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Vier Schifflein sendet, der die Raben speis't,

„Dem Abt, der heute viermal ihn gespeiset;

Ihm eins, dem Schaffner eins, und eins dem Hunde. „Das vierte bleibt des Senders armer Sippschaft."

Rosegarten.

Als Kaiser Theodofius

Regierte mit Arcadius,
Einem Reiter aus Pannonia,
Mit Namen Martin, dies geschah :

St. Martinus.

Er fam in Sturm und Schnee einst mitten
Zu einem Ort hinein geritten;
Da fleht alsbald ein armer Mann
Um eine kleine Gab' ihn an.
Der Mann war elend, nackt und bloß,
Der Wind ging auf die Haut ihm los.
Herr Martin hätt' ihm auf sein Leben
Gern Koller, Rock und Wamms gegeben;
Allein ihr wißt wohl, ein Soldat
Sehr wenig zu verschenken hat.
Doch hielt er an auf hohem Roß,
Worauf der Regen niederfloß,

Und sprach: „Der Mann ist nackt und bloß;
Es muß ja grad' auch Geld nicht sein,
Ich will ihm dennoch was verleihn!“
Sein Schwert drauf mit der Faust gefaßt,
Haut er von seinem Mantel fast
Des einen Zipfels Hälft' herab,
Die er dem armen Manne gab.

Der Arme nimmt das Stück sogleich Und wünscht dafür das Himmelreich Dem guten, frommen Reitersmann, Der sich nicht lange drauf besann.

Wie der gesagt sein Gratias, So reitet dieser auch fürbaß Zu einer armen Wittwe Thür Und legt daselbst sich in's Quartier, Nimmt Speis' und Trank ein wenig ein Es wird nicht viel gewesen sein. Nachdem er also trunken, gessen Und das Gebet auch nicht vergessen:

Legt er sich nieder auf die Streu.
Ob eins gewesen oder zwei,
Das hat die Chronik nicht gemeld't,
Drum laß ich's auch dahingestellt.

Alsbald begiebt sich's in der Nacht, Daß er von einem Glanz erwacht, Der zwingt, das Aug' ihm aufzuschließen. Da steht ein Mann zu seinen Füßen: Sein Haupt trägt eine Dornenkron’; Er ist's, er ist's, des Menschen Sohn! Mit tausend Engeln, die ihm dienen, Ist plötzlich unser Herr erschienen. In aller seiner Herrlichkeit; Und mit dem Mantel, welchen heut Der Martin aus Pannonia, Der dessen gar sich nicht verfah, Geschenkt dem armen Bettelmann, Ist unser Heiland angethan.

Und so der Herr zu Petrus spricht: „Siehst du den neuen Mantel nicht, Den ich hier auf den Schultern trage?“ Auf des Apostels weit're Frage, Wer ihm den Mantel denn geschenkt, Das Aug' auf Martin hingesenkt Mit einem sanften Himmelston Fährt also fort des Menschen Sohn: „Der Martin hier, der ist es eben, Der diesen Mantel mir gegeben. Ermunt're dich! Steh' auf, mein Knecht Den ich erwählt, du bist gerecht! Du warst bisher ein blinder Heide; Das Schwert, das steck' nur in die Scheide: Ein Streiter Gottes soll auf Erden Mein frommer Bischof Martin werden!“

Als dieses Wort der Herr gesagt, So kräht der Hahn, der Morgen tagt. Ein Engel küßt des Mantels Saum, Und Martin ist erwacht vom Traum,

Denkt nach, klopft an ein Kloster an
Und ist, getreu nach Christi Worten,
Aus einem wilden Reitersmann
Ein großer, frommer Bischof worden.
Falt.

Das Märchen.

§ 67. Das Märchen ist ebenfalls eine Art der Erzählung, die ihre Wurzel in der Ueberlieferung und damit in der Poesie des Volkes hat; es ist eine Sage, die in der Tradition auch ihren geschichtlichen Grund abge= schliffen hat, die also nicht mehr nothwendig an bestimmte historische Personen, sondern höchstens noch an einen bestimmten Ort gebunden ist, aber unendlich häufig auch diesen legten Anknüpfungspunkt an die Wirklichkeit aufgiebt, und in traumartig freiem Fluge der Fantasie sich gestaltet. Das Märchen kann das Eingreifen wunderbarer Kräfte und überirdischer Wesen kaum entbehren, wenigstens bei Weitem schwerer, als die übrigen Arten der über die Wirklichkeit hinausgehenden Erzählung, und streift dann leicht auf die verwandten Gebiete der Fabel, Parabel und Legende hinüber. Ueberhaupt find die Uebergänge aller dieser kleineren epischen Formen durchaus unmerklich, so daß die Frage, was Märchen und was Sage, Legende, Fabel oder Parabel sei, oft schwer zu entscheiden ist.

Außer den bisher betrachteten, wirklich in der Volksüberlieferung wurzelnden Arten der Märchen und Sagen mit ihren Nebenformen hat der freie Schöpfungsdrang der Dichtung noch analoge Gestaltungen ausgebildet, welche die Volkspoesie, den Gedanken- und Gefühlsgang, die Auffassungs- und Darstellungsweise des Volkes in selbstständiger Schöpfung nachahmen, und solche Dichtungen sind um so werthvoller, je erfolgreicher sie ihrem Muster, der wahren Volkspoesie, nachstreben; freilich ist dieses Ziel schwer zu erreichen, und ein mangelhaftes Verständniß von dem Wesen der Volkspoesie hat namentlich auf dem Gebiete der freien Märchendichtung durch Unnatur und Verkünstelung die ganze Dichtungsart in Mißcredit gebracht.

