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zu dem einen Ohr hinein und aus dem anderen hinauslassen, doch sind die sogenannten vergessenen Vorstellungen nicht eigentlich Besiß der Seele geworden; denn was nur schnell durch den Raum des Bewußtseins huscht oder in der Scele isoliert stehen bleibt und keine Hilfe und Unterstüßung bei andern verwandten Vorstellungen findet, hat gar keinen Einlaß in den Vorstellungskreis gefunden. Was aber klar aufgenommen und mit andern Vorstellungen fest verknüpft wurde und zu= gleich das Gefühl erregte, das kann nicht vergessen werden. Jener Vergeßlichkeit kann demnach vorgebeugt werden durch Weckung der Aufmerksamkeit, klares Verständnis, lebendiges Interesse und öftere Wiederholung.

Ein willkürliches Vergessen giebt es nicht; die Erfahrung zeigt uns, daß gerade die Vorstellungen, die wir wegen des an ihnen haftenden Unlustgefühls vergessen wollen, immer wieder dem Bewußtsein sich aufdrängen. Es giebt wohl eine Kunst des Gedächtnisses, aber keine Kunst des Vergessens. Daher soll der Sage nach Themistolles die Götter um das donum oblivionis gebeten haben, und die griechische Mythologie redet von dem Flusse Lethe, aus dem die Seelen Vergessenheit ihres irdischen Daseins tranken.

5. Wert des Gedächtnisses. a. Ohne Gedächtnis würde ein geistiges Leben nicht möglich sein; denn wir würden dann „Augenblicksmenschen“ sein, täglich von vorn anfangen und die Vorstellungen von neuem erzeugen müssen. Unser Wissen beruht auf dem in uns vorhandenen Vorstellungsmaterial: tantum scimus, quantum memoria tenemus. Indem wir nun die aufgenommenen Vorstellungen festhalten, können sich die gegenwärtigen psychischen Vorgänge an jene anschließen und mit ihnen verbinden, wodurch die Kontinuität des Seelenlebens begründet wird. Indem wir aber die erworbenen Vorstellungen in derselben Form zurückrufen, wird uns die Gewißheit unseres Wissens bewußt.

b. Auf dem Gedächtnisse beruht der Reichtum des seelischen Lebens;*) denn durch dasselbe wird ein inneres Stammkapital angesammelt, auf welchem sich die weitere geistige Bildung aufbaut. Alle Weiterentwickelung ist nur dadurch möglich, daß sich das Neue mit dem vorhandenen Vorstellungsmaterial verknüpft; jemehr Vorstellungen festge= halten werden, desto leichter vollzicht sich die Aufnahme und Einordnung des Neuen.

c. Das Gedächtnis ist die Grundlage für die anderen seelischen Thätigkeiten. Die Phantasie muß die Elemente für ihre Gebilde sich von dem Gedächtnis darreichen lassen; der Verstand braucht zur Bildung allgemeiner Begriffe der Einzelvorstellungen, die ihm das Gedächtnis liefern muß. Für unser Wollen und Handeln können wir nur Grund

*) Napoleon I.: „Ein Kopf ohne Gedächtnis ist eine Festung ohne Besaßung".

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fäße bilden, wenn uns das Gedächtnis frühere Entschließungen und deren Ergebnisse zur Verfügung stellt. Es hat daher der Mythus des Hesiod, daß Mnemosyne, die Göttin des Gedächtnisses, die Mutter der Musen sei, einen tiefen Sinn.

Troz des hohen Wertes darf man aber das Gedächtnis nicht überschäßen, was der Fall sein würde, wenn wir die Begabung und Bildung eines Menschen nur nach der Fülle des von ihm angeeigneten Gedächtnisstoffes beurteilen würden. Das gedächtnismäßig Angeeignete ist zunächst nur ein kleiner Teil im Vergleich zu dem, was wir durch Anschauen, Sehen, Hören, Denken und Üben aufgenommen haben. Auch beruht die Bildung weniger in der reichen Ausstattung als in der Verbindung unseres Wissens, mehr in klarem Verständnis und richtigem Urteile als in der Menge des Gelernten. Beim bloßen Gedächtnismenschen ist gar oft das aufgespeicherte Wissen ein toter Schaz, den er nicht für sein Denken und Thun verwenden kann; dann sind die Thätigkeiten der Phantasie und des Verstandes gehemmt, weil das Gedächtnis sich fast des ganzen Geistes bemächtigt hat. Darum sagt Herbart: „Der Gedächtnismensch merkt zwar, aber er bleibt stehen, wo man ihn hinstellt“.

