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immer weiter um sich greifenden Sagenkreise sich entwickelt haben, welche im Mittelalter nahezu das gesammte Poesieleben der Culturvölker jener Zeit erfüllten.

Jede Sage ist also als das Product der Fantasiethätigkeit eines Volkes oder eines Volksstammes eben so entschieden wahre Poesie, wie die poetische Schöpfung des Einzelnen; damit soll aber keineswegs behauptet werden, daß die Sagen ohne Weiteres auch poetische Kunstwerke sind, zu solchen werden sie vielmehr erst durch die Thätigkeit der einzelnen Dichter oder Erzähler erhoben, die den vorhandenen Sagenstoff in Darstellung und Form künstlerisch gestalten, und in diesem Sinne wird also die epische Volksdichtung sowohl, wie die lyrische, nicht aus dem Volke heraus, sondern in das Volk hinein gesungen.

Das Riefenspielzeug.

Jurg Nideck ist im Elsaß der Sage_wohlbekannt,

Die Höhe, wo vor Zeiten die Burg der Niesen stand;
Sie selbst ist nun verfallen, die Stätte wüst und leer,
Du fragest nach den Riesen, du findest sie nicht mehr.

Einst kam das Riesen - Fräulein aus jener Burg hervor,
Erging sich sonder Wartung und ́spielend vor dem Thor,
Und stieg hinab den Abhang bis in das Thal hinein,
Neugierig zu erkunden, wie's unten möchte sein.

Mit wenigen raschen Schritten durchkreuzte sie den Wald,
Erreichte gegen Haslach das Land der Menschen bald,
Und Städte dort und Dörfer und das bestellte Feld
Erschienen ihren Augen gar eine fremde Welt.

Wie jezt zu ihren Füßen sie spähend niederschaut,
Bemerkt sie einen Bauer, der seinen Acker baut;
Es kriecht das kleine Wesen einher so sonderbar,
Es glitert in der Sonne der Pflug so blank und klar.

Ei! artig Spielding! ruft sie, das nehm' ich mit nach Haus.
Sie knieet nieder, spreitet behend ihr Tüchlein aus

Und feget mit den Händen, was da sich alles regt,

Zu Haufen in das Tüchlein, das sie zusammenschlägt;

Und eilt mit freud'gen Sprüngen man weiß, wie Kinder find
Zur Burg hinan und suchet den Vater auf geschwind:
Ei Vater, lieber Vater, ein Spielding wunderschön!
So Allerliebstes sah ich noch nie auf unsern Höh'n.

Der Alte saß am Tische und trank den kühlen Wein,
Er schaut fie an behaglich, er fragt das Töchterlein:

Was Zappeliges bringst du in deinem Tuch herbei?
Du hüpfest ja vor Freuden; laß sehen, was es sei. -

Sie spreitet aus das Tüchlein und fängt behutsam an,
Den Bauer aufzustellen, den Pflug und das Gespann;
Wie Alles auf dem Tische sie zierlich aufgebaut,

So klatscht sie in die Hände und springt und jubelt laut.

Der Alte wird gar ernsthaft und wiegt sein Haupt und spricht:
Was hast du angerichtet? das ist kein Spielzeug nicht;

Wo du es hergenommen, da trag' es wieder hin,

Der Bauer ist kein Spielzeug, was kommt dir in den Sinn!

Sollst gleich und ohne Murren erfüllen mein Gebot;
Denn wäre nicht der Bauer, so hättest du kein Brot;
Es sprießt der Stamm der Riesen aus Bauernmark hervor,
Der Bauer ist kein Spielzeug, da sei uns Gott davor!

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Hätt'ft du Gott helf'! gesprochen,
Ich war erlöst und dein;

Die Hoffnung ist gebrochen,

Da stand fie auf, zu gehen,
Das Tuch in ihrer Hand,
Und, wo die Pfeiler stehen,
Versant sie und verschwand.

Es muß geschieden sein!"

Der Mythus.

Chamisso.

§ 65. Als Mythen wurden ursprünglich nur die an die Götter- und Heroengestalten des heidnischen Alterthums gebundenen Sagen bezeichnet, deren gesammtes System die Göttersage oder Mythologie ist; in der weiteren Entwickelung des Begriffes indessen, in welcher die Götter als Halbgötter zur Erde herabstiegen, und die Heroen zu bloßen Helden wurden, hat man auch solchen Sagen und Sagenkreisen den Namen 'Mythus' beigelegt, die einer durchaus vorgeschichtlichen Zeit angehören, deren Träger also nicht mehr historische Personen sind; - und in Uebertragung des heidnischen Begriffes auf das Christenthum werden auch manche Sagen der christlichen Vorzeit, wenn sie als symbolische Darstellung großer religiöser Ideen auftreten, Mythen genannt. Im Uebrigen ist die Mythe von der Sage nicht verschieden.

