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Wenn Mitgefühle entstehen sollen, müssen zunächst die Gefühlszustände des anderen aufgefaßt werden. Dies ist möglich, da der Mensch seine Gefühle durch Mienen, Worte und Handlungen verrät. Werden nun solche Gefühlsäußerungen an anderen wahrgenommen, so werden dann nach dem Reproduktionsgeseße der Ähnlichkeit in uns die Vorstellungen gleicher Äußerungen und nach dem Gesetze der Gleichzeitigkeit diejenigen Gefühle, welche jene Äußerungen veranlaßten, reproduziert. Unwillkürlich schließen wir nun, daß den bei anderen wahrgenommenen Erscheinungen dieselben Gefühle zu Grunde liegen müssen. Die reproduzierten eigenen Gefühle versezen wir nun in das fremde Ich und erleben dessen Gemütszustand mit, d. h. wir empfinden unseren eigenen früheren Zustand als den gegenwärtigen des anderen Ichs, wir sympathisieren mit ihm.

Das Mitgefühl wird demnach am kräftigsten sein, wenn wir derartige Gemütszustände, in denen sich der andere befindet, selbst erlebt haben. Nur wenn wir selbst erfahren haben, was Schmerz und Lust ist und was diese Gefühle erzeugt, können wir uns in die Lage der anderen versehen und nachfühlen, wie es ihnen zu Mute ist. Nur wer selbst Zahnweh gehabt hat, nimmt lebendigen Anteil an dem Zustande, welchen der von Zahnschmerz Geplagte erleidet. Wenn wir keine eignen Erfahrungen haben, so können wir doch durch die Phantasie uns in die Gemütslage der anderen versehen. Wer kein Kind verloren hat, vermag doch nachzufühlen, was in der Seele von Eltern vorgeht, die ein geliebtes Kind zu Grabe tragen, und dem Reichen kann die Not des Armen zu Herzen gehen, je lebhafter er sich in die unglückliche Lage des Menschen hineindenken kann. Daraus geht hervor, daß wir um so mehr-sympathis sieren mit Personen, je mehr sie an Wesen, Lebensverhältnissen und Interessen mit uns selbst gemein haben. Bei allem, was ihnen widerfährt, sehen wir uns unwillkürlich an ihre Stelle und fühlen mit ihnen. Bei der Gleichartigkeit des Vorstellungskreises gelingt das Hineinversehen in den fremden Zustand am leichtesten, und so wird eine Gemeinschaftlichkeit des Gefühls erzeugt. Daher regen sich die Mitgefühle am meisten gegen Familienglieder, Altersgefährten, Mitschüler, Standesgenossen, Landsleute, Glaubensbrüder 2c.

2. Sympathetische und antipathetische Gefühle.

Bei der Wahrnehmung fremder Gefühle macht sich aber neben dem sich regenden Mitgefühle auch der eigene gegenwärtige Zustand geltend. Wird des Nachbars Haus durch Blizschlag eingeäschert, so tritt neben das Unlustgefühl über das fremde Weh unwillkürlich das Lustgefühl über den eigenen glücklichen Zustand, sodaß man erleichtert ausruft: Gott sei Dank, daß mich's nicht traf! Hat der andere in der Lotterie gewonnen oder sonst ein Glück gehabt, so hat die Vorstellung des eigenen minder

glücklichen Zustandes ein Unlustgefühl im Gefolge, welches die Mitfreude dämpft oder auch ganz aufhebt. Diese begleitenden Gefühle rufen dem nach eine Gefühlsmischung hervor und können, wenn sie zu stark auftreten, zum Widerstreite unseres Gefühls gegen den fremden Gefühlszustand anwachsen, ja die sympathischen Gefühle in antipathetische (Gegengefühle) verwandeln, sodaß gegenüber fremder Lust das Unlustgefühl des Neides und gegenüber fremdem Leid das Lustgefühl der Schadenfreude entsteht.

