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Das Wesen der Poefie.

§ 1.

oesie im weitesten, allgemeinsten Sinne heißt jede Thätigkeit der Fantasie, die durch die Geseße der Natur und des Lebens geordnet oder gezügelt ist; Fantasie aber heißt die Fähigkeit des menschlichen Geistes, sich innerlich, mehr oder weniger unabhängig von äußeren Einflüssen, Gestalten, Ereignisse und Handlungen vorzustellen und auszumalen, die im wirklichen Leben nur durch Vermittlung der Sinnesorgane wahrzunehmen sind, und sich dadurch in Empfindungen, Gefühle und Stimmungen zu versehen, welche sonst nur durch die Eindrücke der Außenwelt hervorgerufen werden können.

Alle Thätigkeit der Fantasie muß irgendwie an die Wirklichkeit des Lebens anknüpfen, aber sie ist durchaus nicht dauernd daran gebunden, sondern kann sich in ihrem weiteren Verlaufe vollständig frei entfalten, und diese völlige Ungebundenheit der Fantasie bezeichnet die Grenze des Poetischen in ihr; poetisch, oder was in diesem Sinne dasselbe heißt, schön ist die Thätigkeit der Fantasie nur in so weit, als sie den Geseßen der Natur und des Lebens entspricht: die Zügellosigkeit und Ausschweifung der Fantasie, das Ueberschreiten dieser Geseße ist unpoetisch. Am freiesten und willkürlichsten ergeht sich die Fantasie im Traume und im Wahnsinn; anknüpfend an irgend einen Punkt der Wirklichkeit streift sie zügellos umher und taumelt haltlos im Dunkel das ist keine Poesie, aber der Traum ist vollständig poetisch, sobald er der Gesetzmäßigkeit und Wahrheit des wirklichen Lebens sich anschließt, und selbst die Nacht des Wahnsinns kann noch poetisch sein, so lange noch 'Methode' darin ist. Der Traum des Tages, die Träumerei ist deshalb häufiger poetisch, als der unruhige Traum der Nacht, weil er die Verwirklichung einer frohen Hoffnung oder eines ersehnten Glückes in naturgemäßer Entwicklung ausmalt, und aus demselben Grunde trägt auch der fieberhafte Wahnsinn der Leidenschaft den Stempel der Poesie: es ist noch Sinn in dem Wahnsinn.

Die Dichtkunst und ihre Gattungen.

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Am Klarsten tritt das Wesen der Poesie nach dieser weitesten Bedeutung des Wortes im Leben des Kindes und in der Erinnerung hervor. Das traumartige innere Leben des Kindes ist zum bei Weitem größten Theile ein Leben der Fantasic, und die kindliche Fantasie ist meistens rein poetisch, weil fie bei der Beschränktheit ihres Flugkreises eine einmal erfaßte Fiction meistens streng durchführt, d. h. den Geseßen des Lebens entsprechend ausmalt. Ob das Kind mit der Puppe oder mit des Vaters Stocke spielt, ob der Knabe auf dem Steckenpferde in den Kampf zieht und Heldenthaten verrichtet, oder ob das Mädchen einen Winkel zur Haushaltung einrichtet und sorgt und schafft, überall spiegelt die kindliche Fantasie die Wahrheit des Lebens ab, so weit ihr Strahl die Seele des Kindes erhellt hat, und ist damit reine Poesie. Vollständig poetisch ist die Fantasie in derjenigen Seite ihrer Thätigkeit, welche die Erinnerung hervorbringt, nur muß von ihr wohl unterschieden werden das Gedächtniß, eine an einzelne Merkmale anknüpfende und diese festhaltende Thätigkeit des Verstandes. In der Erinnerung ist die Fantasie rein reproductiv, sie erlebt oder empfindet etwas bereits Erlebtes oder Empfundenes innerlich noch einmal, und kann also nicht anders, als in naturgemäßer Ordnung sich entfalten, weil sie in jedem Punkte an die Wahrheit des Lebens gebunden ist: sie kann wohl abschweifen, aber nicht ausschweifen. Damit soll indessen keineswegs behauptet sein, daß die Fantasie in der Erinnerung auf der höchsten Stufe ihrer poetischen Thätigkeit stehe, die völlige Gebundenheit derselben weist ihr vielmehr die niedrigste Stufe an, und ihren höchsten Flug kann sie nur in der höchsten Freiheit des Schaffens erreichen; aber das Wesen der Poesie, so weit es aus ihrer allgemeinsten Erscheinung erkannt werden kann, zeigt sich in der Erinnerung vollkommen scharf ausgeprägt.