Narcissus.

bgehärmt und gramversunken
Saß die Echo in den Bergen;
Hoffnungslos liebt sie Narcissus,
Einer Nymphe, wie sie selber,
Liriopens schönen Knaben.
Ihre sehnsuchtsvolle Liebe,
Nie erhört, macht sie zum Schatten :
Und der Sterblichen Erscheinung
Schwand, bis von der holden Echo
Nichts mehr übrigt', als die Stimme.
Diese ruft die legten Worte,
Die ein Wand'rer im Gebirge,
Die ein Jäger in dem Walde,
Oder die Narcissus selbst spricht.
Als er diese Töne hörte,
Und der Echo helle Stimme
Durch die Felsenkluft erkannte,
Da ergriff es ihn im Herzen,
Und die Sehnsucht, die er früher
Ungestüm zurückgewiesen,
Fing er an jest selbst zu fühlen.
Ueber Berge, durch die Thäler
Trieb sie ihn, und Flammen schlugen
Die Dichtkunst und ihre Gattungen.

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Wo verweilst du?" und es hallten

Immer seine Worte wieder,
Mocht' er sich in dem Gebirge
Gegen Abend, gegen Morgen,
Oder gegen Mittag wenden.
Stets begehrt der Mensch Verlor’nes,
Oder was ihm unerreichbar;

Nicht was nah, was sein, genügt ihm,
Nicht was aus dem Schooß des Glückes
Mühelos ihm wird geboten,
Denn er liebt die ird'sche Fessel
An Deukalions Geschlechte.
Nimmer ruhet aus Narcissus.
Seh'n die Unsichtbare wollt' er,
Die ihn floh, wie er gefloh'n sie,
Da fie in dem warmen Herzen
Trug nach seiner Liebe Sehnsucht.
Nimmer ruht' er, bis die Götter
Seines Leids zulegt erbarmte,

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Selbst der Echo Ruf vergaß er,
Ganz versunken in sein Anschau'n.
Freudelos, doch ohne Kummer,
Ohne Nahrung saß der Arme
Tagelang am Rand des Baches.
Wie die Nymphe schwand er selber,
Abgehärmt und gramversunken,
Schnell zur Leiche, schnell zum Schatten,
Und sein Leib verging zu Staube.
Seine Seele sank hinunter,
Wo die Abgeschied'nen trauern,
Und noch an des Styr Gestaden
Weilet sie, ihr Bild zu schauen,
Ob auch dunkel sind die Wogen.
Aber aus dem Staube blühet
Eine Blum' empor: Narzisse
Nannten Liebende die weiße,
Lenzvermählte Schattenblume.

Dagenberger.

Die Legende.

§ 66. Genau dasselbe, was die Sage auf dem weltlichen, ist die Legende auf dem geistlichen oder kirchlichen Gebiete: die Legende bringt das Sagenleben des Volkes als einer Religions- oder Kirchengemeinschaft zur Darstellung, sie ist, wie die Sage, durch die Tradition im Munde des Volkes bedingt, und ebenso an bestimmte Zeiten, Derter oder Personen gebunden, ohne historisch begründet oder beglaubigt zu sein. Für uns Christen wurzelt die Legende natürlich in der Vorzeit des Christenthums, so weit dieselbe im Volksmunde sagenhaft umgestaltet ist, aber es giebt eben so wohl jüdische und muhammedanische Legenden, und auch die asiatischen, afrikanischen und amerikanischen Urvölker haben ihre geistliche Sagendichtung, während wir dieselbe bei den heidnischen Völkern des europäischen Alterthums unter dem Namen der Mythe bereits kennen gelernt haben.

Daß die Legendendichtung namentlich bei den christlichen Völkern vielfach auf bedenkliche Abwege gerathen ist, kann auf die Bedeutung der Dichtungsart an sich keinerlei Einfluß haben, die Schöpfungen der geistlichen Volkspoesie haben genau denselben Werth, wie die entsprechende Volksdichtung auf weltlichem Gebiete, die Sagenpoesie; aber wie bei dieser ist auch bei der Legende der poetische und der künstlerische Werth wohl zu unterscheiden: jener muß dem Volke, dieser den Dichtern oder Erzählern zugerechnet werden, welche die Volksdichtung in künstlerischer Gestaltung uns vorführen.

Das Brot des heiligen Jodocus.

u prüfen seines Dieners Lauterkeit,

Kam einst der Herr vor Sanct Jodocus Thüre
In ärmlicher Gestalt und bat um Brot.

Gib, sprach Jodocus, gib ihm, guter Schaffner!

Herr, sprach der Schaffner, nur ein Brot ist übrig, Was bleibt denn dir und mir und unserm Hunde? Gib immer, sprach der Abt, der Herr wird sorgen.

Der Schaffner nahm das Messer, zirkelte
Mit Fleiß, und schnitt genau das eine Brot

In vier ganz gleiche Stücke, reichte eins

Dem Bettler hin und sprach, nicht allzufreundlich:

Eins dir, eins mir, dem Abt eins, eins dem Hunde!

Jodocus lächelt' und der Bettler ging.

Nicht lang', und in noch ärmlicher Gestalt

Kam abermals der Herr und bat um Brot.

Gib, sprach Jodocus, gib mein Stücklein ihm!

Der Herr wird sorgen. Und der Schaffner gab's.

Nicht lang', und noch verhungerter erschien
Zum drittenmal der Herr und bat um Brot.

Gib, sprach Jodocus, gib dein Stücklein ihm!

Der Herr wird sorgen. Und der Schaffner gab's.

Nicht lang', und lahm, blind, nackt und bloß, erschien
Zum viertenmal der Herr und fleht' um Brot.
Jodocus sprach: Gib ihm des Hundes Stücklein!
Der Herr wird sorgen, der die Raben speis't.

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