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Verwandlungsspiel und Mannigfaltigkeit der Gestaltungen auszeichnet, und die glühende Phantasie des Jünglings, deren farbenreiche Bilder in die das jugendliche Herz durchströmenden feurigen Gefühle getaucht sind. Mit zunehmendem Alter mäßigt sich die Thätigkeit der Phantasie, da das gewonnene Vorstellungsmaterial allmählich zu festen Massen erstarrt, die sich der Umbildung widersehen.

Sobald das Kind zu sprechen beginnt, kommt auch seine Phantasie zum Ausdruck. Sein Vergnügen am Geschichten- und Märchenerzählen verrät seine Neigung, in der Welt des Wunderbaren zu leben. In seinen Reden tritt bald die „Lust zu fabulieren“ an den Tag, wie es denn auch die Tendenz zeigt, alles lebendig auszuschmücken. Die ausmalende Phantasie ist um so reger, da seine Vorstellungen bei ihrer geringen Deutlichkeit sich leicht umbilden. Am meisten lebt sich seine Phantasie im Spiele aus.*)_ _Noch mächtiger entfaltet sie ihre Schwingen, je lebendiger und wärmer die Gefühle und Begierden werden.

Die Erziehung hat die kindliche Phantasie einerseits anzuregen und zu bilden, anderseits sie zu zügeln und vor Ausartung zu bewahren. Die erste Aufgabe fällt dem Unterrichte zu, der durch den Aufbau eines reichen Vorstellungskreises der Phantasie wertvolle Elemente darreicht. Der Lehrstoff selbst regt die phantasierende Thätigkeit der Kinder mächtig an: die biblische Geschichte mit ihren ehrwürdigen Gestalten und mit dem malerischen Naturhintergrund des Orients; die Weltgeschichte, die Großes und Gewaltiges (große Thaten, große Opfer, große Gesinnungen, große Leidenschaften) vor den kindlichen Blick stellt ; die Geographie, die das Kind in die Ferne entrückt, die ihm als Wunderland gilt; die Naturgeschichte, die es sinnend in das wunderbare Leben der Natur sich versenken läßt 2c. Die Phantasie wird aber nur dann beflügelt, wenn durch Frische und Lebendigkeit der Darstellung und Entwerfen farbenreicher Gemälde das Kind innerlich ergriffen wird; die kühle, rein verstandesmäßige Auffassung ermüdet und bringt nicht Bewegung und Wärme in die kindliche Geistesthätigkeit. Raum für die phanta= sierende Thätigkeit wird auch gegeben durch vielfache neue Kombinationen, wie bei Bildung von Rechenaufgaben, durch Erfindung neuer Figuren beim Zeichnen, durch Um- und Nachbildungen bei den Stilbungen, wie durch Aufstellen erdachter Situationen (phantasiertes Handeln) im Gesinnungsunterricht. Beim Kinde führt der Weg zum Herzen durch die Phantasie.

*) „Spiel ist die Umseßung der Phantasiethätigkeit in sichtbare Form." Sally, Untersuchungen über die Kindheit, S. 32.

Der Zucht kommt namentlich die Regelung und Zügelung der Phantasie zu. Sie hat zu verhüten, daß die Einbildungskraft übermäßig gereizt werde und im Kinde ein Phantasieleben entstehe, welches die Wirklichkeit öde und schal findet. Alles hat sie fern zu halten, was der Sinnlichkeit zu reiche Nahrung geben und wegen seines bestrickenden Reizes die Phantasie erhißen und vergiften kann. Daher haben die Erzieher auf Lektüre und Umgang des Kindes ein wachsames Auge zu richten.

21. Zeit- und Raumvorstellung.

1. Die Zeit.

a. Entstehung der Zeitvorstellung. Zeitreihe. Reproduziere ich die Reihe der Jahreszeiten, indem ich das Anfangs- und Endglied derfelben im Bewußtsein festhalte, so stellen sich als Mittelglieder die Vorstellungen Sommer und Herbst ein, wobei ich mir zugleich bewußt werde, daß der Sommer später war als der Frühling, aber früher als der Herbst. Die Glieder dieser Reihe folgen demnach aufeinander in der Ordnung, daß ein Glied jedesmal als das Frühere, das andere als das Spätere erscheint. Was die Seele in sich erlebt, ordnet sie in ein Nacheinander, und in dieser Ordnung der nacheinanderfolgenden Vorstellungen besteht die Zeit. Diese wird nicht unmittelbar von den Sinnen wahrgenommen, ist auch nicht ein bestimmter Inhalt unseres Bewußtseins, sondern nur die Vorstellung des Nacheinander, die Form, in der sich die Vorstellungen unserm Bewußtsein darbieten, daher sie Kant treffend als Anschauungsform bezeichnet.

