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ruft, wie Strafen, Tadel, Beschämung 2c., muß möglichst vermieden werden, da sich sonst die Reproduktion nur auf den engen Kreis von Vorstellungen beschränkt, die mit der Gemütsdepression in ursächlichem Zusammenhange stehen. Auch darf der Lehrer durch vorzeitiges Berichtigen den beginnenden Fluß der Reproduktion nicht hemmen. Da durch Ermüdung des Gehirns und Nervensystems die Reproduktion erschwert wird, so ist für frische Luft in der Schulstubc, für Bewegung im Freien, wie für angemessenen Wechsel zwischen Arbeit und Erholung zu sorgen.

Die Jugend zeichnet sich durch frische, lebendige Reproduktionsthätigkeit aus, doch mit zunehmendem Alter schwindet allmählich die Reproduktionsfähigkeit, weil die Aufnahme der neuen Eindrücke ohne jenes innere Interesse, welches die kräftige Erfassung der Vorstellungen charakterisiert, geschieht. Dagegen kehren die Erinnerungen aus längst vergangener Zeit mit erstaunlicher Lebhaftigkeit und Treue wieder. Dies erklärt sich daraus, daß die im Laufe der Jahre schon oft reproduzierten Jugenderinnerungen die größte Festigkeit erlangt haben und in den Tagen des Alters durch mangelnden neuen Erwerb nicht verdrängt werden. Mit dieser Erscheinung steht die Thatsache im Zusammenhang, daß von allen Vorstellungsverbindungen, mit denen wir zu operieren pflegen, etwa 70% aus der Jugendzeit stammen.

18. Die Vorstellungsreihe.*)

1. Entstehung und Wesen der Reihe. Der Jüngling in Schillers „Taucher“ erzählt dem Könige, was er in der Charybde wahr= genommen hat, nämlich ein Felsenriff, an dem er sich festhielt und an dessen Korallen er den Becher hängen sah, darunter die unergründliche Tiefe, in ihr Rochen, Klippen-, Hammer- und Haifische, dann ein nach ihm schnappendes Ungeheuer 2c. Seine Mitteilung erfolgt ganz in der Aufeinanderfolge seiner Wahrnehmungen. Unzählige Reihen bilden sich auch in uns durch die Wahrnehmungsthätigkeit; wir vermögen in Reihenfolge die Berge anzugeben, die wir von unserer Wohnung aus schen, die Orte, die wir auf einer Reise besucht haben, die einzelnen Handlungen, die wir bei Verrichtung einer Arbeit vornehmen. Alle diese Reihen entstehen durch die äußere Wahrnehmung, und zwar stellen sich die aufeinanderfolgenden Eindrücke, da alle Seelenthätigkeit successiv verläuft, ganz von selbst in die Reihenform. Solche Reihen sind demnach Wahrnehmungsreihen oder naturwüchsige Reihen.

*) Vgl. meine Vorstellungsreihe. Meißen, 1888, bei Schlimpert.

Wenn wir dagegen die Töne der C-Dur-Skala oder die Reihe der Jahreszeiten oder die symbolischen Schriften unserer Kirche nach der Zeit ihrer Entstehung angeben sollen, so tritt ein absichtliches Ordnen und Klassifizieren der einzelnen Vorstellungen oder Reihenglieder ein. Dann findet wirklich eine Reihenbildung statt. Bei der absichtlichen Reihe schwebt dann über den einzelnen Gliedern als einigendes Band cine Allgemeinvorstellung, und die einzelnen Vorstellungen sind so angeordnet, daß jedes Glied cine feste Stelle zwischen zwei anderen Gliedern hat. So gehört in der Reihe der Jahreszeiten der Herbst stets zwischen Sommer und Winter, in der Tonreihe der Ton f stets zwischen e und g, in der Zahlenreihe die Zahlvorstellung 5 immer zwischen 4 und 6. Es folgen demnach in der Reihenform ein für allemal die einzelnen Vorstellungen in bestimmter Ordnung aufeinander. Eine Reihe im engeren Sinne ist mithin cine nach einem bestimmten Gesetz fort= schreitende Folge gleichartiger Vorstellungen, wobei jede Vorstellung eine bestimmte Stelle in dieser Aufeinanderfolge einnimmt.

