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wirklicher Besiz der Seele und können von der Phantasie und dem Denken als Bausteine für andere und höhere Vorstellungen verwendet werden. Undeutliche Vorstellungen gehen übrigens bald wieder verloren.

15. Die Bewegung der Vorstellungen.

1. Das Sinken und Steigen der Vorstellungen.

Jeder von uns trägt die Vorstellung seines Geburtsortes in sich, ohne ihn jezt eben sich wirklich vorzustellen. In dem Augenblicke, in welchem wir ihn uns wirklich vorstellen, sind wir sein bewußt, in der Zeit aber, in welcher sich mit dieser Vorstellung nicht die Thätigkeit des Vorstellens verbindet, ist er uns unbewußt. Immer wenn Vorstellungen wirklich vorgestellt werden, ist Bewußtsein vorhanden; denn dasselbe ist eben nichts anderes als der Ausdruck für das Stattfinden der Vorstellungsthätigkeit. Die Summe der Vorstellungen, welche augenblicklich klar vor der Seele stehen, macht den Inhalt des Bewußtseins aus. Der natürliche und ursprüngliche Zustand jeder Vorstellung ist nun, daß sie bewußt erscheint; doch ist das Vorstellen eine Thätigkeit, die der Verminderung fähig ist. Die Erfahrung zeigt uns, daß eine Vorstellung, nachdem sie cine Zeit lang im Lichte des Bewußtseins gestanden hat, allmählich an Klarheit abnimmt und endlich unbewußt wird, während eine andere Vorstellung sich ins Bewußtsein hebt. Diese fortgehende Veränderung des Helligkeitsgrades der Vorstellungen heißt ihre Bewegung, die Grenze, wo die Intensität einer Vorstellung gleich Null ist, die Schwelle des Bewußtseins.

Dieses Auftauchen im Bewußtsein und Schwinden aus demselben vollzieht sich gewöhnlich langsam. Nicht plößlich wird die Vorstellung aus heller Beleuchtung in nächtliches Dunkel gehüllt und umgekehrt, sondern wie durch eine allmählich abnehmende Dämmerung tritt sie nach und nach in das Licht des Bewußtseins, und allmählich sich abschwächend gleitet sie wie durch ein Halbdunkel in die Nacht des Unbewußtseins. Diese stetige Veränderung des bewußten und unbewußten Zustandes läßt die Vorstellungen als sinkend und steigend erscheinen; man nennt daher das Schwinden aus dem Bewußtsein das Sinken, die Rückkehr ins Bewußtsein das Steigen der Vorstellung. Das Sinken der Vorstellung merken wir nicht; denn wenn wir darauf achten würden, würde eben dieser Vorgang aufgehoben und die Vorstellung im Bewußtsein beharren. Auch die unbewußte Fortdauer derselben können wir nicht wahrnehmen, weil wir ihrer ja nicht bewußt sind, aber das Wiederauftreten der Vorstellung zeigt, daß sie nicht verloren gegangen ist. Sie versinkt

nicht ins reine Nichts, sondern nur aus der Wirklichkeit des Vorstellens in die Möglichkeit, vorgestellt zu werden.