6. Pädagogisches. Die Fähigkeit zu merken zeigt sich beim Kinde schon früh, sie wächst bald erheblich und erlangt ihre größte Stärke vom 7.-12. Lebensjahre. Diese Blütezeit des Gedächtnisses ist daher recht eigentlich die Zeit des Auswendiglernens, um das Baumaterial zu den bedeutenderen Gebilden der späteren Jahre anzusammeln. Da in dieser Periode das Kind alles ihm Dargebotene mit erstaunlicher Leichtigkeit aufnimmt und behält, so müssen von ihm namentlich solche Lernstoffe angeeignet werden, die wegen ihres Gedankeninhaltes und wegen ihres Einflusses aufs intellektuelle und Gemütsleben Wert und Bedeutung fürs ganze Leben haben (Sprüche, Lieder, Gedichte) und welche als Grundlage für einen weiteren Ausbau des Wissens und Könnens unverlierbares Eigentum werden müssen (Einmalcins, Deklinations- und Konjugationsreihen, Geschichtszahlen 2c.). Für die Übung des Gedächtnisses gelten folgende Regeln:

a. Man lasse nur Verstandenes memorieren; denn je heller und stärker die Vorstellungen im Bewußtsein stehen, desto mehr gewinnen sie Halt. Unverstandenes belästigt und wird nicht das Eigentum der Seele. Doch gelte hier Pestalozzis Wort: „Man muß nur nie denken, weil das Kind von etwas nicht alles versteht, so diene ihm gar nichts davon“.*) b. Da am besten die Vorstellungen haften, mit denen Lustgefühle verbunden sind, so wecke man lebendiges Interesse für den Lernstoff. Was du Gefühltes denkst, das wirst du auch behalten, Und im Gedächtnis wird dir's ewig nicht veralten, Das seinen Namen zwar vom Denken hat empfangen, Doch nur Gefühltes bleibt im Angedenken hangen.**)

*) Wie Gertrud ihre Kinder lehrt. S. 57. **) Rückert, Weisheit des Brahmanen. XIII.

c. Man verknüpfe den Memorierstoff mit den bereits vorhandenen Vorstellungen und ordne ihn zu Reihen, in denen logische Beziehungen walten. Da die Lernschnelligkeit zur Reihenlänge in umgekehrtem Verhältnisse steht, ist die didaktische Forderung: Divide et impera! zu beachten. Ratich: „Es muß alles stücklich gelernt werden“.

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d. Man beschränke den Lernstoff auf das Notwendigste; denn es kommt nicht auf die Masse, sondern auf möglichste Bestimmtheit und Klarheit des geistigen Besizes an. Allzuviel ist ungesund. Dinter: „Kinderseelen sind wie Kamele, die sich geduldig viel aufbürden lassen, die aber, wenns ihnen zu viel wird, ein Stück nach dem andern abschütteln". e. Man befestige das Gelernte durch öftere Wiederholung und mannigfache Anwendung. Von großem Werte ist die immanente Wiederholung, welche durch den fortschreitenden Unterricht veranlaßt wird und innerhalb desselben sich vollzieht.

f. Man halte alles fern, was das Nervenleben schwächt und überreizt und dadurch zur Verheerung des Gedächtnisses führt: geistige Überanstrengung, ungeregelte, flüchtige Lektüre, bei der die Vorstellungen sich nicht im Bewußtsein ausbreiten können, aufregende Speisen, Getränke 2c.

