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Wird die Entwicklung und Vervollkommnung der Sinnesthätigkeit durch den Unterricht kräftig gefördert, dann werden auch jene sinnlichen Reize, die als Erziehungsmittel in der Form von Strafen und Belohnungen das kindliche Wollen und Handeln beeinflussen sollen, wirkungsvoll sich erweisen. Nur giebt für die Zucht das psychophysische Gesez den Erziehern den Wink, ein mittleres Maß und einen gewissen Stufengang in der Anwendung dieser Mittel einzuhalten, da es bei einer sehr hoch gegriffenen Stärke einer außerordentlichen Steigerung bedürfen würde, wenn sie noch vom Zögling empfunden werden sollten. Daher muß die Körperstrafe die ultima ratio sein.

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11. Sinnestäuschungen.

In Goethes Erlkönig“ bemerkt der Knabe „den Erlenkönig mit Krone und Schweif", der Vater dagegen nur einen „Nebelstreifen“. Vater und Sohn haben denselben Gesichtseindruck, der aber von dem aufgeregten Knaben anders empfunden wird als vom Vater.

In Shakespeares "Macbeth" bemerkt der König bei der Tafel den Geist des ermordeten Banquo, die anderen Gäste sehen auf dem leeren Stuhle niemanden sizen. Hier ist gar kein äußerer Gegenstand vorhanden, der eine Empfindung hervorrufen könnte, und doch glaubte Macbeth einen wirklichen Sinneseindruck zu haben.

Die Form der Sinnestäuschung, bei welcher ein wirklich stattfindender Sinneseindruck phantastisch ausgeschmückt und verändert wird, heißt Illusion (Sinnestrug), die Form, bei der die Sinne nicht durch äußere Reize erregt werden, Hallucination (Sinnesvorspiegelung).

a. Illusionen kommen häufig vor. Wie viele Irrtümer laufen im gewöhnlichen Leben unter über Größe, Entfernung und Bewegung der Gegenstände! Die perspektivische Anschauung beruht auf Illusion: Alleen und Bahnschienen scheinen sich zu verengen 2c. Der eigentliche Tummelplatz der Illusion ist die Nacht, da die mangelhafte Beleuchtung die Gegenstände undeutlich hervortreten läßt und eine falsche Beurteilung derselben begünstigt. Die unermüdliche Phantasie verarbeitet dann die undeutlichen und unvollständigen Empfindungen nach zufälligen Ähnlichkeiten: Bäume werden für Menschen, Steine für Tiere, Töne, die der Wind hervorbringt, für Stimmen gehalten 2c. Illusionsfördernd wirkt auch die Furcht; der Furchtsame sieht in jedem Schatten ein Gespenst, fogar in seinem eigenen. Daß Unaufmerksamkeit und Zerstreuung die Illusionen begünstigen, erkennen wir an dem übersehen von Schreib

fehlern und am Falschlesen flüchtiger Kinder. Illusionen wollen auch die Künstler hervorrufen, z. B. die Mal r. Auch zur Unterhaltung wird die Illusion benutt; das Thaumatrop (Spielzeug) und der Kinematograph sind Illusionsmaschinen, bei denen sich Eindrücke miteinander decken die verschiedenen Bildern angehören.

b. Die Hallucination. Während bei der Illusion eine gegebene Empfindung qualitativ verändert und daher falsch aufgefaßt wird, entsteht die Hallucination dadurch, daß eine innere Vorstellung für eine wirkliche Empfindung genommen und auch veräußerlicht wird. Wenn Macbeth den Banquo sieht, so kommt dies daher, daß in ihm die Erinnerung an den Ermordeten so lebendig und stark wird, daß sie sinnliche Frische erhält und eine Empfindung auslöst, sodaß es den Anschein gewinnt, als ob ein äußerer Gegenstand den Sinnesnerven wirklich gereizt hätte.

Hallucinationen kommen in der Sphäre aller Sinne vor, am meisten in der des Gesichts (Visionen). Schwärmer glauben sich von der Madonna besucht, Trauernde sehen den geliebten Toten. Eine Hallucination des Gehörsinns zeigt uns Shakespeare in seinem Macbeth (II, 2), Macbeth mordet den Schlaf". Die „Stimmen“, welche den Sträfling im stillen Gefängnis quälen, das Glockenläuten, das wirre Geschrei und die verlegenden Bemerkungen, welche den Geisteskranken peinigen und aufreizen, sind Gehörstäuschungen.'

