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Nivelle de la Chaussée's Leben und Werke.

Vorwort.

In nachstehender Abhandlung habe ich mir die Aufgabe gestellt, von dem Leben, von der Thätigkeit und von der Bedeutung des Nivelle de la Chaussée eine zusammenhängende Darstellung zu geben, da dieser Gegenstand monographisch noch nicht behandelt worden ist. Die Anregung dazu erhielt ich durch eine von Hrn. Prof. Dr. Gröber in Strassburg im Winter-Semester 1880/81 gehaltene Vorlesung: »Das französische Lustspiel des 18. Jahrhunderts«, der ich denn auch manche Anhaltspunkte verdanke. In Anlage und Ausführung hat mich Herr Prof. Dr. Körting mit Rath und That reichlichst unterstützt. Angenehme Pflicht ist es mir, den Königlichen Bibliotheken zu Münster und Göttingen meinen aufrichtigen Dank auszusprechen für die Bereitwilligkeit, mit der mir von ihnen das Material zur Verfügung gestellt wurde. Für einzelne Theile der Arbeit möge man besonders folgende Bücher und Schriften vergleichen:

M. Kawczyński: Studien zur Litteraturgeschichte des 18. Jahrhunderts. Moralische Zeitschriften. Leipzig 1880.

K. Rosenkranz: Diderot's Leben und Werke. Leipzig 1866. H. Hettner: Litteraturgeschichte des 18. Jahrhunderts. Bd. I 3. Aufl. Bd. II, 4. Aufl. Braunschweig 1872 u. 1880.

Julian Schmidt: Geschichte der deutschen Nationalliteratur im 19. Jahrhundert. Leipzig 1858.

Godefroi: Histoire de la littérature française au XVIIIème siècle. Paris 1877.

1876.

Nouvelle biographie universelle. Paris T. 28. 1849.

Erich Schmidt: Richardson, Rousseau und Goethe. Jena 1875.
Klein Geschichte des Drama's. Leipzig 1875-76.

Cosack: Materialien zur Hamburgischen Dramaturgie. Paderborn

Güth: Ueber Diderot und das bürgerliche Drama. Programm der Realschule zu Stettin 1873.

Französische Studien. IV. 1.

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Kapitel I.

Das Leben Nivelle de la Chaussée's.

§ 1. Quellen.

Erregen die äusseren Lebensverhältnisse eines jeden Mannes, dem wir eine eingehendere Betrachtung widmen, schon um deswillen unser lebhaftes Interesse, weil wir ihn hier als unseres Gleichen, als Menschen von Fleisch und Blut erblicken, so wird, wenn dieser Mann ein Dichter ist, in Folge der engen Wechselwirkung, in welcher sein Handeln und Denken, sein Leben und Schaffen zu einander stehen, die volle Würdigung seiner geistigen Thätigkeit durch die Kenntniss seines Lebens bedingt. Aber leider nur zu oft muss das Lebensbild skizzenhaft bleiben, weil die Quellen der Ueberlieferung allzu spärlich fliessen. So sind auch über das Leben des Mannes, mit dessen Werken wir auf den folgenden Seiten uns zu beschäftigen gedenken, nur wenige Einzelheiten überliefert. Da autobiographische Bemerkungen seinen Werken vollständig fehlen, Briefe aber überhaupt nicht erhalten sind, so können wir uns über Nivelle de la Chaussée's Lebensverhältnisse nur aus den wenigen Angaben unterrichten, welche seine Zeitgenossen gelegentlich darüber gemacht haben. Es liegen uns deren abgesehen von einem gleich zu erwähnenden officiellen Documente folgende vor 1):

Sablier, der in der Gesammtausgabe Bd. I p. II sich selbst als Freund de la Chaussée's bezeichnet, giebt teils in Anmerkungen zu einzelnen Dichtungen, teils in dem » Avertissement « des ersten Bandes kurze biographische Notizen. Das von ihm nicht namhaft gemachte Alter und Todesjahr giebt Titon du Tillet in dem an eben erwähnter Stelle (p. V, f.) abgedruckten Artikel 324 des »Second Supplément du Parnasse Français«. Nach ihm ist de la Chaussée am 14. März 1754 im Alter von 63 Jahren gestorben, also im Jahre 1691 geboren, eine Angabe, mit welcher jedoch die einzige erhaltene Urkunde, welche

1) Die auf de la Chaussée von seinem Nachfolger in der Académie française, M. de Bougainville, am 30. Mai 1754 gehaltene Rede enthält kein biographisches Material.

auf de la Chaussée's Leben Bezug hat, der von Jal im »Dictionnaire critique de Biographie et d'Histoire<< im Wortlaut citierte Todtenschein im Widerspruch steht. Er lautet:

» L'année 1754, le samedi 16 jr du mois de mars, St PierreClaude Nivelle de la Chaussée, l'un des Quarante de l'Académie Française, âgé de 62 ans, décédé le jeudi précédent (14 mars) rue des Quatre-Fils a été inhumé dans la cave de la Chapelle de la Communion (St. Jean en Grève).«

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So glaubwürdig auch die Angaben Titon's du Tillet, des Zeitgenossen de la Chaussée's, erscheinen mögen, so wird man doch wohl unbedingt diejenige des amtlichen Documentes für die richtige halten müssen.

