte Stellung neben Adel und Geistlichkeit und bildet fortan die Basis der Gesellschaft. Da nun Litteratur und Geschichte im engsten Zusammenhange und in unausgesetzter Wechselwirkung zu einander stehen, so tritt der neue politisch-sociale Faktor, das bürgerliche Element, auch in die Litteratur ein, und dieser Process vollzieht sich nun auf dramatischem Gebiet zunächst im rührenden Lustspiele, wenn wir es mit dem » drame sérieux« als Vorstufe des bürgerlichen Trauerspiels betrachten. Während die klassische Tragödie Fürsten und

Könige vorführte, zu deren Handlungen der Bürger in seiner eigenen Denkungsart nur selten den Schlüssel findet, erblickte er jetzt seinen Nächsten in tragischer Situation, jetzt erst konnte er sich in die Seelenstimmung des tragischen Helden hineinversetzen, die ihm früher ein Rätsel bleiben musste. Denn wenn es auch im gewöhnlichen Leben Eifersucht und Herrschbegierde giebt, so liegt doch die wilde Leidenschaft der Kleopatren und Medeen, die vor den grässlichsten, unnatürlichsten Mitteln nicht zurückbeben, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen, glücklicherweise ausserhalb der Alltäglichkeit, und erscheint deshalb leicht unglaublich. Auch müssen solche Unthaten und Verbrechen schon deshalb unverständlich bleiben, weil die antike Ethik mit der christlichen oft im schroffsten Widerspruch steht. In diesem Sinne hatte auch Riccoboni an Muratori geschrieben, es sei ein Drama entstanden, welches ein Christ ohne Erröten sehen könne. Allerdings lässt sich zur Verteidigung der Heldentragödie anführen, dass ein König, der im Begriff steht, ein Reich zu verlieren oder zu erobern, mit dessen Schicksal das Wohl und Wehe eines ganzen Staates eng verknüpft ist, mehr Interesse erregt, als der von häuslichem Unglück bedrohte Bürger, dass überhaupt mit der Grossartigkeit des Zieles oder Verlustes das Interesse wächst; das feinste Verständniss aber besitzen wir naturgemäss für die Freuden und Leiden des Menschen unserer Lebensstellung, und diese wählt sich das Rührdrama deshalb zum Gegenstande. Bislang hatten die mittleren Klassen ausschliesslich den Stoff zum Lustspiel geliefert, indem ihre lächerlichen Seiten hervorgekehrt und übertrieben wurden, wie de la Chaussée öfters andeutet, wenn er von >>outrirter<< Komik und >>outrirten<< Charakteren spricht; seitdem aber der Bürgerstand das Hauptkontingent des Theaterpublikums stellte, da der Hof meist in Fontainebleau und Versailles lebt, wollte er nicht allein mehr die Zielscheibe des Spottes bilden, sondern auch seines Gleichen auf der Bühne bewundern; seit die Aufklärung den Adel, der seine innere Gehaltlosigkeit nur mit Mühe durch äusseren Glanz verbarg, seiner Glorie entkleidete; seit die Fürsten und Grossen aus höheren Wesen wieder zu Menschen wurden, der Bürger seine Lebenskraft, seinen Werth und seine Ueberlegenheit fühlte, da war das Privileg der Tragödie verwirkt. Und bietet denn nicht auch wirklich das alltägliche Leben des Mittelstandes echt tragische Situationen? Ist nicht Jeanne d'Arc ebenso geeignet im Mittelpunkt einer Tragödie zu stehen, wie jeder König, der für sein Land das Leben opfert? Ist nicht die Geschichte des » George Barnwell«, des >>Gamster«, der » Sara Sampson<< oder >> Emilia Galotti« wahrhaft tragischer Natur? Eine solche Beschränkung einzelner Gattungen des Drama's auf einzelne Stände, wie sie vom französischen Klassizismus geübt wurde, ist der ärgste Frevel gegen die unbeschränkte Freiheit der Kunst: Tragödie und Komödie können sich mit allen Sphären der Gesellschaft befassen. Auch das Lustspiel kann Könige und Helden darstellen, denn bietet nicht das

Hofleben mit seinen Eifersüchteleien und Intriguen komische Momente in reichlichem Masse? Teilt nicht der Fürst als Privatmann alle die Charakterschwächen und Fehler des einfachen Bürgers? Haben trotzdem die Lustspieldichter nach Aristophanes ihren Stoff den höchsten Kreisen nur selten entnommen, so liegt der Grund dafür in einer gewissen Pietät vor den gekrönten Häuptern, die, auf der Bühne dem Spott des Publikums preisgegeben, jenen Nimbus verlieren würden, dessen sie zur Stützung der Autorität nur allzu sehr bedürfen.

Was nun die kulturhistorische Bedeutung des Rührdrama's angeht, so repräsentiert es vermöge seines moralisch-didaktischen Gehaltes die Reaktion gegen die im vergangenen Jahrhundert so tief eingerissene sittliche Verderbniss der Gesellschaft; als rührendes Drama wurzelt es in jener krankhaft sentimentalen Stimmung, die in der » Pamela«, »Nouvelle Héloïse« und im » Werther« ihren Höhepunkt erreichte, mit der unsere grossen Dichter in ihren Erstlingswerken rangen, um dann gleichsam nach einer geistigen Läuterung das klassische Ideal, die glückliche Vereinigung der reinen Verstandes- und der reinen Gefühlsdichtung zu erreichen. Als später jene empfindsame Zeitströmung verrauschte, verlor auch das Rührdrama rasch an Popularität. Am längsten haben sich seine Spuren in Deutschland erhalten in den Lust- und Schauspielen von Heinrich v. Kleist (»Käthchen von Heilbronn«), Kotzebue (»Menschenhass und Reue«), Iffland (Spieler «), Jünger, Schröder und in neuester Zeit Gutzkow, Putlitz und Ch. Birch-Pfeiffer. >>Eine Frau aus der City « von letzterer Schriftstellerin erinnert stofflich und formell lebhaft an de la Chaussée's ernstere Rührstücke. Das denkbar möglichste aber hat vielleicht Putlitz im rührenden Genre geleistet durch sein Drama >>Knüpfen und Lösen«, denn der ganze vierte Akt ist eine Thränenscene, alle beteiligten Personen weinen vor Rührung >>wie ein Brunnen«<, nach einem Ausdruck jener Stelle.

§ 9. Aesthetische Berechtigung der dem Rührdrama zu Grunde liegenden Prinzipien.

Zum Schluss noch einige Worte über die ästhetische Berechtigung des Rührdrama's zunächst insofern es moralischen, dann insofern es rührenden Charakters ist. Es ist die höchste Aufgabe der dramatischen Dichtung, das menschliche Leben idealisiert in künstlerisch schöner Form vorzuführen und dieser Darstellung eine sittliche Idee zu Grunde zu legen. De la Chaussée verherrlicht in seinen Dramen die Ehe, die treue hingebende Freundschaft, den Gehorsam der Kinder gegen ihre Eltern u. s. w.; aber gleichsam zur Verstärkung des ethischen Gehalts nimmt er auch das moralisierende Moment auf und schafft Helden, die oft mehr Personifikationen bestimmter Tugenden, als Menschen von Fleisch und Blut mit menschlichen Fehlern und Schwächen sind, die sich nicht einmal immer

Französische Studien. IV. 1.

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