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a. Manche Begehrungen sind in richtigem Maße zu befriedigen. Von der rechten Art und Weise der Befriedigung hängt die Wertschäßung ab, die sich im Kinde von den Dingen und Genüssen der Welt bildet. Zu gewähren sind daher dem Kinde hinreichende passende Nahrung, Geist und Leib erfrischende Bewegung, harmloses heiteres Spiel, Umgang mit wohlerzogenen Altersgenossen 2c., überhaupt alles, was seine körperliche und geistige Entwickelung fördert. Beim Versagen unschuldiger und gerechter Wünsche wird dem Kinde alle Lebensfreude genommen.

b. Alles übermäßige und fürs kindliche Alter nicht passende Begehren ist zurückzudrängen. Zu versagen sind daher reizende Speisen und Getränke, das Rauchen, der Besuch von Wirtshäusern, Theater, Konzert, Tanz 2. Durch Befriedigung übermäßiger Begierden legt man den Grund zu Leidenschaften oder zur Übersättigung (Blasiert= heit). Vor der Übermacht der sinnlichen Begierden schüßt die Gewöhnung an ein einfaches, genügsames Leben und das Vorbild der Erzieher. Weniger wird das Feuer der verwerflichen Begierde durch Verbot, Drohung und Strafe gedämpft; sie bleibt vielmehr als verborgene Kraft in der Seele und lodert bei Gelegenheit wieder empor. Die Erfahrung zeigt auch, daß die Jugend gerade gerne das Verbotene thut (nitimur in vetitum!), da das durch den Druck des Verbots erhöhte Unlustgefühl die Begierde stürmischer werden läßt.

c. Die Begehrungen sind zu veredeln. Dies geschieht durch den Unterricht. In demselben werden Werturteile gefällt, die zum Nachdenken anregen, ob die begehrten Gegenstände auf die Dauer recht befriedigen können. Durch ihn werden den sinnlichen Begierden entgegenwirkende Vorstellungen in die Seele gesenkt, indem das Kind Einsicht erhält von der Schädlichkeit oder Verwerflichkeit des Begehrten. Durch Weckung der Aufmerksamkeit und durch Erhaltung unausgesetter Thätigkeit werden Kraft und Lust des geistigen Strebens und dadurch die Herrschaft über die Sinnlichkeit gesteigert. Insbesondere aber öffnet der Unterricht neue, höhere Interessen und erhält Lust und Freude an geistigen Dingen und edlen Beschäftigungen, die sich dann als ein bedeutendes Übergewicht gegen die niederen Begehrungen geltend machen.

46. Die Neigung.

1. Wesen der Neigung. Von Alexander dem Großen wird erzählt, daß er die Iliade immer bei sich geführt und sie in der Nacht unter seinem Kopfkissen liegen gehabt habe, um sie beim Erwachen sofort

lesen zu können. Der dichterisch gestimmte, thatenlustige junge König hatte in der Lektüre Homers von Jugend auf Lust gefunden, und diese Luftgefühle weckten immer wieder das Streben, sich mit Homer zu beschäftigen. Eine so zur Gewohnheit gewordene Begierde nennen wir Neigung. Der Gegenstand der Neigung hat eine so anziehende Gewalt, daß der Mensch sich ihm gerne hingiebt und sich, falls er nicht gegenwärtig ist, nach ihm sehnt. Der Gegenpol der Neigung ist die Abneigung, die fortwährend gewissen Objekten widerstrebt und ihnen zu entfliehen sucht.