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Insbesondere können krankhafte Zustände des Leibes und Umstimmung des Nervensystems zu solchen Bildern führen. Säufer sehen im Delirium Ratten und Mäuse, Fieberkranke sehen die Zimmerdecke einstürzen und wollen auf dem Bette Blumen pflücken, Sterbende und Irrsinnige sehen und hören Dinge, die in Wirklichkeit gar nicht vorhanden sind. Die Traumbilder sind phantastische Illusionen, wenn sie von Sinnesreizen ausgehen, Hallucinationen aber, wenn die Erinnerungsvorstellungen sich zu sinnlichen Wahrnehmungen steigern. Auch die Hypnotisierten halten oft Vorstellungen, die ihnen suggeriert werden, hallucinatorisch für wirkliche Gegenstände.

c. Die Illusion ist demnach eine Veränderung der Qualität wirklicher Sinnesrcize, die Hallucination eine Empfindung ohne unmittelbaren Reiz von außen. Jene täuscht über das Was und Wie der Empfindung, diese über das Daß der Empfindung. Beiden gemeinsam ist die sinnliche Deutlichkeit; denn auch bei der Hallucination glauben die Kranken nicht nur zu sehen, zu hören, zu fühlen, sondern sie sehen, hören, fühlen wirklich, sodaß eine Ber chtigung der Fälschung nur mit Hilfe der anderen Sinne möglich ist. Der Grund dieser Sinnestäuschungen

liegt in körperlichen und geistigen Erregungszuständen, und nur bei einigen Erscheinungen, z. B. bei den optischen Täuschungen, ist die Urfache im Organe selbst zu finden. Im ganzen gelten hier Kant's Wort: Die Sinne täuschen nicht, nicht weil sie immer richtig, sondern weil sie gar nicht urteilen",*) und Goethe's Rat:

"

Den Sinnen kannst Du kühn vertrauen,

Kein Falsches lassen sie Dich schauen,
Wenn der Verstand Dich wach erhält.

12. Die Wahrnehmung.

1. Begriff der Wahrnehmung. Wenn wir den Stundenschlag vernehmen, so haben wir nicht bloß eine Gehörsempfindung, sondern wir wissen zugleich, daß diese Schallempfindung durch die Uhr bewirkt wird. Wir beziehen also die Empfindung, welche an sich ein innerlicher Vorgang der Seele ist, auf einen Gegenstand außer uns, der die Empfindung erzeugt. Der innere Erregungszustand der Empfindung erscheint dann als eine Wirkung eines äußeren Seins und Geschehens, welches für etwas Wirkliches gehalten, für wahr genommen wird. Darum nennt man den seelischen Zustand, bei welchem die Empfindung in die Außenwelt verlegt (projiziert) wird, die Wahrnehmung. Durch diese Beziehung auf einen Gegenstand der Außenwelt erfährt die Empfindung einen Zuwachs, der die Wahrnehmung zu einem höheren Gebilde macht; denn die Seele empfindet nicht nur den Reiz, sondern nimmt auch dessen Ausgangspunkt, das Außending, als die Ursache der Empfindung wahr. Die ersten Wahrnehmungen sind die des eigenen Leibes, der Personen und Gegenstände der Umgebung. Obgleich nun die Wahrnehmungen als seelische Gebilde nur in der Seele sind, so erlebt doch die Seele in ihnen die Gewißheit von der Wirklichkeit eines außer ihr Seienden.

2. Entstehung der Wahrnehmung. Anfänglich gehen beim Säuglinge die Empfindungen unterschiedslos ineinander über und verschwimmen zu einer dunklen Allgemeinempfindung. Wenn nun aber eine Empfindung durch ihre Stärke weit über ihren Schwellenwert gehoben wird, so löst sie sich von den anderen gleichzeitig vorhandenen Empfindungen. Fällt z. B. das Licht einer brennenden Lampe in das Auge des Kindes, so wird diese alle andern durch größere, Intensität überstrahlende Lichtempfindung mit besonderer Klarheit im kindlichen Bewußtsein auftreten, sodaß sie von den gleichzeitigen Empfindungen isoliert wird. Durch den Prozeß der Isolierung tritt nun das *) Kant, Anthropologie, S. 33.

Empfundene aus der Vielheit der Eindrücke besonders hervor und kann von den anderen leicht unterschieden werden. Die Projizierung ist mithin der erste Vorgang bei der Entstehung der Wahrnehmung. Der nun losgelöste Empfindungsinhalt wird von der Seele unmittelbar so vorgestellt, als ob er an der Lampe sich befände. Sie wird nun das Außending, von dem der Reiz ausgeht, gewahr, indem sie die Empfindung nach außen versezt; die Projizierung ist demnach der andere Vorgang bei der Entstehung der Wahrnehmung. Das Kind urteilt dabei noch nicht, daß etwa die Lampe, deren Licht es sieht, ein Objekt außer ihm wäre, sondern die Versehung des Reizes nach außen ist eine mit der Wahrnehmung selbst gegebene Thatsache. Es verknüpft sich eben bei der Wahrnehmung unmittelbar mit der Empfindung das Bewußtsein, daß mit dem Inhalt der Empfindung noch ein Objekt vorzustellen sei, von welchem der sinnliche Reiz ausgeht. Das Seiende, welches uns in der Wahrnehmung entgegentritt, nennen wir Gegenstand, es steht uns gegenüber, und deshalb können wir die Wahrnehmung als die Gegenständlichkeit der Empfindung bezeichnen.

