Page images
PDF
EPUB

sittlich verwerflich ist. Je häufiger die Marimen der Sittlichkeit zur Anwendung kommen, desto größer wird ihre Macht; sie werden zu Apperzeptionsmassen, die die Richtung des Willens bestimmen, sodaß sich der Wille von ihnen leiten läßt und nichts gegen sie unternimmt. Wenn nun der Mensch das Sittengeset in seinen persönlichen Willen aufgenommen hat, dann entzieht er sich jedem fremden Einfluß und Zwang, jede Abhängigkeit hört auf, das Sollen wird zum Wollen. Die vollkommene Übereinstimmung des Wollens mit der sittlichen Einsicht ist daher die sittliche Freiheit. Der Sinnesmensch ist demnach unfrei; der Verstandesmensch, der gar oft sich auch für das Sittliche entscheidet, weil die Handlungen, die gegen das Sittengeseh verstoßen, böse Folgen, wie Strafe und Schande mit sich bringen, ist nur seiner Selbstsucht dienstbar, und nur der Mensch, in dem die religiös-sittlichen Vorstellungen derart zur Herrschaft gelangt sind, daß sie die mit ihnen in Widerspruch stehenden sinnlichen oder die nur auf den persönlichen Nußen gerichteten geistigen Begehrungen gar nicht aufkommen lassen, ist sittlich frei.

Dem Ideale der sittlichen Freiheit nähern wir uns, wenn die Marimen unter sich verbunden, geordnet und den sittlichen Grundsäßen untergeordnet sind. Bei unserem Wollen und Handeln treten bald sinnliche, bald verständige und sittliche Gründe hervor. Dadurch entsteht Widerstreit und Unentschlossenheit in der Seele. Um diesen Widerstreit aufzuheben, müssen die sich entgegenstehenden Marimen in Einklang gebracht, d. h. einander untergeordnet werden. Ordnen wir nun die sittlichen Forderungen den Maximen der Sinnlichkeit oder Klugheit unter, so bleibt der innere Zwiespalt noch, da die Stimme des Gewissens nicht schweigt, sondern uns sagt, daß wir anders hätten handeln sollen. Es müssen daher die Maximen der Sinnlichkeit und des Verstandes den sittlichen Maximen untergeordnet werden, wenn Einklang in der Seele herrschen soll. Nur wenn der Mensch die sinnlichen und egoistischen Begierden beherrscht und den Grundsäten der Sittlichkeit den höchsten Rang giebt, wird sein Wille zu sittlicher Einheit und Freiheit gelangen.

Im gewöhnlichen Leben werden oft Maxime und Prinzip verwechselt. Jemand sagt 3. B.: Es ist mein Prinzip, bettelnden Kindern nichts zu geben, da das Betteln die Kinder meist in heillose Verderbnis führt. Er sollte diesen Grundsay richtiger Marime nennen. Prinzip ist ein Grundurteil, das als Norm des Denkens gilt und einem System als erster Saß zu Grunde liegt; so läßt sich aus dem materialen Prinzipe von der Rechtfertigung durch den Glauben das System der evangelischen Dogmatik. entwickeln und aufbauen. Die Maxime bezieht sich dagegen immer aufs Handeln. Das Prinzip ist demnach ein theoretischer, die Maxime ein praktischer Grundsaß Wie unterscheiden sich Vorjaß und Grundsaß? Der Vorsay ist eine bloße theoretische Aufstellung für irgend eine Art des Wollens. Ich nehme mir z. B. vor, von

[ocr errors][ocr errors]

nun an fleißig, sparsam, wahrhaftig zu sein. Der Grundsay gründet sich dagegen auf die psychologische Thatsache der durch Wiederholung gewordenen Gewohnheit und ist deshalb eine wahre psychische, den Willen bestimmende Macht, die eben bewirkt, daß man fleißig, sparsam und wahrhaftig ist.