g. Die Arbeit des Memorierens ist möglichst in die Schule zu verlegen. Was der Schüler durch stundenlanges wiederholtes Überlesen nur müh sam in den Kopf bringt, kann er mit Hilfe des Lehrers in einigen Minuten lernen. Um ein sicheres Einprägen anzubahnen, ist bei jedem Lernstoff zunächst die innere Verbindung der Gedanken darzulegen und eine verständige Durcharbeitung vorzunehmen (judiziöses Memorieren), und dann erst hat die Einprägung nach dem äußeren Zusammenhange und der Aufeinanderfolge der Wörter zu erfolgen (mechanisches Memorieren). Zur Erleichterung des Lernens können zuweilen da, wo eine logische Verknüpfung des Stoffs unmöglich ist, künstliche Hilfen geboten werden.

Als bestes Mittel, das Gedächtnis zu vervollkommnen, empfiehlt Quintilian Übung und Fleiß: „Viel lernen, viel denken und, wenns sein kann, täglich, das ist die Hauptsache“.

20. Die Phantasie.

1. Begriff der Phantasie. Wenn wir Schwabs Gedicht: „Das Gewitter" lesen, so taucht in unserer Seele das Bild einer engen Stube auf, in welcher die weiblichen Glieder einer Familie, das Kind, die Mutter, die Großmutter und Urahne versammelt sind. Dieses Bild entwirft sich unsere Seele unabhängig von äußeren Eindrücken mit Hilfe

ihres Vorstellungsmaterials. Diese Fähigkeit der Seele, sich Bilder von Personen, Ereignissen, Gegenständen 2c. auch ohne gegenwärtige Anschauung zu gestalten, nennen wir die Einbildungskraft (= Kraft, etwas innerlich zu bilden) oder, falls das logische Denken mitwirkt, die Phantasie.

Den Dichter veranlaßte zu seiner Dichtung der dürre Zeitungsbericht: „Am 28. Juni 1828 schlug der Blig in ein von zwei armen Familien bewohntes Haus der württembergischen Stadt Tuttlingen und tötete von 10 Bewohnern derselben 4 Personen weiblichen Geschlechts, Großmutter, Mutter, Tochter und Enkelin, die erstere 71, die lehtere 8 Jahre alt". Der Dichter reproduziert nun in seinem Gedichte den Vorgang, aber mit auffallenden Veränderungen. Zunächst hat er einiges weggelassen: Ort und Jahr des Ereignisses, die beiden Familien, die 10 Personen und das Alter der Getöteten. Dafür hat er manches hinzugethan: Das spielende Kind in seiner Unbefangenheit, die jugendliche Mutter, deren Herz noch der Lebensfreude offensteht, die den Ernst des Daseins erkennende und nüzlicher Thätigkeit hingegebene Großmutter und die febensmüde Urahne, die sich nach dem Tode sehnt. Die 4 Personen gehören einer Familie an, entfalten im Selbstgespräch ihren Charakter und sterben am Vorabend cines Fciertags.

So hat Schwab durch die Ausschaltung einiger Glieder der Zeitungsnotiz und Aufnahme neuer Züge der ursprünglichen Darstellung eine ganz veränderte Gestalt gegeben. Er läßt sich dabei von dem Gedanken leiten, daß der Tod kein Alter verschone, und diesem Zwecke entsprechend ändert er die Vorstellungen um und ordnet sie willkürlich jenem Gedanken unter. Die Fähigkeit der Seele, neue Kombinationen zu finden, nennt man die Phantasie im engeren Sinn. Da sie bereits erworbene Vorstellungen reproduziert und umändert, um sie zu einem neuen Ganzen zu vereinigen, bezeichnet man sie auch als die Fähigkeit der veränderten Reproduktion.