3. Die Lokalisation. Das Projizieren der Empfindungen wird namentlich durch die Lokalzeichen begünstigt. Bei einem Insektenstich greifen wir sogleich nach der schmerzenden Körperstelle. Wir empfinden also nicht nur den Schmerz, sondern wissen auch den Ort, welcher von dem Reize getroffen wurde. Dies Bewußtsein von der Örtlichkeit der Empfindung führen wir nach Loße auf die Lokalzeichen zurück. Durch die Überstrahlung eines Hautreizes auf die danebenliegenden Partieen wird der Seele die gereizte Hautstelle merklich gemacht, sodaß infolge= dessen jeder Punkt der Haut nahezu seine eigentümliche und besondere Art hat, die Eindrücke zu empfinden, und der Reizung einer gewissen Hautstelle eine besonders gefärbte Empfindung entspricht. Wenn man von einem Punkte der Haut zum andern übergeht, so kann man einen allmählichen und stetigen Wechsel der Empfindung merken, obschon die Art des äußern Drucks dieselbe bleibt. Wenn wir den Arm, Kopf oder Fuß bewegen, wenn wir uns ans Knie stoßen oder wenn uns jemand auf die Schulter schlägt, haben wir lauter andersgefärbte Empfindungen. Es hat demnach jeder Punkt der Hautoberfläche ein anderes Lokalzeichen, sodaß wir die Reizung einer bestimmten Körperstelle von den aller übrigen zu unterscheiden vermögen. Durch die Lokalisation wird also die vorher heimatlose Empfindung an einen bestimmten Ort versezt.

Diese lokale Beziehung findet sich allein als regelmäßiger Bestandteil der Tast- und Gesichtsempfindungen. Namentlich spielt bei der Entwickelung der Lokalisation der Tastsinn die wichtigste Rolle. Die Tastorgane untersuchen sorglich jede gereizte Hautstelle und lassen so die

empfindende Seele den Ort entdecken. Der Tastsinn arbeitet namentlich durch die Hand, und es giebt keine Stelle des Körpers, die von ihr nicht berührt werden könnte. Der Körper beantwortet nun die Tastempfindung der Hand durch eine entsprechende Druckempfindung. Durch das Zusammenarbeiten der Tast- und Druckempfindungen, die sich noch mit Muskel- und Gesichtsempfindungen verbinden, gewinnt die Wahrnehmung des Ortes noch höhere Klarheit. Dabei ist der Gesichtssinn infolge der Beweglichkeit des Hauptes dem Tastsinn ein wertvoller Helfer. Die Empfindung und das Wissen vom Orte der erregten Körperstellen fallen im Anfang des geistigen Lebens nicht zusammen. Das einjährige Kind empfindet wohl den Schmerz, wie sein Schreien bekundet, führt aber seine Hand noch nicht an die schmerzende Hautstelle. Wir benußen diese Thatsache, indem wir die Kinder zeitig impfen lassen Selbst der Erwachsene lokalisiert bisweilen noch ungenau, indem er dem Arzte die erkrankte Körperstelle oft nur unbestimmt angeben kann. Die sichere und genaue Lokalisation ist vielmehr Sache der Übung und Ge= wöhnung. Sie ist für uns von großer Bedeutung; denn durch sie wird uns die Kenntnis des eigenen Leibes vermittelt und die Sicherheit in allen körperlichen Bewegungen gesteigert; auch beruht alle räumliche Orientierung auf ihr.

Die Lokalisation geht sogar über das von der Empfindung erreichbare Gebiet hinaus. Wir verlegen z. B. die Empfindungen in die Werkzeuge, die mit unseren Lastorganen in enge Berührung gebracht werden. Mit der Art empfinden wir den Widerstand und den Punkt, in welchem sie den Widerstand berührt. Der Arzt tastet mit der Sonde, der Blinde mit dem Stocke, der im Finstern Wandelnde mit den Stiefelspigen. Dieselbe Lokalisation findet statt beim Gebrauch von Feder und Bleistift, Messer und Gabel, Strick- und Nähnadel. Selbst geistiges Empfinden verlegen wir nach außen, wie die Worte hineinverseßen, hineinversenken in eine Lage, in den Gemütszustand eines andern 2. andeuten.

Die besprochenen Wahrnehmungen sind äußere Wahrnehmungen, da uns Reize durch die Sinne zugeführt werden und wir dem Wahrgenommenen einen Plag im Raume anweisen. Man spricht auch noch von einer inneren Wahrnehmung, da die Seele auch wahrnimmt, was in ihr ist und was in ihr vorgeht. Wir wissen, was wir denken, fühlen und wollen, nehmen beim Zweifel die unvereinbaren Vorstellungen wahr und vermögen anzugeben, welche Erwägungen uns zu einem bestimmten Handeln getrieben haben. Da sich diese Selbstschau ohne besondere Apparate vollzieht, fann man nicht von einem innern Sinne sprechen. Wir sehen aber daraus, daß der Saz: nihil est in intellectu, quod non ante fuerit in sensu nicht völlig richtig ist; denn die Wahrnehmung des seelischen Lebens stammt nicht aus der Außenwelt, sondern beruht in der Natur der Seele.

4. Pädagogisches. Für die Orientierung im Raume ist es von höchster Wichtigkeit, daß sich im Kinde klare und deutliche Wahrnehmungen bilden. Geschieht nun zwar die Orientierung in der Außenwelt schon

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