4. Pädagogisches. Das Wollen des Kindes ist anfangs ein zwangsmäßiges Thun; denn es handelt nur nach der Richtung der den Impuls gebenden Vorstellungen und Triebe und läßt sich von dem Angenehmen oder Unangenehmen bestimmen, da es in jenem eine Lebensförderung, in diesem eine Lebenshemmung findet. Es regt sich zwar allmählich in ihm ein starker Freiheitsdrang, da es ihm Freude macht, seinen Willen durchzusehen und sich frei zu fühlen; doch meint es, daß die Freiheit darin bestehe, thun und lassen zu können, was ihm beliebe, ja es findet in den Verstößen gegen Sitte, Ordnung und Gesetz oft einen gewissen Selbstgenuß. Damit es nun nicht seinen Begierden freien Lauf lasse und sich nur nach Willkür bestimme,*) muß sein Wille allmählich dem sittlichen Motiv unterworfen werden, damit es sich zur Freiheit erhebe. Um dies zu erreichen, sind zwei Mittel anzuwenden: a. Die Belehrung, welche die sittliche Einsicht vermittelt, damit das Kind das Gute wolle, und

b. die Gewöhnung, welche Willensakte durchlaufen läßt, damit das Kind das Gute auch wirklich wolle und thue.

a. Die Belehrung will einen sittlichen Gedankenkreis begründen. Sie wendet sich zwar zunächst nur an den Intellekt, aber dieser beeinflußt den Willen und kann durch das Interesse, das er weckt, das sittliche Motiv stärken. Schopenhauer: „Was für ein unbändiges Roß Zügel und Gebiß, das ist für den Willen des Menschen der Intellekt; an diesem Zügel muß er gelenkt werden, da er an sich selbst nur ein wilder, ungestümer Drang ist."

Von den Eltern werden dem Kinde Richtpunkte für sein Verhalten gegeben und Personen oder Handlungen als lobenswert oder tadelnswert bezeichnet, sodaß es frühe beurteilen lernt, was gut und böse ist, und Wohlgefallen am rechten Handeln und Abscheu vor dem Gemeinen empfindet. Geklärt und gestärkt wird das sittliche Denken und Fühlen besonders durch den Unterricht, der das Kind sittliche Willensverhältnisse erkennen läßt und ihm das Verständnis für den Wert sittlicher Güter erschließt. Zunächst läßt er es eine Anschauung gewinnen von

*) Denn um sich greift der Mensch; nicht darf man ihn

Der eignen Mäßigung vertraun. Ihn hält

In Schranken nur das deutliche Gesez

Und der Gebräuche tiefgetretene Spur. Schiller, Wallenstein IV, 2.

dem religiös-sittlichen Wollen, indem er ihm ideale Persönlichkeiten vorführt, voran die Lichtgestalt des Heilandes als das Vorbild der sittlichen Vollkommenheit, und Gestalten aus der Bibel, Geschichte und Lektüre, die in Thaten und Leiden ihre Tugenden entfalten. Das Kind wird nun angehalten, den sittlichen Wert ihrer Handlungen zu beurteilen, sodaß ihm klar wird, wie das Verhalten der Menschen beschaffen sein muß, wenn es mit dem Gewissen und dem göttlichen Gebote im Einklang stehen soll. Aus den Einzelurteilen entwickelt nun der Unterricht durch Zusammenstellung des Gemeinsamen der gebilligten Willensregungen die allgemeinen Urteile, d. h. die sittlichen Mustervorstellungen oder praktischen Grundsäge, die dann bestimmend auf die einzelnen Wollungen einwirken und zu Entschließungen drängen. Zugleich wird das Kind veranlaßt, einen Blick auf das eigene Ich zu werfen und zu prüfen, ob sein eigenes Verhalten den sittlichen Grundsägen entspreche oder nicht. Wahrhaftig sollen die Menschen sein; redest du auch immer die Wahrheit? Gottes Gesetz fordert, daß Brüder und Schwestern einträchtig bei einander wohnen; lebst du mit den Geschwistern und Mitschülern in Frieden oder in Streit? Dadurch wird das kindliche Gewissen ergriffen, und das Kind erkennt die verpflichtende Bedeutung der Marimen für sich selber an. Die sittlichen Grundsäße erlangen dann eine solche Stärke und Klarheit, daß sie ein dauerndes Übergewicht im Vorstellungskreise gewinnen. Da endlich der Unterricht zur richtigen Schäßung der Güter führt und diese nach ihrem allgemein giltigen Werte ordnet, so wird aus dieser Wertordnung der Güter allmählich auch eine Rangordnung der sittlichen Grundsäße hervorgehen.