Die beständige Bewegung der Vorstellungen, ihr stetes Kommen und Gehen nennt man auch den Vorstellungslauf. Dieser kann nun verschiedenen Rhythmus haben. Bald stürmen die Vorstellungen in schnellem Tempo durch das Feld des Bewußtseins, bald entschweben sie demselben im trägen Laufe. Beim Sanguiniker rauschen die Vorstellungen flüchtig vorüber, beim Phlegmatiker durchschweben sie langsam das Bewußtsein. Dies Tempo des Vorstellungsverlaufs drückt der Persönlichkeit einen charakteristischen Zug auf. Eine schnellere Aufeinanderfolge ist das Zeichen innerer Regsamkeit und Lebendigkeit, ein träger Vorstellungslauf bekundet geistige Schwerfälligkeit. Zustände der Erregung (Affekte) führen cine außergewöhnliche Beschleunigung oder Verlangsamung des Vorstellungslaufs herbei. Im Augenblicke des Zorns wechseln die Vorstellungen schnell und ungestüm, gerade wie das erregte Meer Gegenstände bald in den Wellen vergräbt, bald über die Fluten emporhebt. In den Zuständen der Angst und der Verlegenheit stockt der Vorstellungslauf. Wenn nun keine außerordentliche Beschleunigung oder Verlangsamung stattfindet, so sagt man wohl, das Vorstellungsleben sei im Gleichgewicht, in Ruhe. Thatsächlich findet aber in der Seele niemals absoluter Stillstand statt, sie gleicht vielmehr in ihrer rastlosen Bewegung, in ihrem beständigen Hin- und Herfluten der Vorstellungen der See, mit der auch ihr Name etymologisch zusammenhängt. Nur unser Wille hat die Kraft, diesem unaufhörlichen Wechsel auf Augenblicke Halt zu gebieten und eine Zeit lang eine Vorstellung unverrückt im Bewußtsein festzuhalten und die fremdartigen unter die Schwelle des Bewußtseins zu bannen, wie wir dies im Zustande der Aufmerksamkeit sehen. Ohne das Steuer des Willens dagegen wogen die Vorstellungen wie eine seelische Flut und Ebbe auf und ab, sodaß wir z. B. im Zustande träumenden Sinnens, bei Unaufmerksamkeit, beim Einschlafen 2c. dem Spiele der auf- und absteigenden Vorstellungen preisgegeben sind.

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2. Enge des Bewußtseins. Das Altertum kannte das Wort Bewußtsein (conscientia) meist nur im ethischen Sinne, z. B. sich einer Schuld bewußt sein, wie wir heute noch sagen: er hat es mit Bewußtsein absichtlich gethan. Später faßte man das Wort gleichbedeutend mit Wissen. In die Psychologie hat es Wolff eingeführt, der es als die erste, einfachste und erheblichste Eigenschaft der Seele annahm. Im weiteren Sinne versteht man unter Bewußtsein den Zustand der Seele, in welchem sie zu normaler Thätigkeit fähig ist, und bezeichnet deshalb denjenigen Zustand, in welchem die seelische Thätigkeit aufgehoben scheint,

z. B. wenn peripherische Reize nicht mehr psychische Vorgänge auszulösen vermögen, als Bewußtlosigkeit. Im engeren Sinne ist Bewußtsein der Inbegriff der Vorstellungen, deren Teile abwechselnd mit zweifelloser Bestimmtheit ihres Inhalts jeweilig vorgestellt werden.

Die Selbstbeobachtung zeigt uns nun, daß der Kreis der Vorstellungen, die uns in einem und demselben Zeitpunkte klar sind, ein sehr eng begrenzter ist. Es findet ein großes Mißverhältnis statt zwischen dem, was die Seele an Vorstellungen eingesammelt hat, und dem, was ihr in jedem Augenblicke bewußt ist. Der Umfang des Unbewußten ist immer größer als der des Bewußtseins, sodaß unsere Seele einem unaufhörlich fließenden Strome gleicht, der immer nur an einer Stelle vom Sonnenlicht des Bewußtseins erleuchtet ist. Diese Beschränktheit der Seele im gleichzeitigen klaren Vorstellen nennt man seit Locke die Enge des Bewußtseins. *)