Jal fand übrigens auch den folgenden Todtenschein eines andern de la Chaussée:

»Pierre, fils de Charles Nivel de la Chossée (sic) près rue Bethizi à l'enseigne de l'Estoile (Reg. de St. Germ. l'Ann. décès 3 avril 1628 fol. 227).«

In welchem Verhältniss der Verstorbene zu unserem Dichter gestanden, muss natürlich dahingestellt bleiben; jedenfalls beweist die Urkunde, dass die Familie de la Chaussée seit Anfang des XVII. Jahrhunderts in Paris ansässig war.

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Pierre-Claude Nivelle de la Chaussée wurde, da er nach dem Todtenscheine im Jahre 1754 in einem Alter von 62 Jahren gestorben ist, im Jahre 1692 zu Paris geboren. Nähere Angaben über den Stand seines Vaters fehlen, da indess sein Onkel Steuerpächter war, mag man vermuten, dass auch jener dem hohen Beamtenstande angehörte. Nachdem der junge Pierre - Claude im Jesuitencolleg zu Plessis 1) eine gelehrte Erziehung genossen hatte, würde es ihm vermutlich leicht gewesen sein, in die Verwaltungscarrière einzutreten und durch Protektion sein Glück zu machen, aber schon früh den Dichterberuf in sich fühlend, entschied er sich für ein ruhiges, unabhängiges Privatleben, was er um so leichter thun konnte, als seine pecuniären Verhältnisse ihn sorgenfrei in die Zukunft blicken liessen. Aus seinen Werken, die eine besondere Vorliebe für die antike Mythologie und Dichtung bekunden, kann man schliessen, dass er sich eifrigst klassischen Studien widmete, wie bei jungen gebildeten Männern von Stand dies damals üblich war. In seinen Mussestunden beschäftigte er sich wohl schon früh mit dichterischen Versuchen. Doch machte er dieselben weiteren Kreisen erst später zugänglich, sei es aus Bescheidenheit, sei es aus Misstrauen gegen sein Talent. An die Oeffentlichkeit trat er zuerst im Jahre 1731 mit seinem Lehrgedichte

1) Godefroi, Histoire de la littérature française au XVIII siècle p. 441.

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>> Epître de Clio« 1), dessen Erfolg sein Selbstbewusstsein weckte, und ihn bewog, mit verdoppeltem Eifer sich seiner Lieblingsbeschäftigung hinzugeben. Als besonderes Feld poetischen Schaffens wählte er jetzt das Drama und begründete 1733 das rührende Lustspiel Frankreichs durch die »Fausse Antipathie«.

Der durchschlagende Erfolg dieses Stückes bewies ihm, dass er keinen unglücklichen Wurf gethan habe. Vielleicht ahnte de la Chaussée, dass für seine litterarische Zukunft Voltaire von Bedeutung sein würde, und so hatte er denn schon in seiner » Epître de Clio << die Gunst desselben zu gewinnen gesucht, indem er, seiner masslosen Eitelkeit schmeichelnd, ihn als ruhmgekrönten Sänger der Ligue feierte und mit Virgil zusammenstellte (v. 96, 782). Er hatte ganz richtig gerechnet, denn Voltaire war nicht der Mann, einen Dienst ohne Gegenleistung anzunehmen. Unter seinen Auspicien 2) wurde de la Chaussée am 25. Juni 1736 an Stelle des Parlamentspräsidenten Portail in die Zahl der »40 Unsterblichen aufgenommen und fand also dadurch die officielle Anerkennung seiner Verdienste um die französische Litteratur. Die folgenden Lebensjahre bis zu seinem Tode scheinen ihm im ruhigen Gange der Tagesgeschäfte und eifriger poetischer Thätigkeit dahingeflossen zu sein. Er starb zu Paris am 14. März 1754 in seiner Wohnung an der »>Rue des Quatre-Fils« 3) und wurde in der Chapelle de la Communion begraben. Nach der Angabe Louvet's in der » Nouvelle Biographie universelle « Bd. XXVIII p. 527 überraschte ihn ein Herzschlag, als er im Garten arbeitete. Jedenfalls aber ist eine längere Krankheit vorausgegangen, da Sablier in der Widmung der Gesammtausgabe an den Grafen Clermont hervorhebt, es habe dieser des Dichters in dessen gesunden Tagen sowie während dessen Krankheit teilnehmend gedacht. 28 Jahre später wurde de la Chaussée's Büste, nach einem Gemälde La Tour's von Caffieri verfertigt, im Foyer des »Théâtre français < aufgestellt. Jal sagt von derselben p. 304: >> Le buste de la Chaussée, élégant, fin, gracieusement modelé et pétri dans le marbre est un des plus attrayants de cette belle collection«.