Schließlich mag noch bemerkt werden, daß der stoffliche Inhalt der Märchen und Sagen keineswegs auf die Bearbeitung in der Form der Erzählung beschränkt ist, sondern häufig auch in anderen Dichtungsarten, in Romanze, Ballade und Epos, selbst im Drama Verwendung findet.

Bom Bäumlein, das andere Blätter hat gewollt.

s ist ein Bäumlein gestanden im Wald

In gutem und schlechtem Wetter,

Das hat von unten bis oben

Nur Nadeln gehabt statt Blätter.

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Gesagt so geschehn: und da naht sich der Graus
Und siehet so grau und so schattenhaft aus,
Doch schlürft es und schlampft es auf's Beste.
Das Bier ist verschwunden, die Krüge find leer;
Nun faust es und braust es, das wüthige Heer,
In's weite Gethal und Gebirge.

Die Kinderlein ängstlich gen Haufe so schnell, Gesellt sich zu ihnen der fromme Gesell:

„Ihr Püppchen, nur seid mir nicht traurig!"

„„Wir kriegen nun Schelten und Streich' bis auf's Blut.

"

Nein feineswegs, Alles geht herrlich und gut,

Nur schweiget und horchet wie Mäuslein.

Und der es euch anräth, und der es befiehlt,

Er ist es, der gern mit den Kinderlein spielt,
Der alte Getreue, der Eckart.

Vom Wundermann hat man euch immer erzählt;
Nur hat die Bestätigung jedem gefehlt,

Die habt ihr nun köstlich in Händen."

Sie kommen nach Hause, sie sehen den Krug

Ein jedes den Eltern bescheiden genug
Und harren der Schläg' und der Schelten.

Doch fiehe! Man kostet: „ein herrliches Bier!"
Man trinkt in die Runde schon dreimal und vier,
Und noch nimmt der Krug nicht ein Ende.

Das Wunder, es dauert zum morgenden Tag;
Doch fraget, wer immer zu fragen vermag:
Wie ist's mit den Krügen ergangen?

§ 68.

Die Mäuslein, sie lächeln, im Stillen ergeßt;
Sie stammeln und støttern und schwagen zuletzt,
Und gleich sind vertrocknet die Krüge.

Und wenn euch, ihr Kinder, mit treuem Geficht
Ein Vater, ein Lehrer, ein Aldermann spricht,
So horchet und folget ihm pünktlich!
Und biegt auch das Zünglein in peinlicher Hut,
Verplaudern ist schädlich, verschweigen ist gut;
Dann füllt sich das Bier in den Krügen.

Das Thiermärchen und die Fabel.

Goethe.

Unter den kleineren Formen der epischen Erzählung ist das Thiermärchen oder die Thiersage die lette, welche auf Volksüberlieferung beruht, und zugleich die lezte, welche noch ausschließlich wirkliche Erzählung enthält, während die auch auf diesem Gebiete ausgebildete Nachahmung der Volkstradition von Seiten der einzelnen Dichter, die Fabel, theilweise schon zu den Keimen der Erzählung, zur Darstellung einzelner Scenen zurückleitet, und die folgenden Formen der Parabel, der Paramythie und der rein bildlichen Dichtungen diese Scenen allmählich zu einzelnen Bildern concentriren, damit unmittelbar an die beschreibende Poesie und die lyrische Gedankendichtung angrenzen und so das ganze Gebiet der Epik, soweit sich dasselbe in kleinere Gruppen theilt, zu einem zusammenschließenden Kreise abrunden.

Das Thiermärchen sowohl, wie die Fabel, unterscheidet sich vom eigentlichen Märchen nur dadurch, daß die in ihm erzählten Begebenheiten dem Leben oder dem Verkehre der Thiere und anderer Geschöpfe unter einander entnommen sind, und daß sie alles Wunderbare, alles über die, freilich fingirte, Wirklichkeit des Thierlebens Hinausgehende ausschließen. Dieser Sah bedarf einer Erläuterung, die zugleich das Verhältniß des Thiermärchens und der Fabel zu anderen, nicht fabelartigen Darstellungen aus dem Leben der Thiere feststellen wird. Unerläßliche Grundbedingung für das Thiermärchen und alle Fabel ist nämlich die Auffassung des Thierreiches und weiterhin aller nichtmenschlichen Geschöpfe der Erde und der ganzen Welt, als einer den menschlichen Verhältnissen analog gegliederten und ebenso menschlich fühlenden, redenden und handelnden Gesellschaft; diese Auffassung der außermenschlichen Welt beruht aber auf einem der Grundprincipe aller Poesie, welches alles Unbelebte belebt und alles Unbeseelte beseelt, und ist also durchaus poetisch. Ihm verdankt die Thiersage und die Fabel ihre Existenz. Dadurch wird offenbar, daß es in der Fabel nichts Wunderbares ist, wenn Thiere, Pflanzen und Steine menschlich reden und handeln, es ist das vielmehr durchaus

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