b. Die Maximen sind als Resultate der Belehrung zunächst nur Bestandteile der Erkenntnis und begründen als solche noch keine sittliche Selbständigkeit. Es ist mithin Aufgabe der Zucht, das Kind zu veranlassen, seinen Willen der religiös-sittlichen Erkenntnis unterzuordnen und es zu gewöhnen, thatsächlich nach den Maximen zu wollen und zu handeln, sodaß sie allmählich zu Lebensgesehen werden.

Da es ihm nun anfänglich an sittlicher Einsicht und an Stärke des Willens mangelt, hat es sich zunächst unter die einsichtsvollen, willenskräftigen Eltern zu beugen und ihnen zu gehorchen. Durch den Gehorsam wird der kindliche Wille gewöhnt und geschult, der sittlichen Einsicht zu folgen; je williger es sich daher den Weisungen der Erzieher fügt, desto freier und glücklicher wird es. Seele am schönsten frei“ (Iphigenie V, 3). Cardinaltugend; die sicherste Grundlage der einstigen sittlichen Freiheit.

"

Folgsam fühlt' ich meine
Der Gehorsam ist daher die

1

Je mehr aber der Zögling an sittlicher Einsicht gewinnt, desto mehr ist ihm Selbständigkeit einzuräumen. Nicht immer soll er so beeinflußt werden, daß es nur vom persönlichen Willen des Erziehers abhängt, was er überhaupt zu wollen und zu thun hat. Wo soll einem Knaben die Zuversicht zu sich selbst herkommen, wenn er immer bevormundet und am Gängelbande geführt wird? Durch zu große Einschränkung wird der Wille geschwächt und geknickt, sodaß er nie freier, mutvoller Entschlüsse fähig wird. Die Erziehung muß daher allmählich den Charakter der Freiheit annehmen und dem Zöglinge Gelegenheit zu selbständiger Übung seiner Willensthätigkeit geben.*)

Man begünstige daher Freiheitsregungen, soweit durch dieselben nicht Sittengebote übertreten werden, führe es in Situationen, in denen es sich selbständig entschließen muß, und lasse es zu einem vom Erzieher gebilligten Zwecke die Mittel auswählen. Sollte es sich für das Verwerfliche entscheiden, so ist zu untersuchen, ob es absichtlich gegen seine bessere Einsicht gehandelt hat, oder ob sein Entschluß unrichtiger Beurteilung und mangelhafter Erkenntnis entsprang. In lezterem Falle ist die sittliche Einsicht zu klären, in ersterem Falle Freiheitsentziehung anzuwenden. Gewöhnt sich nun das Kind, sich in der durch die sittlichen Marimen geforderten Richtung zu entscheiden, so wird es allmählich zu größerer innerer Freiheit erwachen. Es wird sich frei zeigen den Dingen gegenüber, daß es sich nicht durch die Begierden, die sie in ihm wecken, fortreißen läßt, sondern ihnen mit Selbständigkeit gegenübersteht; es wird auch frei sein den Personen gegenüber, daß es nicht alles mitthut, was es Altersgenossen thun sieht, oder gar thut, was diese ihm heißen, sondern es wird ihnen gegenüber einen eigenen Willen zeigen.

