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oder bei Vorfilben und einfilbigen Wörtern, die häufig an das vorhergehende oder nachfolgende Wort sich anlehnen, selbst ganz mit ihm zusammenschmelzen. Die Verse beginnen nicht immer mit der ersten Hebung, sondern dieser gehen häufig eine oder mehrere Silben voraus, die als Auftakt bezeichnet werden.

§ 13. Die wichtigsten deutschen Strophen sind:

1. Die Nibelungenstrophe. Sie besteht aus vier Langzeilen, deren jede in zwei Hälften zerfällt. Die erste Halbzeile enthält in jedem Verse vier Hebungen, von denen die lezte den Halbvers beschließt, die zweite Halbzeile in den drei ersten Versen drei, in dem letzten Verse wiederum vier Hebungen; ferner reimen je zwei auf einander folgende Langzeilen mit einander.

Uns ist in alten mæren

wunders vil geseit

von heleden lobebæren von grozer arebeit;

von freude unt hochgeziten

von weinen unde klagen,

von küener recken striten müget ir nu wunder hæren sagen.

Nibelungenlied (Holtzmann).

2. Die Gudrunstrophe. Sie unterscheidet sich von der Nibelungenstrophe (abgesehen von einer Abweichung in der Reimart: die beiden ersten Langzeilen haben stumpfe, die beiden lezten dagegen klingende Reime) hauptsächlich dadurch, daß die letzte Halbzeile der Strophe meistens fünf Hebungen enthält. Man pflegt übrigens, der uns überlieferten späteren Gestalt der Gudrun gemäß, in der nur noch selten zwei Hebungen unmittelbar, ohne durch eine Senkung getrennt zu sein, auf einander folgen, auch in den vier ersten Halbzeilen nur noch drei Hebungen zu zählen, z. B.

Dem jungen Siegebande man gegen hove gebot

da er solte lernen, ob im des würde not,

mit dem spere riten, schirmen unde schiezen

so er zuo den vinden käme, daz ers möchte deste baz geniezen.

Gudrun.

3. Die Titurelstrophe. Sie besteht aus vier Zeilen, von denen die erste, zweite und vierte in Halbverse zerfallen. In der ersten Zeile haben. beide Halbverse, in der zweiten und vierten Zeile hat der erste Halbvers je vier Hebungen, während die dritte Zeile und die zweiten Halbverse der zweiten und vierten Zeile je sechs Hebungen enthalten.

Do sich der starke Titurel mochte gerüeren,

er getorste wol sich selben unt die fine im sturme gefüeren

fit sprach er in alter, ich lerne,

daz ich schaft muoz lazen des phlac ich etwenne schone und gerne.

Wolfram von Eschenbach, Titurel.

4. Die lyrischen Strophen. Die lyrische Dichtung hat einen so großen Reichthum im Versbau und Strophenbau entwickelt, daß es unmöglich ist, hier in Einzelheiten einzugehen. Die großen Formengruppen sind Lieder, Leiche und Sprüche. Das Lied besteht nur aus völlig gleich gebauten Strophen, während der Leich aus verschieden gebauten Strophen zusammengesetzt ist, und der Spruch nur eine einzige Strophe enthält. Die älteste Form ist eine Vierzeile von vier Hebungen, in der je zwei einander folgende Verse reimen, später traten acht solcher Zeilen zur Strophe zusammen, aber je zwei vereinigten sich zu einer Langzeile, und der Reim erschien erst mit der achten Hebung. Noch später endlich wurden die Strophen dreitheilig und zerfielen in die beiden Stollen und den Abgesang. Die beiden Stollen, als Einheit auch Aufgefang genannt, sind einander völlig gleich, während der Abgesang eine neue Form bringt, z. B.

Ich han lande vil gesehen,

unde nam der besten gerne war: (1. Stoll.)

übel müeze mir geschehen,

kunde ich in min Herze bringen dar, (2 Stoll.)

Daz im wol gevallen

wolde fremeder site.

nu was hulfe mich, ob ich unrehte strite

tiuschiu zuht gat vor in allen. (Abges.)

Walter (56, 30).

§ 14. Ein der germanischen Dichtung im Gegensaße zur antiken eigenthümliches Mittel der Vers- und Strophenbildung ist ferner der Gleichklang der Wörter, die Alliteration, die Assonanz und der Reim, die Verwendung des zweiten musikalischen Elementes, des Klanges, in der gebundenen Sprache der Poesie. In der Onomatopöie haben wir bereits eine Form der künstlerischen Verwendung des materiellen Klanges in der Sprache kennen gelernt, doch war diese überall der Bedeutung, dem Sinne der Wörter dienstbar; im Reime und seinen Vorbereitungsformen dagegen dient dieser musikalische Klang, ohne jede Beziehung auf den geistigen Inhalt, ausschließlich der äußeren Form, deren Gruppirung und Gliederung er schärfer hervorhebt.