Daraus ergiebt sich nun für den Umfang des poetischen Begriffes, daß die ganze Welt und Alles in der Welt, daß Wahres und Falsches, Gutes und Schlechtes, Schönes und Häßliches zu Poesie werden kann, daß dies aber nur in dem Durchgange durch die Fantasie, in der belebenden oder schöpferischen Umgestaltung vermittels der Fantasie geschieht; und auch hier bietet wieder das schlagendste Beispiel die Erinnerung, in der alles Nebensächliche und Abstoßende, eben das Poesielose der Wirklichkeit, fällt oder in den Hintergrund tritt, und nur das rein Poetische des Lebens zurückbleibt. Wie mit den Ereignissen des Lebens ist es auch mit den Bildern der Natur: an sich sind sie nicht poetisch, sondern sie werden es erst in der Umwandlung durch die Fantasie; die photographische Copie einer Naturansicht, der Gypsabguß einer menschlichen Gestalt ist ohne jede Poesie, zu poetischen Producten werden sie erst in der Wiedergeburt durch die Fantasie des Malers oder Bildhauers, aus welcher sie, in derselben Weise, wie die Ereignisse des Lebens aus der

Erinnerung, geläutert und veredelt als neue Schöpfungen erstehen. Auch in diesem Sinne sind also schön' und 'poetisch' gleichbedeutende Begriffe, das aesthetisch Schöne entsteht eben in dem läuternden Durchgange durch die Fantasie, und daraus erklärt sich der scheinbare Widerspruch in dem Saße, daß auch das Häßliche und selbst das Schlechte zum Schönen werden kann, wenn es nur innerhalb der Grenzen der Poesie sich bewegt. Für die Grenze des poetischen Begriffes aber ergiebt sich aus dem Obigen die Bestimmung, daß die Thätigkeit der Fantasie da aufhört poetisch zu sein, wo sie aufhört, sich naturgemäß zu entfalten, sich den allgemeinen Bildungsgeseßen der Welt unterzuordnen, das heißt, wo sie aufhört, wahr zu sein. Selbst das entseßlichste Unglück unseres Lebens muß sich in der Erinnerung geseßmäßig und also poetisch gestalten, weil das Bild eines wirklichen Erlebnisses nicht unwahr sein kann; ganz anders dagegen ist die Thätigkeit der Fantasie bei einem bevorstehenden, einem gefürchteten Unglücke. In der Furcht übertreibt die Fantasie; sie sieht Schrecknisse, die gar nicht vorhanden sind und gar nicht vorhanden sein können, sie irrt wild und zügellos umher und artet zulezt in völlige Fieberträume aus. So überschreitet sie die allgemeinen Gesetze des logischen Zusammenhanges und wird dadurch unwahr; deshalb ist die blinde Furcht poesielos. Aus allem Vorhergehenden ist indessen schon klar, daß mit der poetischen Wahrheit nicht die Wahrheit des wirklichen Lebens gefordert sein kann, sondern eine ideale Wahrheit, die nicht einmal Wahrscheinlichkeit zu sein braucht und nur Ordnung und Zusammenhang in den Gebilden der Fantasie beobachtet; ja, in ihrem höchsten Fluge darf und muß die Fantasie selbst die Möglichkeit weit hinter sich lassen, und ein Bild wie das folgende von Heine (Buch der Lieder, die Nordsee, 1, 6) ist darum von tadellos poetischer Schönheit und Wahrheit:

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Der Himmel wird dunkler, mein Herz wird wilder,
Und mit starker Hand, aus Norwegs Wäldern,

Reiß' ich die höchste Tanne,

Und tauche sie ein

In des Aetna's glühenden Schlund, und mit solcher

Feuergetränkten Riesenfeder

Schreib' ich an die dunkle Himmelsdecke :

"Agnes, ich liebe Dich!'