Archimedes war bei der Eroberung von Syrakus so in scine geometrischen Figuren vertieft, daß er das Kriegsgeschrei und den Eintritt des römischen Kriegers völlig überhörte und nicht an seine Rettung dachte. Im Zustande der Aufmerksamkeit ist demnach das Bewußtsein am meisten verengt, indem eine Vorstellung durch ihren hohen Klarheitsgrad alle übrigen überstrahlt, gerade so wie die Deutlichkeit des Sehens bedingt ist durch die Fixierung eines Gegenstandes im Blickpunkte des Gesichtsfeldes. Troßdem kann man von keiner absoluten Einheit des Bewußtseins sprechen. Wie wir mit unseren Augen gleichzeitig mehrere Gegen= stände umspannen können, freilich nur einen von ihnen am deutlichsten sehen, so können auch durch unser Bewußtsein gleichzeitig mehrere Vorstellungen hindurchgehen, aber mit verschiedener Klarheit. Ganz besonders ist dies mit Vorstellungen der Fall, welche inhaltlich zusammengehören oder miteinander fest verbunden sind. Die Erfahrung bestätigt uns, daß wir Mannigfaltiges zu einer Einheit zusammenzufassen imstande sind, die uns auch als Einheit erscheint, und daß wir mit zunehmender geistiger Bildung eine größere Menge von Vorstellungen gleichzeitig im Bewußtsein zu halten vermögen. Auch die Thatsache des Vergleichens und Anschauens, wie der Begriff Gleichzeitigkeit selbst, der überhaupt nicht hätte entstehen können, wenn es keine gleichzeitigen Vorstellungen gäbe, sprechen gegen die absolute Einheit des Bewußtseins. Der Ausdruck Enge des Bewußtseins" will also nur besagen, daß der Bewußtseinsinhalt in jedem Zeitmomente ein beschränkter ist und daß Vor

*) Kant: „Unsere Seele gleicht einem angefüllten Schaßgewölbe, in dem ein armes Lämpchen brennt, dessen Schimmer nur immer eine geringe Anzahl von Gegenständen zu beleuchten hinreicht."

stellungen, je weniger sie zu den jeweilig im Bewußtsein herrschenden gehören, um so mehr der Verdunkelung anheimfallen.

Die Enge des Bewußtseins, von der übrigens die meisten Menschen nichts wissen, da der Inhalt des Bewußtseins ein beständig und rasch wechselnder ist, bekundet die Beschränktheit der menschlichen Seele, der es eben versagt ist, sich viele Vorstellungen gleichzeitig mit völlig gleicher Klarheit vorzustellen. Da die Vorstellungskraft der Seele beschränkt ist, muß sie sich mit einem Nacheinander von Vorstellungen begnügen, und deshalb ist die Enge des Bewußtseins die unmittelbare Ursache, daß die Vorstellungen in unserm Bewußtsein in der Form der zeitlichen Aufeinanderfolge auftreten. Durch den engbegrenzten Schauplah des Bewußtseins wird es uns aber ermöglicht, jede Vorstellung mit völliger Klarheit zu erfassen. Die Erfahrung zeigt uns ja, daß der Umfang des im Bewußtsein Vorhandenen zur Klarheit in umgekehrtem Verhältnisse steht; denn je mehr Vorstellungen das Bewußtsein erfüllen, desto weniger deutlich tritt das Einzelne in denselben hervor. Welche Verwirrung würde aber eintreten, wenn alle miteinander im Bewußtsein blieben!

3. Die Hemmung. Worauf beruht es nun aber, daß die Vorstellungen aus dem Bewußtsein verdrängt werden und ins Unbewußtsein sinken? Vergleichen wir das Bewußtsein mit einem mit Wasser gefüllten Glase, dessen Oberfläche von schwimmenden Körpern bedeckt ist, so findet jeder neue Körper nur dann auf der Oberfläche Platz, wenn er einen schwimmenden unter das Niveau des Wassers hinabdrückt. Ähnlich drängen nun neueintretende starke Vorstellungen die augenblicklich be= wußten unter die Schwelle des Bewußtseins zurück, sodaß sie verdunkelt werden. Nun haben freilich die Vorstellungen keine Ausdehnung und können sich demnach nicht drängen und drücken; das Hinabdrücken ist also nur ein Bild dafür, daß die stärkere Vorstellung verursacht, daß die schwächere an ihrer Vorstellungskraft noch mehr herabgesezt wird und in den Zustand des Unbewußtseins sinkt. Wie nun aber der unter das Niveau des Wassers gedrückte Körper sofort wieder aufsteigt, wenn man den ihn hinabdrängenden Körper aus dem Glase genommen hat, so kehrt auch die verdunkelte Vorstellung, sobald die Beschränkung ihrer vorstellenden Thätigkeit aufhört, wieder in ihren natürlichen Zustand, d. i. zur unbehinderten Klarheit, zurück. Denn die durch andere Vorstellungen aus dem Bewußtsein verdrängte Vorstellung gleicht in ihrem gebundenen Zustande einer gerollten Spiralfeder, die wieder aufspringt, sobald der Druck nachläßt. Sie ist nun zu einer Kraft geworden, die sich als Streben zur Bewußtseinshöhe äußert. Den Vorgang selbst,

