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Am 4. August 1710 schreibt er, daß der zerrüttete Credit nur wiederhergestellt werden könne, wenn der König sich zu einem Schritt entschließe, der ihm freilich schwer genug ankommen werde. Solle der Krieg ein erträgliches Ende finden, so müsse der Krieg aus einer Sache des Königs eine Sache der Nation werden; dies sei aber nur erreichbar, wenn der König mit einer Anzahl von Notabeln aus den verschiedenen Stånden und Provinzen aufrichtig unterhandle und sich an deren Beschlüsse binde. Ja, am besten sei es, die alten Generalstånde wiedereinzuberufen; doch wolle er von diesen einstweilen absehen, weil die Plöhlichkeit des Ueberganges manche Gefahr in sich trage. Fenelon schließt: »Verzeiht, mein guter Herzog, meine unkluge Dreiftigkeit; wenn ich Frankreich, den König und das königliche Haus weniger liebte, würde ich schweigen; übrigens weiß ich, zu wem ich rede.«

Und noch bestimmter treten dieselben Ansichten von der Nothwendigkeit ständischer Mitwirkung in seinen Briefen und Denkschriften an den Herzog von Burgund auf. Allerdings war der persönliche Verkehr durch das Verbot des Königs aufgehoben. Als im Jahre 1702 der Herzog auf seinem Feldzuge Cambrai berührte, gestattete der König ein Zusammentreffen mit dem geliebten Lehrer nur unter der ausdrücklichen Bedingung, daß dies nicht unter vier Augen geschehe. Aber durch die Vermittelung des Herzogs von Beauvilliers erhielt sich ein reger Briefwechsel. Es ist ein gleich ehrendes Zeugniß für Fenelon wie für den Herzog, daß Jener sich nie zum Schmeichler erniedrigt und Dieser jede ernste Mahnung mit ernstem Sinn aufnimmt. Der Verkehr steigert sich, nachdem am 4. April 1711 der Dauphin gestorben und durch diesen unerwarteten Tod der Herzog von Burgund der nächste Thronfolger wurde. Der Brief, welchen Fenelon nach der ersten Kunde dieses Ereignisses schrieb, ist wahrhaft ergreifend; er schließt mit den einfach großen Worten: „Il faut vouloir être le père et non le maître; il ne faut pas,

que tous soient à un seul, mais un seul doit être à tous pour faire leur bonheur." Kurz darauf übersendet ihm Fenelon eine neue kleine Schrift Directions pour la conscience d'un Roi", tief und edel; Herder, welcher durch innere Seelenverwandtschaft eine unverkennbare Vorliebe für Fenelon hegte, hat in der Adrastea und in den Humanitåtsbriefen einige vortreffliche Auszüge gegeben. Und wenn Lessing (Lachm. Bd. 3, S. 175) mit einigem Recht sagen konnte, daß diese Ermahnungen allenfalls auch ein Schullehrer von gutem Verstande ausdenken könne, so ist doch sogleich hinzuzufügen, daß Fenelon selbst weit entfernt ist, sich mit solchen nur allgemeinen Andeutungen zu begnügen. Er, der bereits von der ganzen Umgebung des Hofes als der künftige Mazarin bezeichnet wurde, trat sogleich mit dem Entwurf einer neuen Verfassung hervor, deren Brennpunkt die Einführung einer geordneten Volksvertretung ist. Dieser Entwurf wurde im November 1711 vorerst mit dem Herzog von Chevreuse durchsprochen und alsdann dem Prinzen selbst vorgelegt.

Nicht nach der Utopie im Telemach, sondern nach diesem Entwurf müssen wir Fenelon's staatsmännische Denkweise und Gesinnung beurtheilen. Als Grundbedingung eines besseren Zustandes wird auch hier wieder Friede um jeden Preis gefordert und darauf Verminderung des Heeres, Verbesserung seiner Einrichtung. Gemessenste Sparsamkeit im Hofhalt; gleichmäßige Vertheilung der Steuern und öffentlichen Lasten nach den bereits in Languedoc bestehenden Rechten; Wiederherstellung der Provinzialstånde, ebenfalls nach dem Muster von Languedoc; in ihren Hånden liegt hauptsächlich die Verwaltung, die Regierung führt nur die Oberaufsicht. Und als Spitze des Ganzen die Generalstånde, zusammengesetzt in jedem Bezirk aus einem vom Adel erwählten Herrn des alten und hohen Adels und aus einem vom dritten Stand erwählten Mann des dritten Standes. Die Wahl ist durchaus frei; kein Abgeordneter darf, während er Ab

geordneter ist, vom König befördert werden. Der Zusammentritt der Stånde erfolgt alle drei Jahre; nur der Ort, nicht die Dauer der Situng ist vom König abhängig. Die Stånde haben die umfassendsten Rechte in der Verwaltung der Justiz und Finanzen, in Kriegs- und Friedensunterhandlungen.

Freilich sind diese Bestimmungen noch sehr in den ersten unzulänglichen Umrissen gehalten. Wie im Telemach, so ist auch hier dem Adel und der Geistlichkeit noch immer ein bedeutender Vorrang zuerkannt; aber es ist doch mit klarer Sicherheit der einzuschlagende Weg vorgezeichnet und der dritte Stand ist befreit von aller Beschränkung und Unterdrückung. Welch ein gewaltiger Gegensatz zwischen der Politik Bossuet's und Fenelon's!

