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frühzeitig und bei dem wachsenden Verkehr des Kindes mit den Dingen der Umgebung auch ohne fremde Hilfe, so muß doch bei der Flüchtigkeit der kindlichen Sinnesthätigkeit dem Kinde Anregung zum Wahrnehmen geboten werden.

Durch öftere Wiederholung desselben Eindrucks steigert man die Stärke der Empfindung. Man zeige daher oft auf denselben Gegenstand hin, z. B. auf die Wanduhr, ahme durch Handbewegung die Schwingung des Pendels oder durch Laute das von ihm verursachte Geräusch nach und frage, wo die Tick-Tack sei. Weiter frage man nach dem Fenster, dem Stuhle, einem Spielzeuge, nach Vater, Mutter, Schwester, nach dem Vogel im Bauer 2c. Dann übe man es, die Eigenschaften der Dinge wahrzunehmen; denn nur durch wiederholte Sinnesthätigkeit können dem Kinde die Gegensäge: hoch und niedrig, lang und breit, sauer und süß, wohl- und übelriechend, hart wie Stein und weich wie Sammet, sonnenhell und stockfinster 2c. bewußt werden.

Man bemerkt, daß des Kindes Auge bald dem in der Stube sich bewegenden Hunde oder dem im Käfig hüpfenden Vogel folgt. Da die von dem sich bewegenden Tiere herrührenden Empfindungen sich gleichbleiben, während infolge der Bewegung des Tieres alle Gesichtsempfindungen, die das Auge gleichzeitig von der Umgebung bekommt, sich ändern, so isoliert sich das Objekt, sodaß es bewußter wahrgenommen wird. So heben sich später in der Schule durch Bewegung der Kugeln der Rechenmaschine die einzelnen Zahlenbilder ab. Auch hellen und glänzenden Gegenständen wie dem Monde, der brennenden Lampe und Laterne, und den farbigen Dingen schenkt das Kind schon früh Teilnahme. Farben find entgegengesezte Empfindungen, die sich als solche leicht isolieren. Daher werden auch im Atlas durch Farben die Ländergrenzen wahrnehmbarer gemacht und auf kolorierten Bildern die einzelnen Figuren und deren Teile schärfer hervorgehoben. Aus demselben Grunde korrigiert der Lehrer mit roter Tinte.

Das Auge des Kindes wendet sich auch großen und hohen Gegenständen (Bäumen, Säulen, Tieren), die ihm imponieren, und tönenden Dingen zu. Wenn alle diese Wahrnehmungen Klarheit und Stärke besigen, so werden sie zu Ursachen von Bewegungen: das Kind greift nach den Gegenständen, kriecht und rutscht nach denselben hin. Je mehr der Bewegungsmechanismus des Körpers erstarkt, desto lebendiger wird der Verkehr zwischen Außenwelt und Seele, desto mehr orientiert sich das Kind in der sinnlichen Erscheinungswelt und gewinnt dadurch die wertvollsten Elemente zu seiner weiteren geistigen Entwickelung. Dies geschieht um so sicherer, je mehr die ersten Erzieher für eine reiche Wahrnehmungsthätigkeit Sorge tragen.

13. Die Anschauung.

1. Wesen der Anschauung. Indem das Kind seine Empfindungen nach außen verlegt, macht es die Erfahrung, daß ein und dasselbe Ding der Außenwelt ihm mancherlei Empfindungen aufnötigt So sieht es vom Apfel die rotgelbe Farbe, fühlt seine Schwere auf der Hand, riecht seinen Duft, schmeckt seine Süßigkeit und hört ihn auf dem Boden hinrollen. Diese verschiedenartigen Wahrnehmungen, welche alle einen gemeinsamen Ursprung haben, verknüpft nun die Seele zu einer Einheit, und die Gesamtheit der Wahrnehmungen, die wir an einem Dinge haben, nennen wir Anschauung. Sie ist ein zusammengesettes Gebilde; in ihr findet nicht bloß eine Auffassung der einzelnen Merkmale des Objekts, sondern eine Zusammenfassung derselben statt. Der Grund dieses Zusammenfassens liegt nicht in den Sinnesorganen, deren jedes nur seine eignen Empfindungen liefert, sondern die Vereinigung der inhaltlich verschiedenen Wahrnehmungen erfolgt durch einen notwendigen, gesetzmäßigen und unbewußt vor sich gehenden Akt der einen, unteilbaren Seele.