durch welchen das Vorstellen der Vorstellung zeitweise gebunden wird, nennt man Hemmung. Die Hemmung hat weder eine Vernichtung, noch eine Veränderung des Inhalts der Vorstellungen zur Folge, sondern die Veränderung bezieht sich nur auf die Klarheit der Vorstellungen und auf die Intensität des Vorstellens. Durch diesen Intensitätsverlust wird die Vorstellung nicht vernichtet, sondern das wirkliche Vorstellen wird in ein Streben vorzustellen verwandelt.

Die gehemmten Vorstellungen widerstehen nun der Verdunkelung und streben dahin, die jeweilig bewußten Vorstellungen unter die Bewußtseinsschwelle hinabzudrücken, um selbst wieder in den Zustand der ursprünglichen Klarheit eintreten zu können. So treten die Vorstellungen in Wettbewerb und machen sich gegenseitig den Raum des Bewußtseins streitig. Daß uns dieses beständige Widereinanderstreben nicht bewußt wird, kommt daher, daß das Streben nur den Vorstellungen zukommt, soweit sie gehemmt, d. i. unbewußt sind. Soll sich daher eine Vorstellung den Eintritt ins Bewußtsein verschaffen und sich eine Zeit lang in voller Klarheit erhalten, so muß sie stark genug sein, den Widerstand der ihr widerstreitenden Vorstellungen zu überwinden. Je schwächer eine Vorstellung ist, desto leichter verfällt sie der Hemmung, je mehr Stärke sie besigt, desto gewisser ist ihr Sieg über die anderen Vorstellungen. Wenn z. B. während einer Lehrstunde plötzlich die Feuerglocke geschlagen wird, so unterdrückt dieser neueintretende starke Eindruck sofort alle Unterrichtsvorstellungen, der Raum des Bewußtseins ist wie ausgefegt, und nur die neue Vorstellung steht im Blickpunkte des Bewußtseins.

Lange kann sich aber keine Vorstellung auf der Klarheitshöhe be= haupten; denn da sie den fortwährenden Widerstand der anderen Vorstellungen zu überwinden hat, büßt sie allmählich an Stärke ein, bis sie dem Drucke der andern weichen und das Feld des Bewußtseins räumen muß. Sinnesempfindungen überwinden den Widerstand leichter durch den fortdauernden Nervenreiz, wodurch sie fortwährend Kraftzuschuß erhalten, daher sich bei ihnen der höchste Grad der Vorstellungsklarheit findet. Ihnen nahe kommen die Vorstellungen, welche Teilvorstellungen einer Gesamtvorstellung sind. Die Gesamtvor= stellung „Heimat“ hat die Einzelvorstellungen Vaterstadt, Elternhaus, Garten, Vater, Mutter, Geschwister, Nachbarn, Schulkameraden 2c. Ist nun eine dieser Vorstellungen sehr schwach, z. B. Nachbarn, so kann sie sich dennoch gegen die Hemmung behaupten, da sie von den andern Unterstützung empfängt, die man deshalb „Hilfen" nennt. Durch die feste Verbindung mit den anderen kann sie der Hemmung widerstehen,

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