Um die Vorstellung der Zeit in uns hervorzubringen, muß eine Aufeinanderfolge von Vorstellungen im Bewußtsein stattfinden. Doch das allein genügt nicht, sondern die einzelnen Glieder sind im Bewußtsein festzuhalten, damit eine Vergleichung zwischen ihnen möglich wird und das eine als das Frühere, das andere als das Spätere erscheint. Indem ich z. B. Frühling und Sommer gleichzeitig denke, werde ich mir des Unterschiedes beider bewußt. Im Frühlinge sproßten Saaten auf den Feldern, im Sommer wogen Halme, im Frühlinge sind die Bäume voll Blüthen, im Sommer sind sie mit Früchten beladen 2c. Das alles kann aber nicht zugleich sein, sondern das einc muß früher, das andere später stattfinden. Daher weist die Seele der Vorstellung Sommer ihren Plah nach dem Frühlinge an. In dieser Weise werden die einzelnen Vorstellungen der Jahreszeiten in ein zeitliches Nacheinander geordnet.

Am Sylvesterabende überblicken wir das verflossene Jahr; da tritt zuerst der Neujahrstag ins Bewußtsein, und nun folgen die wichtigsten Erlebnisse während der einzelnen Monate nacheinander bis zum Sylvestertage. Wir gewinnen so die Zeitreihe, deren Wesen darin besteht, daß eine Reihe von Ereignissen oder Veränderungen, die wir vorstellen, zwischen einem bestimmten Anfangs- und Endpunkt eingeschlossen ist und jedes Glied in der Ordnung des „Vorher“ und „Nachher“ eine unverrückbare Stelle einnimmt. Die Zeitreihe entwickelt sich nur nach einer Richtung vom Anfangs zum Endpunkte hin und hat demnach nur eine Dimension, nur einen Anfang und ein Ende, sodaß sie sich nicht umkehren läßt, wenn nicht ihr Wesen zerstört werden soll, z. B. eine Melodie, ein Gedicht, eine Rede 2c. lassen sich nicht rückläufig vortragen. Die Zeit kann man sich daher nur unter dem Bilde der geraden Linie veranschaulichen.

Halten wir von einer Zeitreihe das Schlußglied im Bewußtsein fest, während die Reihe durch Reproduktion des Anfangsgliedes zur Evolution kommt, so erzeugt sich in uns die Vorstellung des Zeitverlaufs. Die durch das Anfangs- und Endglied begrenzte Zeitlinie heißt die Zeitstrecke, deren Dauer um so größer erscheint, je mehr Glieder zwischen Anfangs- und Endglied zu durchlaufen sind. So wird dem abgehenden Seminaristen, wenn er die innerhalb der Aufnahme- und Reifeprüfung vorgekommenen Erlebnisse reproduziert, bewußt, daß er eine bedeutende Zeitstrecke in der Anstalt verlebt hat.

Die Zeitreihen haben meist einen konkreten Inhalt, eine Menge von Wahrnehmungen, Ereignissen und Veränderungen; doch können wir uns auch Zeitreihen ohne Inhalt vorstellen. Wenn man mehrere gleich große Zeitreihen, z. B. Unterrichtsstunden, Tage, Wochen, Jahre, die sich nur durch ihren Inhalt unterscheiden, übersieht, so werden die verschiedenen Inhalte dieser Reihen durch Hemmung sich verdunkeln, dagegen die gleichen Größen der Reihen sich verstärken und ins Bewußtsein treten. Dann erhält man eine Zeitreihe von bestimmter Länge, aber von unbestimmtem Inhalte, also eine leere Zeitstrecke, z. B. Stunde, Tag, Woche, Jahr. Der einzige Inhalt einer leeren Zeitstrecke liegt nur in der Zeitlänge. Wenn man nun alle möglichen leeren Zeitstrecken verknüpft, so wird auch die Größe dieser Zeitlinie gehemmt, sodaß Anfang und Ende verdunkelt scheinen und wir die Vorstellung einer Zeit ohne Anfang und Ende, die Vorstellung der Ewigkeit, gewinnen.

b. Formen der Zeit. Die Zeit erscheint uns in 3 Formen, in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Die Vergangenheit

ist das Nichtmehr, die Gegenwart das Noch da, die Zukunft das Nochnicht. Wenn wir früh erwachen, so wissen wir, daß wir geschlafen haben und daß nun die Tagesarbeit beginnen wird. Wenn wir etwas begehren, so ruft die Begierde die Vorstellung der früheren Art der Befriedigung hervor, und so entsteht in uns die Vorstellung eines früher Vorhandenen, also Vergangenen. Dagegen erscheint die Befriedigung als das Ziel der gegenwärtigen Begierde, als etwas erst zu Gewinnendes und Herankommendes, also Zukünftiges.