Das Verändern der Vorstellungen beruht auf der gegenseitigen Einwirkung der Vorstellungen. Wir wissen, daß infolge der Verwandtschaft oder Verschiedenheit ihrer Qualitäten die Vorstellungen einander fördern oder hemmen. In unserem Beispiele hatte der Zeitungsbericht, daß eine ganze Geschlechtsfolge vom Bliß erschlagen sei, in dem Dichter den Gedanken geweckt, daß der Tod kein Alter verschone. Dieser Gedanke ruft nun in ihm die Vorstellungen von den charakteristischen Eigenschaften jeder Altersperiode und von dem eigentümlichen Denken, Fühlen und Handeln in diesen Lebensstufen hervor. Da sich nun aber das Innere des Menschen durch die Rede offenbart, läßt der Dichter die einzelnen Personen durch Äußerungen jede Falte ihres Herzens öffnen, als sie sich auf den bevorstehenden Feiertag freuen. Um die Grundidee scharen sich also die verwandten Vorstellungen, während die ihr fremdartigen Vorstellungen, wie Ort und Zeit des Ereignisses 2c., gehemmt werden.

Auch erklärt sich das Verändern durch den Einfluß, den die neueintretenden Vorstellungen auf die älteren haben; die reproduzierten Vorstellungen treten in einen neuen Vorstellungskreis und werden dadurch umgebildet. So haben alle unsere Erinnerungen etwas von der ursprünglichen Wahrnehmung Abweichendes; der jeßige Vorstellungskreis trägt unwillkürlich neue Elemente in das Erinnerungsbild und scheidet alte aus. Das Bild entspricht nun nicht mehr der Wirklichkeit, sondern erscheint meist verflärt. Man denke an die poetische Gestalt, welche die früheste Geschichte aller Völker gewonnen, an das goldene Zeitalter der Menschheit, an den rosigen Schimmer, welcher die Tage der Kindheit umfließt. Wegen dieser verklärenden Kraft hat man auch der Phantasie das Epitheton golden beigelegt.

Das hervorstechendste Merkmal der Schöpfungen der Phantasie ist die Neuheit; denn ihre Gebilde sind nicht bloß Kopien, wie die Vorstellungen solche von den Dingen sind, die wir sinnlich wahrnehmen, sondern Originale. Doch ist nur das Gesamtbild neu, die einzelnen Elemente desselben sind alt und wohlbekannt, weil die Phantasie sie dem vorhandenen Vorstellungskreise entnehmen muß und keinen absolut neuen Stoff (Farbe, Ton 2c.) zu erzeugen vermag. Dies bezeichnet man als die Gebundenheit der Phantasie. Wohl aber vermag sie eine reiche schöpferische Thätigkeit zu entfalten hinsichtlich der Verbindung jener Elemente; denn die neuen Kombinationen werden der Seele nicht aufgenötigt, sondern sie schafft sie frei aus sich heraus. Deshalb spricht man von der Freiheit der Phantasie.*) Damit aber diese Freiheit nicht zur Zügellosigkeit werde und nicht in planlosem Schweifen ins Maßlose, Überschwengliche und Unnatürliche schieße, muß sie vom Verstande diszipliniert werden, der ihr Walten durch Maß und Regel ordnet, ihre Schöpfungen vor der Abirrung von der Wirklichkeit bewahrt und ihnen Klarheit, Bestimmtheit und logische Folge giebt.

Je nach den Vorstellungskreisen, denen die Phantasie das Material zu ihren Gestaltungen entnimmt, können die Gebilde sehr verschieden sein: eine neue Idee, ein Gedicht, eine Melodie, cin Gemälde, eine Maschine 2c. Man spricht daher von einer philosophischen und künstlerischen (dichterischen, musikalischen 2c.) Phantasie. Bei diesen Bildungen ordnet die Phantasie das Spiel der Vorstellungen dem Zwecke des Gedankens absichtlich unter, indem sie logischen und ästhetischen Weisungen folgt. Man nennt sie daher die willkürliche Phantasie. Der Denker, der ein neues Gedankensystem entwirft, der Dichter, der ein neues Gedicht schafft, der Politiker, der eine neue Gesellschaftsordnung aufstellt, der Zeichner, der ein neues Muster erfindet sie alle geben Zeugnis von der erfindenden Thätigkeit der willkürlichen Phantasie. Willkürliches

*) Schiller: Mich hält kein Band, mich fesselt keine Schranke,

Frei schwing' ich mich durch alle Räume sort. (Huldigung der Künste.)

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