So haben wir Neigung zu einer bestimmten Speise, zu einem uns angenehmen Spiel, zum gewohnten Zimmer und Plah, zu bestimmten Thätigkeiten: Lesen, Zeichnen, Handarbeit, zu gewissen Fächern, wie zur Musik, zur Geschichte, Botanik 2c. Man bezeichnet oft diese Neigung mit Vorliebe oder Liebhaberei. Ebenso empfinden wir Neigung zum Verkehre mit gewissen Menschen, und eine solche Neigung, die sich auf beseelte Wesen, auf Wesen seinesgleichen bezieht, wird Zuneigung oder Liebe genannt, die sich am stärksten zwischen Personen verschiedenen Geschlechts zeigt. Anderseits haben wir Abneigung vor gewissen Speisen, Gegenständen, Beschäftigungen, Unterrichtsfächern, Tieren und Personen, wir fühlen uns von ihnen abgestoßen und haben keine Lust, uns mit ihnen zu beschäftigen und mit ihnen zu verkehren. Ist der Gegenstand der Abneigung ein beseeltes Wesen, so legen wir ihr den Namen Haß bei.

Es giebt auch sonderbare Neigungen und Abneigungen, die in der eigentüm lichen Reizempfänglichkeit des Organismus begründet sind; man nennt sie Idiosynfrasien. Manche Menschen essen gerne Kaffeebohnen, wohl gar Seife; manche finden den Geruch verbrannter Federn und verglimmender Lampendochte angenehm; Schiller liebte den Geruch fauler Äpfel, von denen er immer einige in seinem Schreibtische hatte. Häufiger noch sind seltsame Abneigungen. Manche Menschen können keine Mäuse und Spinnen sehen, manche keinen Zucker kauen hören, Wallenstein konnte keinen Hahn krähen hören, Richelieu fein Eichhörnchen sehen, Erasmus von Rotterdam fand den Fischgeruch und Goethe den Tabaksgeruch unerträglich 2.

Wird die Neigung so stark, daß die Wahrnehmung oder Reproduktion des begehrten Gegenstandes zur Begierde unausbleiblich und triebartig treibt, so heißt sie Hang, z. B. Hang zum Müßiggang, zum Kartenspiel, zur Verschwendung, Liederlichkeit, zum Schuldenmachen 2. Bei ihm ist der Vorstellungskreis, der ihn trägt, zur apperzipierenden Masse und zum Gebiete des Genusses und der Hingebung geworden, sodaß das ganze Wesen nach diesem Gebiete hängt und der festgewordenen Neigung nicht ohne inneren Kampf widerstanden werden kann.

2. Quellen der Neigungen. Die Neigungen entstehen teils aus den natürlichen Anlagen, teils aus Gewohnheit.

a. Die Naturanlage. Anlagen sind gewisse organische Be= dingungen, die einer bestimmten Thätigkeit förderlich sind. Je nach der besonderen Beschaffenheit des leiblich-geistigen Wesens machen sich einzelne Triebe mit verschiedenen Stärkegraden geltend, sodaß besondere Triebrichtungen entstehen, die mit Energie und Vorliebe auf irgend eine besondere Bethätigung gerichtet sind. Ein kräftiger Mensch hat Lust zu Arbeiten, die große Kraft erfordern, ein schwächlicher verspürt Lust zu leichter Beschäftigung. Wer ein feines Cortisches Organ hat, wird Neigung zu Musik gewinnen; eine besonders feine Organisation des Gesichtssinns führt zur Malerei, des Tastsinns zu technischen Fertigkeiten. Die Anlagen bilden die Grundlagen des sogenannten Talents oder Sinnes für etwas. Sie sind durchaus formaler Natur, d. h. sie sind Fähigkeiten, Möglichkeiten, die an sich noch nicht eine besondere Art des Vorstellens, Fühlens und Wollens enthalten, wohl aber sie begünstigen und Hilfen gewähren, da sie das Gelingen sichern. Durch die mit der gelingenden Thätigkeit verbundenen Lustgefühle entsteht eine psychische Disposition für das bestimmte Begehren, d. h. ein Zustand der Seele, in dem sie jeden Augenblick geneigt ist, wieder als Begierde nach diesem Gegenstande sich zu äußern, sobald Gelegenheit dazu geboten ist. Wofür Anlagen fehlen, dafür wird schwerlich Neigung entstehen. Daher lassen sich aus den vorhandenen Neigungen die Anlagen und Talente eines Menschen erkennen.