Die Gegenwart ist nur das Glied zwischen Vergangenheit und Zukunft, im Leben nur ein Punkt, den eine wirkliche Wahrnehmung einnimmt und der sich im nächsten Augenblicke ändert und zur Vergangenheit wird. Pfeilschnell ist das Jeht entflogen". Was wir gewöhnlich einen Augenblick“ nennen, ist schon kein Zeitpunkt mehr, sondern eine kurze Zeitstrecke. Die der Gegenwart vorangehende Vergangenheit ist die erfüllte Zeit, die um so größer erscheint, je mehr Veränderungen und Zustände sich in ihr abgespielt haben. Die nächste Vergangenheit zeichnet sich durch Deutlichkeit aus; denn die Ereignisse der lezten Tage sind im allgemeinen heller als die früheren, die sich mit Zunahme der Entfernung verdunkeln. Die Zukunft kann, streng genommen, nicht vorgestellt werden, da sie noch nicht da ist; doch mit Hilfe der Phantasie konstruieren wir aus der Vergangenheit Zukunftsbilder: der geregelte Gang der Jahreszeiten und der Feste des Jahres, wie die regelmäßig jährlich wiederfehrenden Beschäftigungen gewähren uns Anhalte, daß wir die Zukunft mit Ereignissen ausfüllen, deren Eintritt wir hoffend erwarten. gangenheit und Zukunft sind nur relative Begriffe; denn aus jeder Zeitreihe können wir ein Glied reproduzieren, dessen vorangehende Glieder der Vergangenheit und dessen nachfolgende Glieder der Zukunft angehören. Reproduzieren wir aus dem deutsch-französischen Kriege den Tag von Sedan, so gehört die Kaiserproklamation in Versailles der Zukunft an, obschon sie vergangen ist.

Ver

c. Messung der Zeit. Die objektiven Maßstäbe der Zeit sind die periodischen, immer gleichbleibenden Bewegungen in der Natur: die Pendelschwingungen, deren Wiederholungen gezählt werden, und die Bewegung der Erde um ihre Achse und um die Sonne 2c., nach der Jahre, Monate und Tage bestimmt werden. Nach den Pendelschwin= gungen ist die Uhr konstruiert, welche gleichmäßige Zeitabschnitte: Stunden, Minuten, Sekunden angiebt.

Die subjektive Messung der Zeit ist meist unsicher. Oft scheint die Zeit Flügel zu haben, oft scheint sie im Schneckengange zu schleichen.

Man spricht daher von langen und von kurzen Stunden, obschon alle gleich sind. Die Schäßung der Zeitdauer hängt zunächst vom Verlaufe unserer Vorstellungen ab; je regelmäßiger derselbe, je strenger geordnet unsere Thätigkeit, desto feiner ist das Zeitgefühl und desto richtiger die Zeitschätzung. Besonders hängt die Zeitauffassung von dem die Zeitstrecke erfüllenden Inhalt ab. Je weniger Vorstellungen uns beschäftigen, desto träger fließt der Zeitstrom der Gegenwart, und desto eher beschleicht uns die Langeweile, sodaß uns die Zeit unerträglich lang wird. In der Erinnerung freilich erscheint dieselbe Zeitstrecke als kurz, weil sie wegen ihrer Leerheit an Vorstellungen zusammenschrumpft. Dagegen ist der Zeitverlauf der Gegenwart kürzer, wenn viele Vorstellungen und namentlich solche, an denen ein besonderes Interesse haftet*), uns beschäftigen. So verfliegt die Zeit bei rüstiger Arbeit, auf Reisen, in heiterer, anregender Gesellschaft. „Dem Glücklichen schlägt keine Stunde“.

In der Erinnerung dünkt uns die so schnell dahingeeilte Zeit lang, weil durch die vielen Ereignisse die Zeiteinheiten auseinander gehalten werden. So haben wir Tage in unserem Leben, die uns länger erscheinen als manches Jahr. Durch die Erinnerung werden also kleine Zeitstrecken vergrößert und längere Zeitstrecken verkürzt. Auch die Ferne der Zeiten wirkt mit auf unsere Schätzung: je näher die Zeit, desto größer erscheint die Zeitstrecke der gestrige Tag erscheint länger als einer vor Wochen je weiter sie zurückliegt, desto mehr Verkürzung muß eintreten, da die Inhalte verdunkelt sind. Endlich hängt die Zeitschätzung noch vom Lebensalter ab. Je älter der Mensch wird, desto schneller vergeht ihm die Zeit, da sich mit jedem Jahre die gleichartigen Wiederholungen häufen und deshalb die Zeitteile jedes zurückgelegten Jahres zusammenschwinden. Dem Kinde dagegen wird ein Jahr lang, da es ihm mit einer Galerie lebensvoller Bilder angefüllt ist.

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2. Der Raum.

a. Entstehung der Raumvorstellung. Die Raumreihe. Die beiden Hauptquellen für die Erzeugung der Raumvorstellung liegen im Gesichts- und Tastsinn. Wenn wir eine Raumwahrnehmung machen, lassen wir unsere Augen an den Grenzen der Körper entlang gleiten oder unsere dem Tastsinn dienenden Finger an denselben entlang streifen, und so entsteht auf der Netzhaut und in der Hautoberfläche eine Reihe aufeinanderfolgender Reize und demnach Empfindungen, von denen immer die am stärksten sind, die gerade aufgenommen werden. Diese Em

*) Vergi. Gen. 29, 20.

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