Der Name Anschauung ist von der Gesichtswahrnehmung hergenommen, doch seit Kant auf die Wahrnehmung aller übrigen Sinne ausgedehnt worden. Wir haben demnach nur eine Anschauung von einem Dinge, wenn wir dasselbe nicht bloß gesehen, sondern auch mit Gehör, Getast, Geruch und Geschmack untersucht haben. Immerhin aber herrschen die von den Gesichtseindrücken herrührenden Wahrnehmungen vor; denn der Gesichtssinn spielt, da er die größte Menge von Einzelheiten am schnellsten und deutlichsten auffaßt, bei der Vereinigung der einzelnen Wahrnehmungen die Hauptrolle, sodaß die Wahrnehmungen anderer Sinne nur als Eigenschaften des Gesichtsbildes erscheinen und nur dasselbe vervollständigen. Der Gesichtssinn ist gewissermaßen der Träger der übrigen Wahrnehmungen, und wenn wir uns ein Anschauungsbild vergegenwärtigen, so beginnen wir unwillkürlich mit der Auffrischung des Gesichtsbildes. Daher wird auch in unsrer Sprache die sichtbare Welt gleichbedeutend genommen mit der sinnlichen Welt.

2. Bedingungen der Anschauung. a. Die objektive Bedingung der Anschauung ist, wie aus Vorstehendem hervorgeht, die Gegenwart eines unmittelbar auf die Sinne wirkenden Gegenstandes. Ohne sinnliche Wahrnehmung entsteht keine Anschauung. Soll sich freilich eine vollkommene Anschauung bilden, so gehört dazu eine Menge von Wahrnehmungen. So hat das Kind z. B. einen Haus

hahn wahrgenommen, seine Farbe, sein Schwanz, sein Krähen sind ihm bewußt, sodaß es einen Hahn wiedererkennt und von einer Henne zu unterscheiden weiß. Wenn es aber noch nicht wahrgenommen hat, was der Hahn über der Hinterzehe hat, mit welchem Zierat sein Kopf ge= schmückt ist, mit welcher Gebärde er sein Krähen begleitet, in welcher Körperhaltung er schläft, wie er für seine Hennen sorgt 2c., so fehlen noch charakteristische Züge des Anschauungsbildes. Nur wenn wir ein bis ins kleinste gegliedertes Bild eines Gegenstandes aufgenommen haben, besigen wir eine deutliche Anschauung, ein bis auf seine besonderen Teile wahrgenommenes Einzelbild. Dann wird es uns möglich, den Gegenstand in seiner bestimmten Eigentümlichkeit von anderen zu unterscheiden; wir haben eine klare Anschauung gewonnen. In der Deutlichkeit und Klarheit beruht die Vollkommenheit der Anschauung.