Es können demnach bei der Wahrnehmung fremder Gefühle folgende 4 Fälle eintreten:

1. A empfindet Schmerz über den Schmerz des B.
2. A empfindet Freude über den Schmerz des B.
3. A empfindet Schmerz über die Freude des B.
4. A empfindet Freude über die Freude des B.

Zwischen den Gefühlen des A und B findet bei 1 und 4 Übereinstimmung statt; daher sind dies die sympathetischen Gefühle, harmonische Mitgefühle, die uns eben wegen ihrer Übereinstimmung wohlthuend berühren. Bei 2 und 3 besteht ein Gegensaz; daher sind dies die antipathetischen Gefühle, die uns eben wegen der Disharmonie abstoßen und peinlich berühren. Man kann 3 wohl begreifen, wenn auch nicht billigen, da der Gedanke an das eigene Mißgeschick geweckt wird, doch 2 ist schlechthin unsittlich, da dies Empfinden gegen die Idee des Wohlwollens verstößt. Unter den Menschen finden wir 1 und 3 (Mitleid und Neid) am häufigsten, 2 und 4 (Schadenfreude und Mitfreude) am seltensten; denn ganz sittlich tief muß der gefallen sein, der sich weidet an den Schmerzen der anderen und über ihre Qualen ein Wonnefühl empfinden kann,*) und sittlich hoch muß der stehen, der ohne Beimischung von Egoismus sich über das Glück des andern herzlich freut.**) Die Mitfreude bezeichnet den ethischen Höhepunkt des Mitgefühls; das stärkste Mitgefühl ist das Mitleid.

Von den sympathetischen Gefühlen sind zu unterscheiden die sogenannte Sympathie und Antipathie, das dunkle Gefühl des Angezogenwerdens zu einer fremden Person oder des Abgestoßenwerdens beim ersten flüchtigen Eindruck. Sie beruhen auf dunklen Vorstellungen. Die eine Person berührt mich sympathisch, da sie, vielleicht mir unbewußt, in ihren Zügen, ihrer Rede, Haltung und in ihrem Benehmen mich an eine geliebte Person erinnert. Das dann in mir aufsteigende Gefühl wird unwillkürlich jener Person zugewendet. Darauf bezieht sich auch die Vorliebe für gewisse Namen, Zimmer, Speisen, Gegenstände. Manche Person wirkt abstoßend durch eine Äußerlichkeit, *) Schadenfreude ist etwas Teuflisches, daher auch Goethe an Mephistopheles, dem Repräsentanten des bösen Prinzips, diesen Zug ganz besonders hervorgehoben hat. **) „Zum Mitleide genügt ein Mensch, zur Mitfreude gehört ein Engel." Jean Paul, Hesperus.

wie durch den Geruch der Ausdünstung, schielenden Blick 2c. Oft auch gründet sich die Antipathie auf einen feinen physiognomischen Takt, der uns unbewußt aus dem Äußeren aufs Innere schließen läßt. Klarer tritt sie auf, wenn sie der Ausdruck für das disharmonische Verhältnis der beiderseitigen Naturen ist. Bei diesen Gefühlen ist es demnach nicht der Gemütszustand des anderen, welcher uns hinzieht oder abstößt, sondern die ganze Individualität des anderen ist es, welche uns, ohne daß wir den Grund klar anzugeben vermögen, anmutet oder anwidert.

3. Bedeutung der Mitgefühle.

a. Sie verbinden die Menschen miteinander. Ohne sie wären die Menschen Atomen gleich, die ohne gegenseitige Beziehung existierten. Die Mitgefühle gesellen dagegen die Menschen zu einander, machen aus dem isolierenden „Ich" das vereinigende „Wir“ und erweitern unser Leben über den engen Kreis der eigenen Persönlichkeit. Auf ihnen beruhen daher alle menschlichen Verbindungen: das gemütliche Familien- und Umgangsleben, die Freundschaften und Verbrüderungen, gute wie schlimme*) Vereine und politische Parteien, Zech- und Spielgesellschaften 2c. Gleich und Gleich gesellt sich gern."