§ 2. Die Poesie im weitesten Sinne, die poetische Thätigkeit auf ihrer untersten Stufe, muß den vorausgehenden Darlegungen zufolge so allgemein verbreitet sein, wie die geistige Thätigkeit des Menschen überhaupt; sie findet sich zu allen Zeiten, bei den rohesten, wie den gebildetsten Völkern, und daraus allein erklärt sich die ausnahmlos allgemein verbreitete Liebe und Verehrung für die Poesie. Diese unterste Stufe bezeichnet indessen nur das Vermögen zu poetischer Thätigkeit, noch nicht diese selbst, ja noch nicht einmal

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die Empfänglichkeit für dieselbe. Die Empfänglichkeit für Poesie ist vielmehr schon ein höherer Grad poetischer Begabung, eine Fähigkeit, die, wie alle Gaben des Geistes, unter Völker und Menschen in sehr verschiedenem Maße vertheilt ist. Sie besteht aus der größeren oder geringeren Fähigkeit, die Wahrnehmungen der Außenwelt, mögen sie nun aus dem eignen oder aus einem fremden Leben herstammen, mögen sie durch Eindrücke der Natur oder durch Werke der Kunst hervorgebracht sein, in der Fantasie aufzufassen und dort zu verarbeiten, d. h. poetisch zu gestalten. Dieser Empfänglichkeit liegt ursprünglich stets eine Begabung zu Grunde, und zwar eine Begabung, die von der Entwicklung der übrigen geistigen Fähigkeiten bis zu einem gewissen Grade unabhängig ist, so daß dem weiblichen Geschlechte im Allgemeinen eine höhere Empfänglichkeit für die Poesie beiwohnt, als dem männlichen, und daß ganze Völker wie einzelne Menschen in der Jugend poetischer zu sein pflegen, als im reiferen Alter; auf der andern Seite aber läßt sich die Fähigkeit durch Uebung und Studium zu einem ungeahnten Grade der Ausbildung steigern, und namentlich der Einfluß allgemeiner Bildung auf die poetische Empfänglichkeit, besonders auf die Genußfähigkeit für wahrhaft poetische Schöpfungen, kann nicht hoch genug angeschlagen werden, da die bloße Begabung überall nur einzelne Seiten und Richtungen der Poesie umfaßt, die durch allgemeine Bildung des Geistes gehobene Empfänglichkeit aber allmählig das ganze weite Gebiet derselben sich zugänglich macht: je höher und entwickelter die Fähigkeit ist, desto weiter wird der Kreis des von der Fantasie umgewandelten Stoffes, und desto tiefer und reiner poetisch werden die Producte der Umwandlung.

So verschieden aber die Erregbarkeit der Fantasie bei verschiedenen Menschen auch sein kann, und so selten eine nach allen Seiten hin bedeutende Empfänglichkeit sich auch finden mag, so ist doch jeder Mensch wenigstens für solche Eindrücke zugänglich, welche in der Umwandlung durch die Fantasie eines Andern bereits zu poetischen Gestaltungen geworden sind, und welche dadurch die selbstständige Umschaffung in der eignen Fantasie gewissermaßen überflüssig machen, oder mindestens die eigne Thätigkeit wesentlich erleichtern, also für wirkliche Poesie, für die Schöpfungen der Kunst. Wie oft bleiben wir unberührt von der Poesie des Lebens, wie oft gehen wir an einem bittenden Kinde, an einer liebenden Mutter, an Glück und an Unglück kalt und theilnahmlos vorüber, während wir poetisch lebhaft angeregt werden, sobald uns diese Bilder in einem Gemälde oder in einem Gedichte entgegen treten! Daraus scheint sich eine eminente Verschiedenheit zwischen dem schaffenden Künstler und dem Zuschauer oder Zuhörer seines Kunstwerkes zu ergeben. Man hat daher die Productivität und die Receptivität der Fantasie unterschieden, und als productiv die umgestaltende, neuschaffende, als receptiv aber die blos empfangende oder aufnehmende Thätigkeit derselben bezeichnet. Bei