Für Vererbung der Anlagen und Talente liefert die Kulturgeschichte reiches Material. So giebt es Familien-Anlagen. In der Familie Bach verbreitete sich die musikalische Begabung über mehr als 300 Angehörige (1550-1800 nicht weniger als 22 hervorragende Musikkünstler!). Das Malertalent zeigte sich in den Familien Holbein und Kranach, philosophisch-dichterische Begabung in der Famile Schlegel, religions-philosophisches Talent in der Famlie Schleiermacher. Neigungen geben manchen Bewohnern und Volksstämmen ein bestimmtes Gepräge; man denke an die Uhrenfabrikation zu Chaux de Fonds, an die Spielwarenfabrikation im Erzgebirge, an das Handels- und Rechengenie der Juden, an die Wanderlust der Zigeuner 2c. Ungepflegt und unbethätigt verkümmern die Anlagen; melden sie sich und werden sie unterdrückt, so wirken sie unter dem hindernden Drucke noch fort und brechen später vulkanartig hervor, vergl. Schiller, Lessing, Cavour, Rietschel. Es ist daher ein Glück, wenn der Mensch von frühester Kindheit auf in einer Umgebung aufwächst, die seine Anlagen begünstigt; der Geist folgt dann ohne Hemmung der ihm von der Natur vorgezeichneten Bahn.

b. Die Gewohnheit. Vorstellungen, welche regelmäßig Begierden und Handlungen veranlassen, haften bei dauernder Wiederholung so fest zusammen, daß, wenn jene Vorstellungen ins Bewußtsein treten, die

Begierden und Handlungen von selbst folgen. Je öfter aber dasselbe Thun wiederholt wird, desto sicherer bewegt es sich in demselben Geleise. Das Gefühl der gelingenden Thätigkeit läßt die Wiederkehr der Begierde immer erwünscht erscheinen, und so wird die Seele in den Zustand der Aufgelegtheit versezt, diese Begierde oft zu befriedigen; die Begierde wird zur Neigung übergeführt, ihre Befriedigung wird zum Bedürfnis. So wird die Gewohnheit zur Mutter der Neigung, zur anderen Natur (consuetudo altera natura). Das Wort Gewohnheit weist auf den Hauptbegriff „Wohnen“ hin. Wohnen aber bezeichnet das Bleibende, Gleichförmige, Beharrende. Die Gewohnheit wurzelt um so fester,*) je älter sie ist, d. h. je öfter eine Begierde auf die nämliche Weise befriedigt worden ist.

Jede Begierde kann zur Gewohnheit werden. Der Gewohnheiten, der guten und schlechten, giebt es tausendfach. Der Mensch kann sich eben schließlich an alles gewöhnen, daher man ihn oft als „Gewohnheitstier" bezeichnet. Wir gewöhnen uns on bestimmte Speisen und Getränke, an bestimmte Pläge bei Tisch, bestimmte Trinkgeschirre, an gewisse Beschäftigungen, bestimmte Zeiten der Ruhe und Arbeit, an bestimmte Genüsse und Vergnügungen. Jeder Stand und Beruf hat seine bestimmten Gewohnheiten. Selbst was uns anfangs Überwindung kostete, wie Rauchen, Biertrinken 2c., kann durch häufige Befriedigung zur Gewohnheit werden.

Trog ihrer Festigkeit ist doch die durch Gewohnheit entstandene Neigung nicht unzerstörbar; denn wie sie nach und nach entsteht, kann fie auch allmählich abgelegt werden. Man kann sich etwas nicht bloß angewöhnen, sondern auch abgewöhnen, sodaß an die Stelle früherer Zuneigung Gleichgiltigkeit, ja Abneigung treten kann. Da sie in den Vorstellungen wurzeln, wird mit der Vervollkommnung des Vorstellungskreises manches in seinem Unwerte erkannt, woran früher das Herz hing. Der Mann läßt manches, was er als Jüngling heiß begehrte und that. Durch allzureichliche Befriedigung der Begierde kann die Seele so überreizt und abgestumpft werden, daß die Neigung in den Zustand des Widerstrebens, in Überdruß und Ekel umschlägt.