Die älteste deutsche Reimart ist die Alliteration, der Stabreim. Sie wiederholt den Anfangsconsonanten betonter Silben von Halbvers zu Halbvers oder von Zeile zu Zeile in mannichfacher Verschlingung, und ist uns noch heute in sprichwörtlichen Redensarten, wie Haus und Hof, Kind und Kegel, Stock und Stein geläufig.

Friede dir, freudiger
Frost der Nacht!
Blinkende, blanke

Blume des Schnee's!

Ströme nur Sturm,
Streng und falt,

Mit herbem Hauche

Das Haar mir streifend u. s. w.

Lappe.

Die Assonanz wiederholt im Verlaufe der Verse oder am Ende derselben einzelne Vocale.

Auf des Lagers weichem Kissen
Ruht die Jungfrau, schlafbefangen;
Tiefgesenkt die braune Wimper,
Purpur auf den heißen Wangen.

Freiligrath.

Im eigentlichen Reime endlich wiederholen sich Consonanten und Vocale, also ganze Silben, und zwar regelmäßig in der Hebung. Nach der Anzahl der zusammenklingenden Silben zerfallen die Reime in stumpfe oder männliche und klingende oder weibliche; die stumpfen sind einsilbig, die klingenden zweisilbig, doch gehören zu den letteren auch diejenigen dreisilbigen, deren zweite Silbe durch die Kürze der ersten, der Hebungssilbe, stumm wird, während die übrigen dreisilbigen Reime als gleitende unterschieden werden. Die natürlichste und auch ursprüngliche Stellung der Reimwörter ist die am Ende zweier auf einander folgenden Verse (aa, bb, u. f. w., Reimpaare oder platte Reime). Wenn die Reimwörter in anderer Reihenfolge stehen, so heißen die Reime verschlungene oder überschlagende, doch macht man hier noch weitere Unterabtheilungen und unterscheidet gekreuzte (abab), umarmende (abba) und verschränkte (abcabe, abcbac, abccba u. s. m.) Unter den künstlicheren Reimformen, die nicht am Ende der Verse stehen, sind außer dem ziemlich bedeutungslosen Anfangsreime besonders zu nennen: der Schlagreim, welcher durch zwei innerhalb des Verses unmittelbar neben einander stehende Reimwörter gebildet wird; der übergehende Reim ist nur eine Abart desselben, die das Anfangswort eines Verses mit dem Endworte des unmittelbar vorhergehenden reimen läßt. Jm Binnenreime stehen die Reimwörter nicht unmittelbar neben einander, sondern werden mindestens durch eine rythmische Einheit getrennt; im Mittelreim klingen die Enden zweier Halbverse zusammen, entweder in derselben Zeile oder in der Mitte zweier auf einander folgenden Verse und im Kettenreim reimt das Ende eines Verses mit der Mitte des nächstfolgenden.

3. Moderne Verslehre.

Aus diesen Elementen, der griechisch-römischen Metrik und der germanischen Rythmik hat sich die heutige Verskunst entwickelt. Aus der noch unent= wickelten Zählung nach bloßen Hebungen entstand zunächst die Zählung nach rythmischen Einheiten (Hebung und Senkung, von denen die Senkung ein- und zweigliedrig sein konnte), dann zählte man die Silben unter Berücksichtigung ihrer Hebungen, und im 15. Jahrhundert begnügte man sich endlich mit der bloßen Abzählung der Silben. Da bemächtigte sich die Gelehrsamkeit auch der