Ein wichtiger Faktor der Willensbildung ist das Vorbild. Von dem gesunden, starken Willen und sittlichen Handeln der Erzieher geht ein Strom von Kraft auf das Kind über, der den jungen, bestimmbaren Willen stärkt und in die sittliche Bahn leitet. Die Einwirkung, die edle Geister auf ihre Umgebung ausüben, vergleicht Jean Paul schön mit der Sonnennähe.

*) Einen beherzigenswerten Wink giebt Rückert in seinen Haus- und Jahres=" liedern den Pädagogen in dem Gedicht: „Den Gärtnern“:

Ich zog eine Winde am Zaune,
Und was sich nicht wollte winden
Von Ranken nach meiner Laune,
Vegann ich anzubinden,

Und dachte für meine Mühen,
Sollt es nun fröhlich blühen.

Doch bald hab' ich gefunden,
Daß ich umsonst mich mühte,
Nicht, was ich angebunden,
War, was am schönsten blühte,
Sondern was ich ließ ranken
Nach seinen eignen Gedanken.

50. Der Charakter.

1. Wesen des Charakters. Fürst Bismarck sagte in der Reichstagssitung vom 24. Febr. 1881 von sich: „Für mich hat immer nur ein einziger Kompaß, nach dem ich mich richte, ein einziger Polarstern, nach dem ich steuere, bestanden: salus publica!" Und in der That sahen wir den großen Staatsmann immer diesem Grundsaße gemäß handeln; denn mit energischer Hand beseitigte er alle äußeren und inneren Hemmungen der Weiterentwickelung des deutschen Vaterlandes, schmiedete die Einheit Deutschlands und setzte, selbst als er aus dem Amte geschieden war, als getreuer Ratgeber seine auf Deutschlands Wohlfahrt, Macht und Herrlichkeit abzielende Thätigkeit fort.*) Sein Wollen und Handeln sind stets in Übereinstimmung mit jenem ausgesprochenen Grundsaße gewesen und haben immer diese sich gleichbleibende Richtung eingeschlagen. Das feste und konsequente Wollen und Handeln nach bestimmten Grundsägen nennen wir Charakter. Die Gesamtheit der Grundsäße, von denen sich der Charakter leiten läßt, heißt Gesinnung.

Man unterscheidet am Charakter eine subjektive und eine objektive Seite. Die herrschenden Maximen, die den Willen bestimmen, die Grundfäße, die zu Lebensgesehen geworden sind, bilden den subjektiven Teil des Charakters; die einzelnen Wollungen und Begehrungen aber, die durch äußere und innere Anregung in uns beständig auftauchen und Einfluß auf den Willen zu gewinnen suchen, machen den objektiven Teil des Charakters aus. Das Subjektive des Charakters, die innere Gesinnung, ist das Bestimmende; denn die herrschenden Maximen wirken apperzipierend auf die mannigfaltigen Wollungen ein und unterdrücken alle Motive, die sich nicht mit ihnen vertragen, sodaß eben eine Gleichförmigkeit des Wollens entsteht. Das Objektive des Charakters ist das Bestimmbare, da es durch die Grundsäße beeinflußt wird; diese entscheiden, was man thun oder unterlassen, haben oder entbehren, dulden oder bekämpfen will. Da der Charaktervolle alle einzelnen Wollungen den selbstgebildeten herrschenden Grundsägen unterwirft, bekommt eben sein Wollen einen festen, innern Zusammenhang und dadurch sein Handeln das Gepräge der Einheit, der Festigkeit und Konsequenz. Wer sich aber von seinen Grundsäßen leicht abwendig machen läßt (z. B. Pilatus, der die Verurteilung Jesu trotz seiner besseren Überzeugung aussprach; Weislingen in Goethes Göz von Berlichingen), heißt charakterschwach, und wer vorübergehenden Neigungen, Stimmungen und Launen nachgiebt, sodaß seine einzelnen Handlungen oft in Widerspruch zueinander treten *) Bismarck: „Wenn ich mich dem Teufel verschrieben habe, so ist es der teutonische Teufel.“

« PreviousContinue »