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Nervensystem die Aufgabe, uns mit der Außenwelt zu verbinden und uns Kenntnis von den Vorgängen in derselben zu geben, anderseits nach diesen Erscheinungen der Außenwelt die Thätigkeit des Körpers zu regeln. Diesen beiden Grundthätigkeiten entsprechen die beiden physiologischen Grundfunktionen, die Empfindung und Bewegung. Die Nerven vermitteln daher 1. die Empfindung, 2. die Bewegung, bringen 3. beide zum Bewußtsein und werden dadurch die Grundlage der Geistesbildung.

2. Entstehung und Wesen der Empfindung. Die erste Äußerung des sich entwickelnden Seelenlebens ist die Empfindung. Ihre Entstehung durchläuft 3 Stadien:

1. Wir können beobachten, wie schon in den ersten Wochen das Kind sich dem hellen Fenster zuwendet und wie es erschrickt, wenn die Thüre heftig zugemacht wird. Es nimmt also Eindrücke von der Außenwelt auf, und zwar haben im ersten Falle Ätherschwingungen sein Auge ge= troffen und auf der Nezhaut Bewegungen hervorgerufen, im anderen sind Schallwellen in sein Ohr gedrungen und haben den Gehörnerv erregt. Durch äußere physikalische Vorgänge werden demnach die Sinnesnerven zu einer ihrem Wesen und Zweck entsprechenden Thätigkeit veranlaßt. Den erregenden Einfluß, den jene physischen Bewegungen bei ihrem Anschlag auf den empfindlichen Sinnesnerven ausüben, nennt man den Sinnesreiz oder Empfindungsreiz, den man, wenn er von einem Vorgange der Außenwelt herrührt, als physikalischen Impuls, wenn er aber von einem Vorgange in unserem Körper ausgeht, als physiologischen Reiz bezeichnet. Der physikalische Impuls, bez. physiologische Reiz ist das erste Erfordernis zum Zustandekommen einer Empfindung.

2. Jede sensitive Nervenfaser hat nun 2 Enden, ein äußeres oder peripherisches in der Nähe der Körperoberfläche und ein inneres oder centrales, welches ins Gehirn mündet. Das peripherische Ende ist mit einem künstlichen Apparate (Auge, Ohr 2c.) versehen, sodaß der sensitive Nerv nicht zu Tage liegt. Wird nun auf das peripherische Ende ein von außen kommender Reiz ausgeübt, so wird im Nerven eine Erregung hervorgerufen, die sich nun durch die ganze Nervenfaser bis zum Gehirn fortpflanzt. Der physikalische Impuls hat demnach einen physiologischen Erregungszustand hervorgerufen, welcher das zweite Erfordernis zur Entstehung einer Empfindung ist.

3. Hat nun die Überleitung der durch den Reiz verursachten Nervenerregung zum Gehirn stattgefunden, so wird der Bewegungsvorgang im

Gehirn in einen psychologischen Bewußtseinsakt umgeseßt. Die Seele erhält durch den ihr zugeführten Reiz die Anregung, selbstthätig zu sein und in Form einer Empfindung zu antworten. Wie nun aus der in den Nerven sich vollziehenden Erregung eine bewußte Empfindung entstehen kann, ist uns unerklärlich, auch wird diese Umwandlung eines physikalischen Reizes in einen psychischen Vorgang uns immer ein Geheimnis bleiben: denn ins Innere der Natur dringt kein erschaffner Geist". Dabei bleibt der Seele die eigene Thätigkeit, mit welcher sie auf den Hirnreiz reagiert, unbewußt, nur das Ergebnis dieses Thuns fällt ins Bewußtsein.

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Die Empfindung ist demnach die Aufnahme eines Sinnenreizes in die Seele (Perception). Dabei fommt jedoch kein Bestandteil der Außenwelt in die Seele; denn die Empfindung hat mit der Qualität der Dinge nichts gemein, sondern in ihr ist eben nur eine Veränderung des Zustandes, ein Befinden der Seele infolge einer äußeren Veranlassung, wie schon ihr Name anzeigt, enthalten. Nicht weiß dabei die Seele, woher die Empfindung kommt und was sie veranlasst hat.