In der pädagogischen Sprache hat man den Namen Anschauung über die Sphäre der sinnlichen Wahrnehmung hinausgerückt. Wenn man dem Kinde ein Märchen oder eine biblische Geschichte erzählt oder eine Landschaft mit lebendigen Farben schildert, so gestaltet sich die kindliche Phantasie ein Bild, sodaß vor dem geistigen Auge dea Kindes die Personen handeln und die Begebenheiten sich abspielen und die Landschaft fast sichtbar vor ihm liegt. Man sagt dann, es habe eine geistige (innere) Anschauung im Gegensatz zu der sinnlichen (äußern) gewonnen. Oder wenn man Nichtgegenwärtiges mittels bereits erworbener Anschauungen möglichst deutlich auffaßt, indem man den Wolf mit dem Hunde, die Gemse mit der Ziege, die Ceder mit der Fichte vergleicht, so redet man von einer mittelbaren Anschauung im Gegensaß zur unmittel= baren. Die entstandenen Seelengebilde sollte man lieber anschauliche Vorstellung nennen; denn unter Anschauung versteht man doch nur die Thätigkeit der Seele, einen Gegenstand in sinnlicher Unmittelbarkeit aufzufassen. Der Begriff anschaulich“ hat einen größern Umfang als der Begriff Anschauung; denn jede Anschauung ist anschaulich, aber nicht alles Anschauliche ist eine Anschauung. Im gewöhnlichen Leben wird das Wort Anschauung oft falsch gebraucht, z. B. „Ich habe eine andere Anschauung von der Sache“ muß doch besser „eine andere Meinung“ heißen.

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b. Doch nicht aus jeder Wahrnehmung ensteht eine Anschauung. Dinter fragte einst einen Boten, der 20 Jahre tagtäglich einen Wald hin und her passiert hatte, ob derselbe aus Nadelholz oder Laubholz bestehe. Der Bote wußte es nicht; denn darauf hatte er nicht geachtet. Er hatte wohl den Wald wahrgenommen, aber sein Schauen nicht absichtlich auf ihn und seine Eigenschaften gerichtet und deshalb keine Anschauung vom Walde gewonnen. Es ist demnach vom Zustande der Aufmerksamkeit abhängig, wieviel von den Gegenständen, die uns umgeben, wirklich wahrgenommen wird. Ohne Aufmerksamkeit werden die äußeren Eindrücke wohl empfunden, aber durch sie erst wirklich aufgenommen und die einzelnen Wahrnehmungen zu einem Gesamtbild vereinigt. Es kann also

nur durch aufmerksames Verweilen bei dem Gegenstande eine Anschauung entstehen. Die Aufmerksamkeit ist demnach die subjektive Bedingung zur Bildung von klaren und deutlichen Anschauungen. Eine Anschauung kommt also zu stande, wenn ein sinnlicher Gegenstand gegenwärtig ist und unsere Aufmerksamkeit sich auf denselben richtet.

Rosenkranz: „Anschauen ist ein herrliches Wort. Es drückt im Schauen die subjektive Thätigkeit aus, allein nicht bloß als ein Sehen, sondern als eine Vertiefung in die Sache. Die Präposition an aber bezeichnet, daß das Schauen die Sache erst zu wirklicher Objektivität macht." Vergleiche auch die Ausdrücke anhören, antasten, anriechen 2c.

3. Bedeutung der Anschauung. In der Anschauung erhält der Wahrnehmungsstoff erst seine Form, indem das Gemisch der einzelnen Wahrnehmungen, die wir von einem Gegenstand vermittelt erhalten, zu einem räumlichen oder zeitlichen Ganzen verknüpft wird. Wir gewinnen durch dieselbe die Kenntnis eines Dinges mit vielen Merkmalen; alles, was wir von einem Dinge in Raum und Zeit wissen, ist daher auf die Anschauung zurückzuführen. Wir orientieren uns durch dieselbe in der Außenwelt, sodaß mit der Menge der Anschauungen auch das Feld unserer Erkenntnis wächst.