3. Verhältnis zwischen Begierde und Neigung.

a. Die Begierde zeigt einen egoistischen Charakter; sie will sich den Gegenstand aneignen, ihn genießen, besißen, beherrschen. Die Neigung dagegen giebt sich hin an den Gegenstand; sie ist Selbstentäußerung, daher man sie auch mit Liebe bezeichnet (Liebe zur Musik, zu Blumen 2c.).

*) Neigung besiegen ist schwer, gesellt sich aber Gewohnheit

Wurzelnd, allmählich dazu, unüberwindlich ist sie. (Goethe, Jahreszeiten 25.)

b. Die Begierde hat etwas Affektartiges und stürzt sich ungestüm mit stürmischer Heftigkeit auf den begehrten Gegenstand. Die Neigung trägt dagegen ein ruhiges, friedliches Gepräge und empfindet stilles Genügen bei der Befriedigung.

c. Die Begierde erlischt mit der Befriedigung, da es ihr um einen momentanen Genuß zu thun ist. Die Neigung dauert nach der Befriedigung fort; sie ist eine bleibende Tendenz, ein zuständlich ge= wordenes Begehren, das in einem inneren Verhältnis zum Objekte steht.

4. Bedeutung der Neigungen. a. Auf den Neigungen beruht unser Lebensglück; denn je mehr unser Leben von Gewohnheiten durchrankt ist und je geordneter und regelmäßiger es verläuft, desto wohler und behaglicher fühlen wir uns. Die Neigungen sichern unserem Gemüte jene mittlere Stimmung, die der Erhaltung und Entfaltung des Lebens förderlich ist, sodaß Neigungen und Gewohnheiten zur Diät des Lebens gehören. Wenn wir Neigung haben zu unserem Berufe, zu den Verhältnissen, in die wir gestellt sind, und zu den Personen, mit denen wir zu verkehren haben, so fühlen wir uns glücklich.

b. Auf den Neigungen baut sich ferner unsere berufliche Tüchtigkeit auf. Alle die geistigen und körperlichen Thätigkeiten, die wir zur Ausübung unseres Berufes lernen sollen, haben die Neigungen zur Voraussehung, daher auch diese vor dem folgeschweren Schritte der Berufswahl zu prüfen sind. Nur wenn aus Lust und Liebe gelernt und gearbeitet wird, nur wo ein dauerndes Interesse und warme Neigung sich entfalten, wird ein Fortschritt im Wissen und Können sich zeigen. In den Fächern, für welche wir keine Neigung haben, werden wir nie über die Mittelmäßigkeit emporragen. Durch häufig wiederholte Übungen, die wir, je besser sie uns gelingen, immer lieber gewinnen, nehmen wir an Sicherheit und Leistungsfähigkeit zu, sodaß sich allmählich jene Fertigfeit und Virtuosität des Handelns entwickelt, die den tüchtigen Menschen auszeichnet.

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c. Die Neigungen sind auch bedeutsam für unser sittliches Leben und für die Ausgestaltung des Charakters. Schiller nennt die Gewohnheit „des Menschen Amme“ und will damit sagen, daß sie die erste Nahrung für die Entwickelung des Willens darreicht. Wie man einen Knaben gewöhnt, wenn er jung ist, so läßt er nicht davon, wenn er alt ist".*) Nicht durch Gebote und Verbote, Ermahnungen und Strafen, sondern durch feste Gewöhnungen kann das sittliche Leben begründet werden. Wer von Jugend auf an Gehorsam, Fleiß, Ordnung 2c.

*) Spr. Sal. 22, 6.

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