Diese strenge Bindung der Glieder ergiebt sich daraus, daß die einzelnen Reihenglieder gleichzeitig im Bewußtsein waren. Nehmen wir die Reihe der sächsischen Kaiser, so treten die fünf Vorstellungen, die wir mit a, b, c, d, e bezeichnen wollen, successiv ins Bewußtsein. Indem nun a (Heinrich I.) und b (Otto I.) beim Ablauf der Reihe unmittelbar aufeinanderfolgen, so sind sie für einen Augenblick gleichzeitig im Bewußtsein, sodaß der Endzeitpunkt von a mit dem Anfangszeitpunkt von b zusammenfällt, wobei die Vorstellung a durch das Eintreten von b eine Hemmung erleidet, welche ihre Stärke bis auf a' herabdrückt. Es verschmilzt demnach nicht die volle Intensität von a, sondern nur der Klarheitsrest a' mit der vollen Intensität von b. Diese Verschmelzung erfährt dieselbe Hemmung, sobald e (Otto II.) ins Bewußtsein tritt; b verbindet sich nur mit dem verminderten Klarheitsgrade b' mit c, während a noch tiefer sinkt und mit dem noch geringeren Reste a" mit e verschmilzt. In gleicher Weise vereinigen sich die nun noch folgenden Reihenglieder d und e mit den immer mehr der Verdunkelung anheimfallenden vorhergehenden Gliedern, sodaß wir die genannte Reihe schematisch so darstellen können:

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Durch die regelmäßige Abstufung der Klarheitsreste, die miteinander verschmelzen, sind die Reihenglieder so innig zusammengekettet, daß sie miteinander fest zusammenhängen und auch das Endglied noch an das Anfangsglied angeschlossen ist. Die Festigkeit der Reihe ruht namentlich auf der Stärke des ersten Gliedes; je klarer dasselbe ist, desto größer und daher verbindungskräftiger werden die Reste, sodaß alle Glieder wie in festgehefteter Form in der Seele liegen und jederzeit in derselben Ordnung wieder in die Region des Bewußtseins eintreten können.

2. Ablauf der Reihe. Gewöhnlich laufen die Reihen in derselben Richtung ab, wie sie vom Geiste gebildet wurden. Die Sicherheit und Geläufigkeit der Reproduktion hängt nun ab von der strengen Bindung der Glieder und der wiederholten Erneuerung der Reihe; je inniger sich die Glieder aneinander geschlossen haben und je häufiger die Reihe wiederholt wird, desto geordneter und schneller entfaltet sie sich. Die günstigste Bedingung für den sicheren Ablauf liegt in der Kürze der Reihe, da bei kurzen Reihen das Anfangsglied alle anderen durchdringt und selbst mit dem Endgliede noch verbunden ist, sodaß die Reihe überschaut werden fann. Bei zu langgestreckten Reihen werden die Reste von a immer fleiner; bei zu vielen Gliedern wird a sogar bis zur Bewußtlosigkeit verdunkelt und so die Grenze der Übersichtlichkeit überschritten.

Bei der Reproduktion der Reihen walten nun folgende Geseze ob:

a. Gelernte Gedichte, Fürstenreihen, Zahlenreihen, Melodien reproduzieren wir vom Anfangsgliede zum Schlußgliede. Diese Art der Reproduktion nennt man Evolution. Die Entstehung der Reihe hat nun gezeigt, daß das erste Glied am meisten der Verdunkelung anheimfällt und jedes folgende Glied einen höheren Klarheitswert besigt. Daraus erklärt es sich, daß es den Kindern, wenn sie eine Reihe evolvieren wollen, bisweilen schwer wird, den Anfang anzugeben. Haben sie aber das erste Glied glücklich über die Schwelle des Bewußtseins gehoben, so folgt bald das stärkere zweite Glied, dann noch schneller das hellere dritte Glied, und so gewinnt der Ablauf bis zum Endgliede an Sicherheit. Bei der Evolution läuft demnach die Reihe in zunehmender Klarheit ab. Wenn man sein Leben überblickt, erscheinen die jüngsten Wochen und Tage im hellsien Lichte, und wenn man Geschichtsperioden rekapituliert, tauchen die näheren Zeiträume in steigender Helligkeit auf.

b) Wenn man die Schüler eine Regentenreihe oder Zahlenreihe in umgekehrter Ordnung ansagen läßt, so wird die Reihe vom Endgliede zum Anfangsgliede hin erneuert. Dieser Ablauf heißt Involution. Wir treffen dann auf immer dunklere Vorstellungen, die mit ihren ab

gestuften Klarheitsgraden (e, d', c", b", a"") mit dem Endgliede e zu einer Gesamtvorstellung verschmolzen sind. Die Reihenglieder werden dann gleichzeitig (simultan) reproduziert und ballen sich gleichsam zu einem Knäuel zusammen, sodaß es uns schwer wird, jeder Vorstellung den ihr gehörigen Plaz anzuweisen, weshalb die Entfaltung der Reihe mehr Zeit beansprucht. Bei der Involution läuft demnach die Reihe in abgestufter Klarheit ab. Darum kostet es dem Kinde Mühe, z. B. bie neutestamentlichen Bücher in umgekehrter Reihenfolge anzugeben. Wenn wir beim Überblick unserer Lebensschicksale mit dem gegenwärtigen Augenblick, dem Endpunkte dieser kontinuierlichen Reihe, beginnen, finden wir, daß nur die jüngsten Elemente dieser Reihe in größter Klarheit Inhalt unseres Gedächtnisses sind; je weiter wir nach rückwärts gehen, desto rascher schrumpft die Reihe zusammen, und nur besonders bedeutsame Erinnerungsthatsachen ragen wie Marksteine aus dem sonst unklaren Gemisch von Reminiscenzen empor. Die Involution gelingt nur bei ganz kurzen Reihen und bei Übung oder Neubildung der Reihen. Bei Gedichten 2c. ist sie ganz unmöglich, da sich dann keine logische Anreihung der Gedanken ergeben würde.