4. Bei der Entstehung einer Empfindung verhält sich die Seele zunächst abwartend; sie muß eben abwarten, bis eine Wirkung auf sie ausgeht von irgend einem Gegenstande, der entweder unmittelbar den Körper berührt, oder durch Bewegung eines dazwischen liegenden Stoffes auf sie einwirkt. Selbst durch Anstrengung kann sie die Annäherung der Reize nicht beschleunigen. Sie kann von selbst keine Empfindung erzeugen, sondern ist ganz an die Reize der Außenwelt gebunden. Man kann daher auch durch bloße Beschreibung keine Empfindungen in andern hervorrufen: rot läßt sich eben nicht beschreiben, man kann diese Empfindung nur durch Sehen gewinnen. Sodann verhält sich die Seele mitarbeitend, indem sie durch den Reiz von außen veranlaßt wird, aus ihrer eigenen Natur die Empfindung zu erzeugen. Denn wenn sie dabei auch an die Nerventhätigkeit gebunden ist, sodaß, wo feine Nerven sind, auch keine Empfindung entsteht und bei gleicher Erregung der Nervenfasern immer und unausbleiblich dieselben Empfindungen folgen, so ist doch die Empfindung das eigene Werk der Seele, eine rein innere Thätigkeit, die weder mit dem physikalischen Vorgang, noch mit dem physiologischen Prozeß etwas gemein hat.

5. Man unterscheidet zwei Hauptarten der Empfindungen, die Sinnesempfindungen und die Körperempfindungen. Jene entstehen durch äußere Reize, die die peripherisch in besonderen Apparaten endigenden Sinnesnerven treffen. Die Körperempfindungen, die uns die Zustände des eigenen Körpers zum Bewußtsein bringen, werden durch

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Nerven vermittelt, die im ganzen Organismus verbreitet sind und durch körperliche Vorgänge gereizt werden. Zu ihnen gehören namentlich das Gemeingefühl und das Muskelgefühl.

Anm. Das Riesengebiet der Sinnesempfindungen ist in bedeutsamer Weise von der physiologischen Psychologie ausgebaut worden. Sie betrachtet die psychischen Erscheinungen im Zusammenhang mit bestimmten körperlichen Vorgängen und weist nach, daß für eine Reihe psychischer Vorgänge materielle Parallelvorgänge existieren und daß zu bestimmten Zuständen der Seele immer bestimmte Vorgänge im Gehirn gehören, sodaß diese nicht ohne jene und jene nicht ohne diese vorkommen. Die Thatsache, daß psychologischen Geschehnissen durchgängig physiologische Vorgänge in der Großhirnrinde entsprechen, nennt man den psychophysischen Parallelismus.*) Daß mit gewissen physiologischen Zustandsänderungen stets auch solche seelischer Natur gegeben sind, offenbart sich am meisten bei den Empfindungen.

Zu ihren Forschungen bedient sich die physiologische Psychologie des Experiments. Die experimentelle Methode besteht darin, daß man absichtlich und planmäßig seelische Prozesse hervorruft, um ihren Ablauf zu beobachten. Sie stellt die Bedingungen für die Entstehung psychischer Vorgänge her und wiederholt die Versuche unter veränderten Bedingungen oder nimmt sie mit mehreren Personen vor. Durch zahlreiche Versuche hat die physiologische Psychologie tiefer in die psychophysische Wunderwelt eingeführt und ist zum wertvollen Bundesgenossen der Psychologie geworden.