b. Sie erwärmen und verschönen das menschliche Leben. Wie erwärmend berührt es uns, wenn wir sehen, daß es noch Herzen giebt, die an unserem Schmerz und unserer Freude teilnehmen! Dann wird der Schmerz gemildert und die Freude gesteigert: „Geteilte Freude ist doppelte Freude, geteilter Schmerz ist halber Schmerz." Sich zu freuen mit den Fröhlichen und zu trauern mit den Trauernden, beglückt auch den Mitfühlenden; denn das Mitgefühl macht sein Herz offen und weit. Der Verkehr unter den Menschen wird durch die sympathischen Gefühle freundlicher gestaltet und nimmt wohlgefällige menschenwürdige Formen an. Aus den Mitgefühlen erblüht die verfeinerte Lebensart, der Anstand und die Höflichkeit, die Äußerung einer mitfühlenden, dem anderen wohlwollenden Seele.

c. Sie veredeln die Menschen. Aus dem Mitgefühl erwächst das Wohlwollen, das Gefühl selbstloser Anteilnahme am Wohle und Wehe des Nächsten ohne Rücksicht darauf, ob die sittliche Würdigkeit des Nächsten Ursache zur Teilnahme giebt oder nicht. Wir nehmen das Wollen des Nächsten in unser Wollen auf, vergessen über dem, was den Nächsten angeht, uns selbst und drängen ihm gegenüber unsere Wünsche und unsere Ansprüche zurück. Es erwacht dann jenes Zartgefühl, das mit seinem Takt alles vermeidet, was den andern schädigen oder kränken könnte, und sich in rücksichtsvollem Verhalten gegen den Nächsten ausspricht. Dadurch bekämpfen wir den Egoismus und werden innerlich *) Waltet nicht auch durch des Übels Reiche fürchterliche Sympathie? Mit der Hölle buhlen unsre Laster, mit dem Himmel grollen sie. Schiller, Phantasie an Laura.

edler, sittlicher. Mit Recht nennt daher Schopenhauer das Mitgefühl die Basis der Sittlichkeit.

d. Sie treiben zum Dienste für die Menschheit. Die Mitgefühle drängen den Menschen, aufzugehen im Glück der andern, und treiben ihn, zur Linderung ihrer Not, zur Rettung ihres Lebens oder Eigentums und zum Heile ihrer Seele beizutragen. Die Liebesthaten unseres Heilandes, das Wirken edler Menschenfreunde, jede Opferwilligkeit und jede Hingabe des Lebens für andere, sind dem Borne tiefen Mitgefühls entsprungen. Alle Werke christlicher Barmherzigkeit und jedes warme, feste Einsehen der Kraft für eine Sache, die Tausenden zu gute kommen soll, haben ihre Wurzel im Mitgefühl.

4. Pädagogisches. Da das Mitgefühl sich zwar frühzeitig regt, aber doch von dem viel stärkeren Selbstgefühl oft in seiner Entwickelung gehemmt wird, muß es in pädagogische Pflege genommen werden.

a. In der Familie entfaltet sich das Mitgefühl zuerst. Hier tritt es dem Kinde anschaulich entgegen in dem unermüdlichen und aufopfernden Walten der Mutter, die nur für andere lebt und jedem Bedürfnisse der Familienglieder abhilft. Da im Kreise der Familie das äußere Leben mit seinen Freuden und Leiden, seinen Erlebnissen und Zufällen, ein gemeinsames ist und innerhalb des trauten häuslichen Kreises Gedanken und Empfindungen am vollkommensten sich offenbaren, so fühlen auch alle Glieder lebendig miteinander; denn wenn ein Glied leidet, leiden alle Glieder mit, und so ein Glied wird herrlich gehalten, so freuen sich alle Glieder mit.*) Wie die Eltern dem Kinde immer herzliche Liebe angedeihen lassen, so sollen sie sich auch vom Kinde lieben lassen, kleine Beweise seiner gebenden und Leistungen seiner dienenden Liebe freundlich annehmen, selbst wenn sie die Gaben und Gefälligkeiten des Kindes nicht brauchen. Zur Bethätigung des Mitleids wird das Kind angeregt durch Gewöhnung an Wohlthätigkeit und Aufsuchen von Armen und Kranken. Im häuslichen Kreise verkehrt es auch mit Tieren und pflegt Blumen, und so entstehen Barmherzigkeit gegen die Tiere und sinniger Umgang mit den Pflanzen. Die Eltern haben auch den Anblick alles dessen, was die Keime des Mitgefühls erstickt, z. B. das Schlachten der Tiere, vom Kinde fern zu halten und jede Regung von Neid und Schadenfreude zu bekämpfen.

