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sonders sollte die Einführung der Pennytare im April 1712 wenigstens die wildesten Auswüchse beschneiden; aber was half es? Die Regierung selbst mußte in allen wichtigen Fållen ebenso zu dem Mittel der Zeitungen und Flugschriften greifen wie ihre Gegner. Die gefeiertsten Schriftsteller und Staatsmånner Englands, Defoe, Steele, Addison, Swift, Somers, Bolingbroke, wie später Pulteney und Walpole, sind alle ohne Unterschied allzeit schlagfertige Pamphletisten und verdanken dieser steten Federfertigkeit zum Theil ihre glänzendsten Erfolge. Bis auf den heutigen Tag gehören die Flugschriften Defoe's, Swift's und Bolingbroke's zu den höchsten Zierden der englischen Literatur.

Bald aber ging die Presse über die nächsten Parteifragen hinaus. Mitten aus den unmittelbar vorliegenden Kämpfen erhebt sich immer klarer das Bewußtsein, daß Glück und Freiheit des Ganzen doch wesentlich von der äußeren Wohlfahrt, vom Behagen und dem Reichthum der Einzelnen ausgehe und daher auch nothwendig wieder in diesen allgemeinen Wohlstand zurückmünden müsse. Vom Politischen kam man sogleich in das Soziale, von den Grundlagen des Staats auf die Grundlagen der bürgerlichen Gesellschaft. Die Volkswirthschaftslehre oder die Wissenschaft der Nationalökonomie, die in England schon seit der Zeit der Elisabeth sehr sorgsam und nach Umstånden sogar sehr glücklich und einsichtig gepflegt war, wurde immer fester und lebendiger in der Erkenntniß ihrer vornehmsten Geseße, und war eifrig bemüht, das wissenschaftlich Erkannte sofort auch werkthätig ins Leben hinüberzuführen. Der selbstsüchtige, aber mächtige Aufschwung des englischen Handels und Colonialwesens weiß sattsam von den segensreichen Wirkungen dieser menschenfreundlichen Bestrebungen zu erzählen.

Ein höchst denkwürdiges Zeugniß der neuen Sinnesweise ist der Essay on projects von Daniel Defoe; ein Buch, in vieler Beziehung den patriotischen Phantasien von Justus Möser ver

gleichbar. Defoe, der späterhin als Verfasser des Robinson Cru soe so berühmt wurde, führt hier den Plan eines großartigen Banksystems aus, stellt die unberechenbaren Vortheile verbesserter Landstraßen als der einträglichsten Quelle der öffentlichen Wohlfahrt dar, verlangt zur Sicherheit des Handelsverkehrs eine Milderung der Geseze gegen ehrlichen Bankerott und desto grdßere Strenge gegen erwiesenen Betrug, schlägt allgemeine Asse= curanzgesellschaften gegen Gefahren und Schäden aller Art vor, dringt auf öffentliche Wohlthätigkeitsanstalten, besonders auf Sparkassen und empfiehlt zuleht die liebevollste Sorgfalt für Irrenhäuser als eine unveräußerliche Schuld gegen die große Gesammtfamilie des Menschengeschlechts, und führt zugleich die überdachtesten Betrachtungen und Vorschläge über Erziehung, besonders über Måädchenerziehung, und über Förderung der Wissenschaft von Seiten des Staats aus. Franklin, der große nordamerikanische Freiheitsheld, bekennt ausdrücklich, daß er schon als Knabe durch diese ebenso einleuchtenden als neuen Ideen aufs tiefste ergriffen wurde, und daß der Antheil, den er an der Revolution seines Vaterlandes genommen, in der That in gewisser Hinsicht das ganz unmittelbare Ergebniß der hier gewonnenen Anregungen sei.

Wissenschaftlicher und darum nur um so nachhaltiger sind die streng nationalökonomischen Schriften von William Temple, William Petty, Dudley North, John Locke, Charles Davenant und einigen Anderen. Man hat diese ålteren englischen Nationaldkonomen bisher viel zu wenig beachtet; erst den gründlichen Untersuchungen Wilhelm Roscher's (3ur Geschichte der englischen Volkswirthschaftslehre. Leipzig 1851) ist es zu danken, daß man jezt endlich anfångt, ihnen allmålig gerechter zu werden. Das übereinstimmende Ziel dieser Schriftsteller ist, den Holländern das Geheimniß ihrer wirthschaftlichen Größe abzulernen und alle Mittel in Bewegung zu sehen, sie zu erreichen und mit der

Zeit sogar zu überbieten. Dieses Streben tritt in den mannichfachsten Gestalten auf, als Pflege der Seefischerei, als Recht= fertigung des ostindischen Handels, als Sehnsucht nach einem erniedrigten Zinsfuß, als Vertheidigung der Navigationsacte, als Empfehlung indirecter Abgaben statt der directen, als Lobrede auf die Handelsfreiheit im Inneren; und dabei werden die Lehren vom Werth und Preis, von Gold und Münze, von Zinsfuß und Arbeitslohn, von Handelsbilanz und Handelsfreiheit und alle diese wichtigsten Fragen mit einer Einsicht und Klarheit entwickelt, daß, wie der sachkundige Roscher behauptet, 1. Smith diese Lehren schon alle abgeschlossen vorfand, obgleich er nach der gewöhnlichen Meinung meist für ihren ursprünglichen Begründer gehalten wird.