3. Die Eigenschaften der Empfindung.

a. Der Inhalt (Qualität) der Empfindung. Wenn wir lesen, sehen wir das weiße Papier und die schwarzen Buchstaben, wir hören beim Umwenden eines Blattes ein Geräusch und fühlen zugleich die Glätte des Papiers. Wir haben demnach Gesichts-, Gehörs- und Tastempfindungen, die wir, da jede Art derselben charakteristische Eigenschaften oder Qualitäten an sich hat, bestimmt voneinander unterscheiden können. Diese qualitative Bestimmtheit jeder Empfindung macht den Inhalt, das Was der Empfindung aus. Einen gänzlich anders gearteten Inhalt haben die Empfindungen der verschiedenen Sinne: die grüne Farbe hat nichts gemein mit dem Tone c, beide Empfindungen sind wieder total verschieden von dem süßen Geschmack. Die Empfindungen der verschiedenen Sinne sind daher unvergleichbar, disparat. Aber auch die Empfindungen, welche demselben Sinnesgebiete entstammen, wie Farben, Töne 2c., zeigen innerhalb des Gleichen verschiedene Qualitäten, wodurch sie eben für uns unterscheidbar werden. So unterscheiden wir die verschiedenen Farben und von jeder derselben besondere Nuancierungen. Es wird z. B. die Zahl der Farbenunterschiede an den *) Ziehen, Leitfaden zur physiologischen Psychologie S. 1 250 ff.

römischen Mosaiken auf 30,000 geschäßt. Mit dem Ohre percipieren wir deutlich 10 Oktaven, welche mit Einrechnung der halben und Vierteltöne 280 Tonqualitäten ergeben. Selbst die verschiedene Klangfarbe entgeht uns nicht, da wir genau den Ton eines Klaviers, einer Violine, Orgel oder Glocke als solchen empfinden. Die demselben Sinnesgebiete angehörenden Empfindungen nennen wir, da sie innerhalb des Gleichen abgestufte Grade des Gegensazes aufweisen (Tonleiter, Farbenskala 2c.), entgegengeseßte oder konträre Empfindungen.

Eigentümlich ist nun den Sinnen, daß sie nur bestimmten Reizen zugänglich sind; der Schnerv hat nur Empfindlichkeit für Licht, der Hörnerv antwortet nur auf Schallreize 2c. Jeder Sinn ist daher der Vermittler einer eigenartigen Empfindung und redet gleichsam seine eigene Sprache. Die Sinne können weder diese ihre Wirkungsweise austauschen, noch für einander vikarieren; darum kann man dem Blindgeborenen keine Farbenempfindungen, dem Tauben keine Tonempfindungen beibringen. Doch ist bei dem Mangel eines Sinnes ein gewisser Ersat dadurch geboten, daß alsdann die Thätigkeit der anderen Sinne sich verschärft, wie z. B. bei dem Blinden die mangelnde Gesichtsthätigkeit durch stärkere Ausbildung des Gehörs- und Tastsinns in etwas ersetzt wird. Daß jeder Sinn seinen ihm eigenthümlichen Qualitätenkreis hat, erkennt man auch daraus, daß die sogenannten allgemeinen Sinnesreize, welche von jedem Sinnesorgane Empfindungen auslösen, von jedem Sinne in die ihm entsprechende Reaktionsform umgesetzt werden. So wird der elektrische Strom vom Auge als Funke gesehen, vom Ohr als Knistern gehört, von der Zunge als sauer geschmeckt, von der Nase als Ozon gerochen, vom Getast als Stoß oder Zuckung oder schmerzhaftes Wärmegefühl percipiert. Diese jedem Sinnesapparate innewohnende Kraft, auf die Reize von außen beharrlich seine ihm eigentümlichen Leistungen zu vollbringen, nennt man nach Joh. Müllers Vorgang die spezifische Sinnesenergie.

b. Die Stärke (Intensität) der Empfindung. Fällt in unser Auge das Licht einer Wachskerze, einer Gasflamme und eines elektrischen Bogenlichts, oder trifft unser Ohr der Ton einer Hausklingel, einer Anstalts- oder einer Kirchenglocke, so machen sich verschiedene Gradabstufungen der Licht- und Schallempfindungen in unserem Bewußtsein geltend. Diese quantitative Bestimmtheit einer Empfindung nennt man die Stärke oder Intensität der Empfindung. Helles Sonnenlicht ruft eine kräftigere Empfindung hervor als das milde Licht des Mondes, eine Berührung mit der Hand wird weniger stark empfunden als ein wuchtiger Schlag. Die Intensität der Empfindung nimmt daher mit der sie verursachenden Reizstärke zu oder ab.