Was nun den Charakter des Dichters angeht, so geben seine Jugendwerke nicht eben von ihm das Bild eines lauteren Tugendhelden, denn der derb cynische, ja unmoralische Ton seiner » Contes<< kann unmöglich aus einer reinen Phantasie hervorgegangen sein. Aber die Werke seines reifen Mannesalters tragen doch unverkennbar den

1) Vgl. die beiden Bemerkungen Sablier's Bd. I p. III u. XXXIII; dagegen sagt der Erzbischof von Sens seltsamerweise: »Votre Muse, qui s'est essayé avec succès dans la Fausse Antipathie«, s'est montrée un an après si mure dans l'Epitre de Clio. cf. Bd. V p. 190 »Réponse de MAS.<<

2) Die Nouvelle Biographie universelle t. 28 p. 523 giebt an, Voltaire sei eigens nach Paris gekommen, um la Chaussée's Aufnahme zu bewirken.

8) Die Rue de Quatre-Fils gehört zu den ältesten Strassen von Paris. Sie liegt im Centrum der Stadt im Quartier du Marais unweit der Grandes Halles.

Stempel edler Gesinnung und grosser Sittenreinheit, obwohl auch hier der Dichter den mässigen Lebensgenuss keineswegs verdammt, sondern als Schüler der Alten die Jugend auffordert, durch Liebe und Frohsinn das irdische Dasein zu verschönern. Aus den Dramen zu schliessen, war er von weicher, nachgiebiger Gemütsart; dass er aber dabei doch litterarischen Gegnern, welche seine Ehre gekränkt hatten, unversöhnlich grollen konnte, zeigt der hartnäckige Widerstand, den er der Aufnahme des wohlverdienten, ihm verfeindeten Lustspieldichters Piron in die Académie entgegensetzte (La Harpe, Cours de littérature T. II, 398).

Seine äussere Erscheinung muss etwas Gemessenes, Würdevolles gehabt haben, weil Piron ihn als den »père révérend de la Chaussée verspottet; La Harpe a. a. 0.

§ 3. Darstellung der Biographie in litteraturgeschichtlichen Werken.

Selbst grössere litteraturgeschichtliche Werke sowie auch die Dictionnaires von Quérard und Jal beschränken sich auf die Angabe von de la Chaussée's Geburts- und Todesdatum 1); die >> Nouvelle Biographie universelle« benutzt die im ersten Bande der Gesammtausgabe Sablier's enthaltenen Bemerkungen. Woher aber jene Notiz über des Dichters Tod stammt, konnte ich nicht ermitteln. Deutsche Litteraturhistoriker bringen noch weniger Einzelheiten als letzteres Werk und führen neben einer allgemeinen Würdigung nur die Lebensdauer und das Jahr 1733 als Abfassungszeit des ersten Lustspiels an. Graesse in seinem »Lehrbuch der allgem. Litterärgeschichte, Leipzig 1858, III, 3. Abtheil., p. 102 begeht einen Irrtum, wenn er sagt: la Chaussée debütirte mit seinem Préjugé à la mode, 1735 2).

Kapitel II.

Aeussere Betrachtung der Werke de la Chaussée's.

§ 1. Aufzählung der Werke nach Gattungen.
A. Poetische Werke.

1. Contes.

Le Cancre, La Clémentine, Ima. L'Origine de la barbe, Le
Roi Hugon, La Linote de Jean XXII, L'Origine de la

1) Godefroi, Hist. de la litt. franç. au XVIIIème s. macht, p. 441, folgende irrige Angaben: »Fils d'un fermier général«, »Fausse Antipathie«, 1734.

2) Auch Rosenkranz giebt ein ungenaues Bild von der Thätigkeit des Dichters, denn in Diderot's Leben und Werke I, 261 heisst es: Nivelle aber dichtete 1738 »Le Préjugé à la mode«. In ähnlicher Weise schrieb er Mélanide, La fausse Antipathie, La Gouvernante u. s. w., als wenn nicht die Fausse Antipathie das erste Lustspiel wäre.

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