Leben und Wissenschaft reichten sich muthig die Hånde. Bald sah man überall, daß ein neuer Zug in die Geister gekommen. Die freie und unerschrockene Forschung, die schon im Zeitalter der Stuarts ihre Flügel regte, erstarkte immer mehr und mehr. Es erstand eine neue Philosophie, eine neue Theologie, eine neue Sittenlehre, die wesentlich als der naturgemåße Niederschlag dieser neuen religiösen und politischen Zustände zu betrachten sind. Und Locke, der Deismus und die englischen Moralisten wurden die Hebel, deren Wirkung weit über England hinausgriff und die ganze alte Welt aus ihren Fugen rückte.

Zweites Capitel.

Locke und die Erfahrungsphilosophie.

Locke, der jüngere Zeitgenosse Newton's, kann füglich der Newton der Philosophie genannt werden. Er geht in der Betrachtung des menschlichen Geistes genau von denselben Grundsåßen aus, wie die gleichzeitige Naturwissenschaft in der Betrachtung der Natur. Der Wahlspruch Newton's: »hůte dich vor Metaphysik,« ist auch in philosophischen Dingen der Wahlspruch Locke's.

John Locke war am 29. August 1632 zu Wrington in Sommersetshire in der Nähe von Bristol geboren. Sein Vater, der während der Bürgerkriege Hauptmann im Parlamentsheer war, gab ihm die sorgfältigste Erziehung. Er wurde auf die Westminsterschule geschickt und von dort 1651 nach Orford. Locke selbst hat sich niemals sehr befriedigt über seinen Orforder Aufenthalt ausgesprochen. Die scholastische Behandlung der Philosophie, die dort herrschte, hatte für ihn etwas Abstoßendes. Dagegen zog ihn sehr die medicinische Wissenschaft an; er brachte es in dieser sogar zu allgemeiner Anerkennung; Sydenham, der größte Arzt seiner Zeit, rühmt sich in seiner Betrachtung über Geschichte und Heilung der acuten Krankheiten mit offenbarer Genugthuung der Billigung Locke's, und das ist um so beachtenswerther, da im Jahre 1670, in welchem jenes Buch erschien, Locke als Philosoph noch völlig unbekannt war. Im Jahre 1664 trat Locke zum ersten Male in das öffentliche Leben. Er beglei tete Sir Walter Vane, den königlichen Gesandten bei dem Kurfürsten von Brandenburg, während des ersten niederlåndischen Krieges als Secretair nach Cleve, kehrte jedoch schon

im nächstfolgenden Jahre nach England zurück und scheint sich hier zunächst wieder naturwissenschaftlichen, namentlich chemischen und physikalischen Studien gewidmet zu haben. Im Jahre 1666 machte er die für sein ganzes Leben höchst folgenreiche Bekanntschaft von Lord Ashley, dem spåteren Earl von Shaftesbury. Er wohnte theils in Ereterhouse, theils zu Orford. Am lehteren Ort entwarf er zuerst 1670 sein großes Werk »Essay on human understanding«. Dieser Entwurf, mit der Jahreszahl von 1671 ist noch vorhanden und von Lord King in seinem lehrreichen Leben Locke's (London 1830. Thl. I, S. 10.) veröffentlicht; der Grundgedanke, daß alle Erkenntniß des Menschen lediglich auf Erfahrung beruhe, ist hier bereits in voller Schärfe erfaßt. Als 1672 Lord Shaftesbury Lordkanzler geworden war, gab er Locke eine einträgliche Anstellung im Ministerium des Handels; diese verlor jedoch Locke sogleich wieder, als Shaftesbury im nächsten Jahre mit dem Hofe brach und sich zur Opposition schlug. 1675 ging er eines asthmatischen Leidens halber auf längere Zeit nach Frankreich. Das von Lord King mitgetheilte Reisetagebuch gewährt den anziehendsten Einblick, wie offen Locke das Auge für Eindrücke jeder Art hatte, wie sehr der politische und religiöse Druck Frankreichs und Englands seinen freiheitsliebenden Geist mit Entrüstung erfüllte, und wie doch inmitten aller dieser verschiedenartigen Anregungen nach wie vor die tiefsten Fragen seiner sich immer mehr befestigenden Erkenntnißlehre in ihm herumwühlen. Im Mai 1679 kehrte er nach England zurück; sein Aufenthalt hier war aber nicht von langer Dauer. Die öffentlichen Wirren Englands waren inzwischen aufs schlimmste gestiegen; Niemand fühlte sich sicher, der in irgend einer Weise die Ungnade des Hofes auf sich gezogen hatte. Nur mit Mühe war Shaftesbury, des Hochverraths angeklagt, dem Tode entgangen und deshalb gegen das Ende des Jahres 1682 nach Holland entflohen, woselbst er am 26. Februar

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