Alle diese Hoffnungen wurden jåh zertrümmert. Der Herzog von Burgund starb plößlich am 18. Februar 1712. Es ist schwer zu entscheiden, inwieweit er bei seiner Thronbesteigung die Rathschläge Fenelon's befolgt håtte. Wir wissen, daß er bangte vor der erschreckenden Verantwortlichkeit unbeschränkter Selbstregierung; aber fast scheint es, als habe er sich mehr einer freieren Bewegung des Beamtenthums als einer ståndischen Mitwirkung zugeneigt.

Ganz Frankreich war über diesen Tod in tiefster Trauer. Doch raffte sich Fenelon schnell zu neuer That auf. Er widmet der Regelung und Zusammenseßung der künftigen Regentschaft eine beträchtliche Anzahl von Denkschriften. Er bezeichnet die Herzöge von Beauvilliers und Chevreuse und den Herzog von Saint Simon als Mitglieder derselben. Die Verordnung, welche die Regentschaft einseht, soll einer Versammlung von Notablen mitgetheilt und sodann in die Bücher des Parlaments eingetragen werden.

Jedoch auch diese Mühen waren vergebens. Am 5. November 1712, neun Monate nach dem Herzog von Burgund, starb der

Herzog von Chevreuse; am 31. August 1714 der Herzog von Beauvilliers. Die Regentschaft des gefürchteten Herzogs von Orleans stand in nächster Aussicht. Was Fenelon das Leben lebenswerth gemacht hatte, war verloren. Am 5. Januar 1715 starb er. Der König hat Fenelon nie verziehen; es ist falsch, wenn einige Erzähler von einer angeblichen Versöhnung berichten. Die akademischen Gedächtnißreden von du Broze und Dacier wagten nicht den verfehmten Telemach zu erwähnen. Den unerwünschten Sturmvogel kann der Schiffer tödten, aber der nahende Sturm wächst dennoch unaufhaltsam.

2.

Vauban und Boisguillebert.

Um dieselbe Zeit, da Fenelon für die politische Besserung und Befreiung wirkte, wirkten Vauban und Boisguillebert für die wirthschaftliche.

Auch hier erhebt sich der Widerstand wieder in der nächsten Nähe des Königs. Der Marschall Vauban, jener gewaltige Feldherr, der mit seiner genialen Befestigungskunst drei und dreißig neue Festungen angelegt und dreihundert alte erneuert und umgestaltet, der drei und fünfzig Belagerungen geleitet und in hundert und vierzig Schlachten gefochten, hat ein Buch geschrieben: „Projet d'une dîme royale." Es ist für die Beurtheilung der Zeitstimmung um so wichtiger, da bei ihm nicht der leiseste Zweifel an der treuesten Anhänglichkeit für den König aufkommen kann.

Keiner kannte die innere Lage Frankreichs genauer. Mehr als ein halbes Jahrhundert hindurch hatte er Frankreich nach

Hettner, Literaturgeschichte. II.

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allen Richtungen durchzogen; und niemals blos als Soldat, sondern immer zugleich mit dem Auge des forschenden Staatsmannes und Menschenfreundes. Ueberall hatte er auf diesen Zügen alle erheblichen, auf Krieg und Seewesen, auf Finanzen, Handel, Kirche und innere Verwaltung bezüglichen Thatsachen mit liebevoller Sorgfalt verzeichnet; er ist der Vater der französischen Statistik. Wie erschreckend und trostlos aber war das Ergebniß, das er aus diesem emsigen Umfragen gewonnen! Er sagt: »Durch alle Forschungen, welche ich angestellt habe, habe ich erfahren, daß fast der zehnte Theil des Volkes am Bettelstab ist und in der That bettelt, daß von den neun anderen Theilen nur fünf im Stande sind, Jenen ein Almosen zu geben, daß von den übrigen vier wieder drei ganz und gar von Schulden und Prozessen erdrückt werden, und daß der zehnte Theil, unter welchen ich einzelne Månner des Heeres, des Gerichts und der Geistlichkeit, den Adel, Beamte, gute Kaufleute und wohlhabende Bürger stelle, höchstens auf hunderttausend Familien zu rechnen ist.« Vauban war über die tiefste Grundursache dieses unsäglichen Elends nicht zweifelhaft. »Man verachtet und überlastet,« sagt er, »die partie basse, die doch sowohl durch ihre Anzahl wie durch ihre wirklichen Leistungen der Grundpfeiler des Staates ist. Warum aber sind die Großen frei von Lasten und Steuern?« Mit edelster Herzenswärme führt Vauban den Satz aus, daß alle Unterthanen ohne Unterschied des Standes in gleicher Weise die natürliche Verpflichtung haben, nach Verhältniß ihres Einkom= mens und ihrer Ertrågnisse zur Deckung der Staatsbedürfnisse beizutragen und daß jedes Vorrecht, welches von diesen Beitrågen befreit, eine Ungerechtigkeit und ein Mißbrauch sei. Und behufs dieser zu erzielenden Gleichmäßigkeit schlägt Vauban vor, die Unmasse jener willkürlichen und drückenden Lasten, welche unter dem Namen der tailles, capitations, aides, traites foraines und dixièmes erhoben wurden, durch eine einzige Hauptsteuer zu er=

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