immer weiter um sich greifenden Sagenkreise sich entwickelt haben, welche im Mittelalter nahezu das gesammte Poesieleben der Culturvölker jener Zeit erfüllten. Jede Sage ist also als das Product der Fantasiethätigkeit eines Volkes oder eines Volksstammes eben so entschieden wahre Poesie, wie die poetische Schöpfung des Einzelnen; damit soll aber keineswegs behauptet werden, daß die Sagen ohne Weiteres auch poetische Kunstwerke sind, zu solchen werden sie vielmehr erst durch die Thätigkeit der einzelnen Dichter oder Erzähler erhoben, die den vorhandenen Sagenstoff in Darstellung und Form künstlerisch gestalten, und in diesem Sinne wird also die epische Volksdichtung sowohl, wie die lyrische, nicht aus dem Volke heraus, sondern in das Volk hinein gesungen. Das Riefenspielzeug. Jurg Nideck ist im Elsaß der Sage_wohlbekannt, Die Höhe, wo vor Zeiten die Burg der Niesen stand; Einst kam das Riesen - Fräulein aus jener Burg hervor, Mit wenigen raschen Schritten durchkreuzte sie den Wald, Wie jezt zu ihren Füßen sie spähend niederschaut, Ei! artig Spielding! ruft sie, das nehm' ich mit nach Haus. Und feget mit den Händen, was da sich alles regt, Zu Haufen in das Tüchlein, das sie zusammenschlägt; Und eilt mit freud'gen Sprüngen man weiß, wie Kinder find Der Alte saß am Tische und trank den kühlen Wein, Was Zappeliges bringst du in deinem Tuch herbei? Sie spreitet aus das Tüchlein und fängt behutsam an, So klatscht sie in die Hände und springt und jubelt laut. Der Alte wird gar ernsthaft und wiegt sein Haupt und spricht: Wo du es hergenommen, da trag' es wieder hin, Der Bauer ist kein Spielzeug, was kommt dir in den Sinn! Sollst gleich und ohne Murren erfüllen mein Gebot; Hätt'ft du Gott helf'! gesprochen, Die Hoffnung ist gebrochen, Da stand fie auf, zu gehen, Es muß geschieden sein!" Der Mythus. Chamisso. § 65. Als Mythen wurden ursprünglich nur die an die Götter- und Heroengestalten des heidnischen Alterthums gebundenen Sagen bezeichnet, deren gesammtes System die Göttersage oder Mythologie ist; in der weiteren Entwickelung des Begriffes indessen, in welcher die Götter als Halbgötter zur Erde herabstiegen, und die Heroen zu bloßen Helden wurden, hat man auch solchen Sagen und Sagenkreisen den Namen 'Mythus' beigelegt, die einer durchaus vorgeschichtlichen Zeit angehören, deren Träger also nicht mehr historische Personen sind; - und in Uebertragung des heidnischen Begriffes auf das Christenthum werden auch manche Sagen der christlichen Vorzeit, wenn sie als symbolische Darstellung großer religiöser Ideen auftreten, Mythen genannt. Im Uebrigen ist die Mythe von der Sage nicht verschieden. Narcissus. bgehärmt und gramversunken " Wo verweilst du?" und es hallten Immer seine Worte wieder, Nicht was nah, was sein, genügt ihm, 11 Selbst der Echo Ruf vergaß er, Dagenberger. Die Legende. § 66. Genau dasselbe, was die Sage auf dem weltlichen, ist die Legende auf dem geistlichen oder kirchlichen Gebiete: die Legende bringt das Sagenleben des Volkes als einer Religions- oder Kirchengemeinschaft zur Darstellung, sie ist, wie die Sage, durch die Tradition im Munde des Volkes bedingt, und ebenso an bestimmte Zeiten, Derter oder Personen gebunden, ohne historisch begründet oder beglaubigt zu sein. Für uns Christen wurzelt die Legende natürlich in der Vorzeit des Christenthums, so weit dieselbe im Volksmunde sagenhaft umgestaltet ist, aber es giebt eben so wohl jüdische und muhammedanische Legenden, und auch die asiatischen, afrikanischen und amerikanischen Urvölker haben ihre geistliche Sagendichtung, während wir dieselbe bei den heidnischen Völkern des europäischen Alterthums unter dem Namen der Mythe bereits kennen gelernt haben. Daß die Legendendichtung namentlich bei den christlichen Völkern vielfach auf bedenkliche Abwege gerathen ist, kann auf die Bedeutung der Dichtungsart an sich keinerlei Einfluß haben, die Schöpfungen der geistlichen Volkspoesie haben genau denselben Werth, wie die entsprechende Volksdichtung auf weltlichem Gebiete, die Sagenpoesie; aber wie bei dieser ist auch bei der Legende der poetische und der künstlerische Werth wohl zu unterscheiden: jener muß dem Volke, dieser den Dichtern oder Erzählern zugerechnet werden, welche die Volksdichtung in künstlerischer Gestaltung uns vorführen. Das Brot des heiligen Jodocus. u prüfen seines Dieners Lauterkeit, Kam einst der Herr vor Sanct Jodocus Thüre Gib, sprach Jodocus, gib ihm, guter Schaffner! Herr, sprach der Schaffner, nur ein Brot ist übrig, Was bleibt denn dir und mir und unserm Hunde? Gib immer, sprach der Abt, der Herr wird sorgen. Der Schaffner nahm das Messer, zirkelte In vier ganz gleiche Stücke, reichte eins Dem Bettler hin und sprach, nicht allzufreundlich: Eins dir, eins mir, dem Abt eins, eins dem Hunde! Jodocus lächelt' und der Bettler ging. Nicht lang', und in noch ärmlicher Gestalt Kam abermals der Herr und bat um Brot. Gib, sprach Jodocus, gib mein Stücklein ihm! Der Herr wird sorgen. Und der Schaffner gab's. Nicht lang', und noch verhungerter erschien Gib, sprach Jodocus, gib dein Stücklein ihm! Der Herr wird sorgen. Und der Schaffner gab's. Nicht lang', und lahm, blind, nackt und bloß, erschien |