dieser Unterscheidung darf indessen nicht übersehen werden, daß im Grunde Beide einander berühren; die productive Thätigkeit beruht wesentlich in der Aufnahme des umzuschaffenden Stoffes, und die receptive besteht ausschließlich in der Wiedergestaltung des bereits Umgeschaffenen. Um die lettere genauer zu charakterisiren, hat man sie auch reproductiv genannt, aber damit ist die Verschiedenheit Beider noch weniger treffend ausgedrückt, weil alle Productivität im Anfange ihrer Thätigkeit rein reproductiv ist, d. h. ein ursprünglich dem Wirkungskreise der Fantasie fern liegendes heranzieht und in der Fantasie wiedergestaltet, reproducirt. Beide Richtungen der poetischen Thätigkeit also, so weit sie in ihrer späteren Entwickelung auch auseinander gehen mögen, sind ihrem Ursprunge nach durchaus gleichartig; sie sind demselben Boden entwachsen, und dieser gemeinsame Boden ist die poetische Empfänglichkeit.

Die Gleichartigkeit in der Productivität und Receptivität der Fantasie ist von der allergrößten Wichtigkeit für das Verständniß der Poesie und Kunst; im Verlaufe dieser Betrachtungen wird sich ergeben, daß eine ganze Reihe von einzelnen Künsten derselben ihren Ursprung verdankt, und daß sie allein es ist, welche uns sowohl über die Bedeutung und die Aufgabe von Poesie und Kunst, als auch über die Vorgänge beim Genusse poetischer Schöpfungen Aufklärung verschafft. Hier genügt die Feststellung der Thatsache, daß alle poetische Thätigkeit, die des Dichters, wie die seines Zuhörers, durch die Empfänglichkeit der Fantasie für poetische Eindrücke bedingt wird, die qualitativ, ihrem Wesen nach, überall dieselbe, nur quantitativ, durch den Grad ihrer Stärke und Ausbildung, verschieden ist.

Auch diese zweite Entwicklungsstufe der poetischen Thätigkeit ist noch nicht wirkliche Poesie, aber sie ist doch die unerläßliche Vorbedingung, ja die eigent liche Wurzel aller wirklichen Poesie. Der Sprachgebrauch bezeichnet deshalb sehr treffend alles auf die Erregbarkeit der Fantasie Bezügliche durch das Adjectiv 'poetisch'; wir nennen den Menschen poetisch, der eine über das gewöhnlichste Maß nur irgend hinausgehende. Empfänglichkeit besitzt, und nennen Gestalten, Bilder, Stimmungen und Gedanken poetisch, die von einer empfänglichen Fantasie leicht aufgenommen und umgestaltet werden. Wenn dieser Grad der Begabung im Verhältniß zu den Fähigkeiten, die der schaffende Künstler und Dichter besitzen muß, auch noch ein niedriger ist, so genügt er doch vollständig zum Verständnisse und zum Genusse alles dessen, was das Leben und die Natur, was die Poesie und die Kunst Hohes und Schönes bietet; die ungeheuer überwiegende Mehrzahl der Menschen kommt niemals, oder nur in feltenen geweihten Stunden, über denselben hinaus, wer ihn aber überschreitet, der ist ein Dichter oder doch eine dichterische Natur.

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