2.

7 =

c. Man kann die Reproduktion auch mit einem mittleren Gliede beginnen, z. B. wenn das Kind beim Ansagen des Einmaleins mit 3. 7 anfangen soll. Dann heben sich sofort die beiden ersten Glieder (1.7—7, 14) ins Bewußtsein, und darauf erst laufen die nachfolgenden Glieder mit zunchmender Klarheit ab. Das Mittelglied wirkt also bezüglich der vorhergehenden Glieder als Endglied und reproduziert sie gleichzeitig, bezüglich der nachfolgenden Glieder als Anfangsglied und reproduziert sie reihenweise. Wir haben demnach hier die Wirkung beider Gesetze der Reihenreproduktion.

d. Bisweilen kommt es vor, daß sich mehrere Reihen in einem gemeinschaftlichen Mittelgliede durchkreuzen, z. B.

m

n

a b c d e f g

Р q

Dann ist leicht ein Überspringen aus einer Reihe in die andere möglich, besonders wenn die Vorstellung der Hauptreihe, die den Kreuzungs- und Identitätspunkt beider Reihen bildet, mit der nächsten Vorstellung der Nebenreihe inniger verknüpft ist. Kinder recitieren oft den Spruch: „Ich bin die Auferstehung und das Leben; niemand kommt

zum Vater denn durch mich." Sie geraten beim Hersagen aus Ioh. 11, 25 nach Joh. 14, 6. Beiden Sprüchen ist die Vorstellung „das Leben“ gemeinsam, und dieses gemeinschaftliche Reihenglied verursacht, daß die Kinder aus dem einen Spruch in den andern einbiegen. So geraten sie auch oft aus dem 3. ins 4. Gebot, aus dem 7. ins 9. Gebot, aus dem 1. Artikel in die 4. Bitte. Auch „raten“ sie oft beim Lesen, wenn sie auf ein Wort stoßen, das sie nicht lesen können und das zuleht gelesene Wort einer ihnen geläufigen Reihe angehört. Besonders findet dieses Ausgleiten aus der Reihe statt, wenn die Reproduktion mechanisch verläuft und nicht vom Verstand und Willen dirigiert wird, wie auch oft Erzähler aus einer Erzählung in die andere überspringen und Erwachsene in der Unterhaltung in verschiedene Seitenreihen geraten, bis sie schließlich in ein den Anfangspunkten der Unterhaltung ganz disparates Vorstellungsgebiet gelenkt werden.

3. Arten und Verbindung der Reihen. Infolge der fortschreitenden Bildung und Erfahrung bilden sich in unserer Seele nach allen Richtungen hin Reihen, die nicht nur eine mannigfache Gestaltung annehmen, sondern sich auch untereinander vielfach verflechten und verbinden. Schon wenn qualitativ unterschiedene Empfindungen in gleichmäßiger Folge sich wiederholen, ordnen sich die Vorstellungen nach dem wachsenden Gegensage in der Weise, daß die am meisten entgegengesezten Vorstellungen am entferntesten voneinander zu liegen kommen. Es entstehen in dieser Weise Farbenreihen, wie rot, orange, gelb, grün, blau, indigo, violett, und Tonreihen aus den nach Höhe und Tiefe fortschreitenden Tönen. Vorstellungen von Ereignissen, mit denen sich zugleich das Bewußtsein verbindet, daß je eine Vorstellung zwischen einer früheren und späteren sich befindet, ergeben Zeitreihen, z. B. die chronologischen Reihen der Geschichte. Aus der Zeitreihe entsteht, wenn die einzelnen Glieder sich als gleich erweisen, die Zahlenreihe; die Zahlennamen sind dann Zeichen sowohl für die Stelle des einzelnen Gliedes in der Reihe, als auch für die Anzahl der insgesamt und gleichzeitig rückwärts zu überblickenden Glieder. Aus Gesichts- und Tastempfindungen in Verbindung mit den entsprechenden Muskelempfindungen bildet sich die Raumreihe, indem eine Vorstellung, z. B. bei der Linie, nach zwei entgegengesezten Richtungen fortschreitet und sämtliche Glieder dieser Reihe zugleich also nicht die cine vor, die andere nach einer bestimmten Vorstellung wie bei der Zeitreihe ins Bewußtsein treten. Die klarsten und durchsichtigsten Reihen sind die logischen Reihen, wie sie bei Gliederung von Gedichten („Belsazar”

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