b. Der Unterricht der Schule entfaltet das Mitgefühl bedeutend nach Tiefe und Umfang. Er hat die Aufgabe, die Teilnahme an dem Menschen überhaupt und an allem Menschlichen zu gründen, das sympathetische Interesse zu wecken. Teilnahme empfinden wir nun nicht für ein Abstraktum, sondern nur für lebensvolle konkrete Persönlichkeiten. *) 1 Kor. 12, 26.

Daher sollen dem Kinde Menschenwohl und Menschenwehe, wie Werke der Barmherzigkeit und Menschlichkeit in der biblischen Geschichte, in Geschichte und Litteraturstoffen, in den edlen Gestalten der Menschenfreunde vorgeführt werden. Damit ihnen der Seelenzustand der anderen klar wird und ihnen ihre eigenen Gefühle zum Verständnis gebracht werden, frage man sie, wie es wohl jenen Unglücklichen zu Mute gewesen sein möchte und was sie wohl selbst in einer solchen Lebenslage fühlen würden. Der Lehrer trage nur mit rechter Wärme des Gefühls vor, damit eine kräftige Erregung des kindlichen Gemüts stattfindet. Doch hüte er sich vor Überspannung des Mitgefühls; denn durch Schilderung der Leiden und des Elends einer blutigen Vergangenheit und durch Ausmalen von Marter- und Greuelscenen würde er statt lebendiger Teilnahme nur Schauder erregen.

c. Das ganze Schulleben muß der Geist des Wohlwollens und gegenseitiger Dienstfertigkeit beherrschen, damit kameradschaftliche Sympathie entstehe. Alles unfreundliche, ungefällige und zänkische Wesen ist energisch zu bekämpfen. Der Lehrer muß verhüten, daß leiblich schwache und gebrechliche, oder auch schlecht gekleidete Kinder die Zielscheibe des Mutwillens ihrer Mitschüler werden und daß im Spiel einzelne sich immer hervordrängen und ihr Übergewicht über die andern mißbrauchen. Dann mache er dem Kinde bewußt, daß Mißbrauch der Kraft gegen Schwächere feig sei, daß man den Schwachen nicht unterdrücken, sondern beschirmen solle. Jean Paul: „Ihr habt nicht sowohl die Blütenknospe der Liebe einzuimpfen, als das Moos und Gestrüppe des Ichs wegzunehmen, das ihr die Sonne verdeckt."*) Den kindlichen Egoismus wird der Lehrer besonders einschränken, wenn er selbst in Wort und That seinen Schülern gegenüber herzliche Teilnahme zeigt.

41. Das Selbstgefühl.

1. Wesen und Entstehung des Selbstgefühls.

Als Parmenio Alexander den Großen zur Annahme der von dem persischen Könige nach der Schlacht bei Issus gestellten günstigen Friedensbedingungen mit den Worten zu bewegen suchte: „Ich würde es thun, wenn ich Alexander wäre!" antwortete der glückliche Sieger: „Ich auch, wenn ich Parmenio wäre!" Aus dieser Antwort erkennen wir, daß die Siege über die persische Großmacht und das Bewußtsein seines militärischen Talentes die Ichvorstellung Alexanders bedeutend gehoben hatten; er fühlte seinen eigenen Wert und seine Größe. Seine Worte offenbarten demnach ein starkes Selbstgefühl. Das Selbstgefühl hat zum Gegen*) Levana III, § 118.

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