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Jeder Reiz muß schon einen bestimmten Stärkegrad besißen, um eine bewußte Empfindung zu vermitteln. Leise gesprochene Worte, zu kleine oder matte Schrift können wir nicht klar percipieren. Das Minimum der Stärke, welches erreicht sein muß, wenn überhaupt eine flare Empfindung zustande kommen soll, nennt man die Reizschwelle. Unterhalb derselben wird der Reiz nicht empfunden. Andererseits zeigt die Erfahrung, daß die Empfindung bei zu starkem Reize keiner Zunahme mehr fähig ist. Die Maximal grenze bezeichnet man als Reizhöhe. Wird diese Grenze überschritten, so tritt in den Nervenfasern Schmerz oder Abstumpfung ein; zu starkes Licht blendet, zu grelle Töne thun dem Ohre weh, zu starke Hize- oder Kältegrade fließen in ein unterschiedloses Gemeingefühl zusammen. Der Grund dieser beiden Grenzen liegt in der Organisation der Nerven, die einerseits eines bestimmten Erregungsgrades bedürfen, um funktionieren zu können, anderseits aber nur eine ihrer feinen Struktur angemessene Erregungsstärke zu ertragen vermögen und nach Erreichung des Höhepunktes ermüden.

Zwischen Reizschwelle und Reizhöhe liegt nun das weite Gebiet unserer Empfindung, der Reizumfang. Die Reizschwelle ist nicht fest; ihre Lage wechselt je nach geistiger Frische und der Empfindlichkeit des Nervensystems. Für den Aufmerksamen liegt sie niedrig; bei ihm ruft schon ein schwacher Reiz eine Empfindung hervor. Personen mit fein entwickeltem Geruchs- und Geschmackssinn riechen und schmecken vieles, was andern gar nicht zur Wahrnehmung kommt. Bei nervöjen Personen, deren Nerversystem an übermäßig gesteigerter Empfindlichkeit leidet, können schon schwache Reize verhältnismäßig starke Empfindungen auslösen. Bei dem Zerstreuten liegt die Schwelle hoch, sodaß er manches nicht sieht, hört und fühlt; am Tage hören wir, da unsere Aufmerksamkeit durch unsere Beschäftigung in Anspruch genommen wird, manche Geräusche gar nicht, die in der Stille der Nacht vernommen werden. Sehr hoch liegt sie während des Schlafes, bei welchem selbst starke Reize (Donner, Feuerlärm) an uns spurlos vorübergehen können, und in tiefster Ohnmacht genügen bisweilen selbst die allerstärksten Reize nicht mehr, um Empfindungen auszulösen. Auch die Reizhöhe, die obere Grenze der Empfindlichkeit, ist sehr verschieden. Manche Menschen können sehr starke Reize vertragen (sie haben Nerven wie Dreierstricke), bei nervösen Naturen wird die Reizhöhe dagegen schneller erreicht. Auch bei den einzelnen Sinnesorganen hat die Reizhöhe eine andere Lage, das Auge erreicht sie schneller als das Ohr und die Haut.

Für unser seelisches Leben ist diese Minimal- und Maximalgrenze der Empfindung von großer Wichtigkeit. Indem von der großen Flut von Reizen, welche sich durch sämtliche Sinne beständig über unsere Seele ergießen und denen wir uns nicht entziehen können, die meisten an uns vorübergehen, ohne daß sie bei ihrem geringen Schwellenwert uns bewußt werden, bleibt unsere Seele mehr in Ruhe und kann sich mehr den bewußten Empfindungen hingeben. Die Einrichtung aber, daß die Empfindungsstärke sich nicht ins Unendliche steigern kann, bewahrt

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