Eine fundamentale Wichtigkeit hat die Anschauung für die weitere geistige Entwickelung, da sie die Grundlage und Voraussetzung unseres Vorstellens und Denkens ist; denn nur aus klaren und deutlichen Anschauungen entstehen klare und deutliche Vorstellungen, welche in der Seele fest bleiben, aus denen dann die Phantasie andere Vorstellungen bauen und das Denken Begriffe bilden können. Unser ganzes Vorstellen und Denken muß sich das Material aus den sinnlichen Anschauungen darreichen lassen und kann nur insoweit klar jein, inwieweit den zu Grunde liegenden Anschauungsbildern Klarheit zukommt, wie denn überhaupt unser geistiges Leben sich nur in dem Maße kräftig entwickeln kann, in welchem sich der Horizont sinnlicher Anschauungen erweitert. Anfänglich hat unser Denken keinen anderen Inhalt als die Anschauung, bis es allmählich die sinnlich klar gewordenen Anschauungen und Vorstellungen zu Begriffen erhebt. Dieser Umwandlungsprozeß von der Anschauung zum Begriff gelangt jedoch niemals zum Abschluß, sodaß wir selbst später, um einen Begriff uns klar zu machen, zu seiner natürlichen Grundlage, der Anschauung, zurückgreifen. Mit Recht nennt daher Pestalozzi die Anschauung das absolute (= notwendige, natürliche) Fundament aller Erkenntnis.

4. Pädagogisches. Kinder vollziehen die Anschauungsthätigkeit nicht in befriedigender Weise, sie verfahren flüchtig und oberflächlich und

gewöhnen sich nur unter Anleitung, bestimmt und deutlich zu sehen und zu hören. Die Schule hat nun, da nur vollkommene Anschauungen einen Wert für die weitergehende geistige Thätigkeit bilden, Anschauungsübungen anzustellen, um das gedankenlose Wahrnehmen durch Bethätigung möglichst aller Sinne in ein wirkliches Anschauen zu verwandeln, das skizzenhafte Bild auszufüllen und so dem Kinde zu einem Schaze klarer, bestimmter und möglichst vollständiger Anschauungen zu verhelfen. Wie gelangt nun das Kind zu klaren und deutlichen Anschauungen?

a. Dem Kinde hat sich der Gegenstand nur in der Totalität aufgedrängt, die einzelnen Teile desselben sind ihm, zumal die Vereinigung der verschiedenen Wahrnehmungen durch den Namen des Gegenstandes zu schnell geschah, dunkel geblieben. Man gehe daher vom Ganzen aus, z. B. man erzähle die Geschichte, man zeige die Pflanze, man schreibe den Buchstaben an, spiele die Melodie ganz vor und nenne zugleich den Namen, wenn dieser mit dem Anschauungsbilde zur Einheit verschmelzen soll. Das Gesamtbild kann sich aber nur erzeugen, wenn das Kind mit größter Aufmerksamkeit darauf verweilt.

b. Hierauf sind die Teilanschauungen aus der Gesamtauffassung herauszuheben und in bestimmter Ordnung und Reihenfolge fortschreitend mit dem Auge zu fixieren, wobei man von den dem Kinde bereits bekannten Merkmalen oder von einem charakteristischen Merkmale ausgeht, das am stärksten hervortritt und die Herrschaft über die anderen gewinnt, so z. B. bei der Rose von der Blüte, bei der Bohne vom rankenden Stengel, bei der Möhre von der Wurzel, beim Buchstaben F von der Flammenlinie 2c. Nun schauen die Kinder unter Leitung des Lehrers die anderen, in ihrem Anschauungsbilde noch fehlenden Teile an, wobei das Gesicht durch den Tastsinn mit unterstügt wird; sie zerlegen die Pflanze in Wurzel, Stengel, Blatt, Blüte und Frucht, zählen beim Würfel die Seiten, Kanten und Winkel, zerlegen den Buchstaben in seine Bestandteile, die Melodie in Abschnitte und Takte u. s. w.

c. Hierauf werden die Teile im Verhältnis zum Ganzen und zu einander betrachtet, so die Stellung der Blätter am Stengel, die einzelnen Teile der Geschichte in ihrem Verhältnis zum ganzen Vorgange 2c. Vollständig und klar wird das Innenbild werden, wenn bei seiner Entstehung möglichst alle Sinne mitwirken und zugleich intensive Bewegungsvorstellungen sich verknüpfen, wie beim Zeichnen des Gegenstandes, Schreiben des Wortes, Beschreibung in Worten, Singen des Liedes, Darstellung der Thätigkeiten.

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