Dichtung und übertrug die antiken Quantitätsverhältnisse auf die wesentlich accentirenden modernen Sprachen. Die rythmische Einheit des deutschen Verses ließ sich recht wohl als Trochäus oder Daktylus auffassen, und, wenn man den ein oder zweisilbigen Auftakt einrechnete, auch als Jambus oder Anapäst, obwohl die strenge Messung eines modernen Gedichtes von irgend welchem Umfange nach wirklichen Längen und Kürzen absolut unmöglich ist, da unsere Sprachen zu wenig lange, oder vielmehr zu viele kurze aber betonte Silben enthalten. Man entwickelte indessen ein System der deutschen Metrik, so gut es eben gehen wollte, und so ist es gekommen, daß wir noch heute von deutschen Trochäen und Daktylen, von deutschen Versfüßen und Versmaßen sprechen. Das mag hingehen, so lange wir im Gedächtnisse behalten, daß alle diese Bezeichnungen nur metaphorische Ausdrücke sind, eine Uebertragung metrischer Verhältnisse auf die accentirenden Rythmen der neueren Zeit. In diesem Sinne, in dem Sinne einer Uebersetzung aus dem Metrischen ins Rythmische, hat das im Vorhergehenden von der antiken Verslehre Mitgetheilte auch noch für die Gegenwart Bedeutung, unter Nachlassung allerdings vielfacher Freiheiten und Abweichungen, die durch die Widerwilligkeit der neueren Sprachen geboten sind, namentlich bei der Nachbildung antiker Strophen.

Es bleibt also nur noch übrig, die wichtigsten derjenigen Vers- und Strophenbildungen zu erwähnen, die theils aus der Verbindung der antiken mit der modernen Verslehre sich entwickelt haben, theils aber aus ganz fremden Gebieten, aus der südlichen und orientalischen Dichtung herstammen. Unter den Versen ist zunächst der fünf Jamben enthaltende, meistens reimlose Blankvers zu nennen, der von England aus eingeführt, auch bei uns der Rythmus der dramatischen Dichtung geworden ist; in Verbindung mit kunstvollen Reimverschlingungen bildet diese Zeile die Grundlage einer Reihe von italienischen Strophen, wie des Sonetts, der Stanze und der Terzine, die auch in Deutschland vielfache Pflege gefunden haben. Aus dem jambischen Trimeter (Senarius) ist der französische Alexandriner entstanden; er umfaßt sechs jambische Gruppen, häufig mit einer überzähligen Silbe, ist regelmäßig gereimt und hat eine stehende Diäresis nach dem dritten Jambus, die also den Vers in zwei gleiche Hälften theilt. Dadurch erhält er etwas eintönig Klapperndes, das ihn in seiner ursprünglichen Gestalt heutzutage höchstens noch zu komischen Zwecken verwendbar erscheinen läßt. Die übrigen jezt gebräuchlichen Verszeilen bedürfen nach dem Vorhergehenden kaum einer besonderen Erläuterung.

§ 16. Die neuere deutsche Strophenbildung ist fast vollständig frei ; wir finden zwei bis vierzehnzeilige Strophen mit der verschiedenartigsten Mischung der Vers- und Fußgruppen. Bemerkenswerth ist höchstens das Zusammentreten zweier Strophen zu einer Gruppe höherer Ordnung, in der

eine Gegenstrophe den Gedanken einer Strophe ergänzt, erweitert oder abrundet; der Refrain ist nur eine unverändert sich wiederholende Gegenstrophe. Dagegen, sind wichtig die feststehenden Formen der südlichen und orientalischen Strophen, von denen die folgenden auch in der deutschen Dichtung Eingang gefunden haben.

§ 17. Das Sonett ist ein Gedicht von vierzehn fünffüßigen Jamben,. die sich zu zwei vierzeiligen und zwei dreizeiligen Strophen gruppiren. Die beiden vierzeiligen Strophen enthalten nur zwei Reimklänge, deren Reimwörter sich nach der Formel abba, abba umarmen, die beiden dreizeiligen entweder ebenfalls zwei Reime, die in beliebiger Folge dreimal anklingen, oder aber drei Reime, die nur zweimal wiederkehren. Diese Strophengruppirung soll nur ein Spiegelbild der inneren Anordnung sein, der Inhalt des Sonetts foll in zwei doppelt gegliederte Abtheilungen zerfallen.

Sonettendichter.

onette dichtete mit edlem Feuer

Ein Mann, der willig trug der Liebe Kette,

Er sang sie der vergötterten Laurette,

Im Leben ihm und nach dem Leben theuer.

(Petrarka.)

Und also sang auch manches Abenteuer,

In schmelzend musikalischem Sonette,

Ein Held, der einst durch wildes Wogenbette

Mit seinem Liede schwamm, als seinem Steuer.
(Camoens.)

Der Deutsche hat sich beigesellt, ein Dritter,

Dem Florentiner und dem Portugiesen,
Und sang geharnischte für kühne Ritter.

(Rückert.)

Auf diese folg' ich, die sich groß erwiesen,
Nur wie ein Aehrenleser folgt dem Schnitter;
Denn nicht als Vierter wag' ich mich zu diesen.

Platen.

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