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Man nennt oft das Gewissen die Stimme Gottes im Menschen, und zwar mit Recht. Denn warum ist es denn dem Sünder bange, auch wenn kein Mensch Kunde von seiner Sünde hat? Weil er keine Ruhe findet, erwacht in ihm die Ahnung, daß ein höherer Richter hinter dem Gewissen stehe; eben darum hat er diese Angst. Und woher kommt es, daß das verpflichtende Gewissen das Gute unbedingt erfordert als etwas, das schlechthin sein soll? Diese konstante Forderung weist eben auf deren Urheber, dieses innere Geseß*) auf den Gesetzgeber hin. So wird das Gewissen zu einem Führer zu Gott und zum gemeinsamen Ausgangspunkte für Religion und Sittlichkeit.

3. Das Pflichtgefühl.

a. Als die Apostel bedroht wurden, das Evangelium nicht zu verfünden, antworteten sie dem jüdischen Gerichte: **) „Wir können es ja nicht lassen, daß wir nicht reden sollten 2c." Sie konnten es nicht übers Herz bringen, es nicht zu thun. Sie hatten den Auftrag von Jesu erhalten und fühlten sich nun verpflichtet, seinem Befehle nachzukommen. Jesu Forderung trat ihnen als ein Sollen entgegen, vor welchem alle Rücksichten auf etwaige Folgen ihres Thuns verblaßten. In ihnen äußerte sich das Pflichtgefühl, und zwar als Lustgefühl, weil ihr eigenes Wollen mit der sittlichen Notwendigkeit, das Gebotene zu thun, harmonierte.

Pflicht, von pflegen abgeleitet, bedeutet die verkörperte Gepflogenheit oder Gewohnheit, die uns in einem Lebenskreise gestellte Aufgabe Das Gefühl der Verbindlichkeit zu diesem bestimmten Thun und Lassen ist das Pflichtgefühl. Die allgemein giltigen Grundlagen für unser Thun und Lassen giebt uns das göttliche Gesez, während die staatlichen Geseze und Verordnungen für die einzelnen Lebenszonen genauer das Verhalten der Menschen bestimmen. Das Gesetz ist das objektiv Giltige, ein Müssen; die Pflicht ist das subjektiv Giltige, ein Sollen. Die Eltern sollen die Kinder erziehen, die Kinder sollen den Eltern unterthan sein, die Bürger sollen der Obrigkeit unterthan sein, der Mensch soll dem Nächsten in der Not beistehen. Diesen sittlichen Forderungen nachzukommen, ist unbedingte Pflicht für alle. Pflichtmäßiges Handeln ist daher sittliches Handeln.

b. Das Pflichtgefühl zeigt sich als Lustgefühl, wenn diese sittlichen Forderungen als ein inneres Gesetz im Menschen auftreten, sodaß die Pflichterfüllung in Gestalt eigenen sittlichen Wollens hervortritt, wie wir dies an den Aposteln sehen. Meist jedoch äußert sich das Pflichtgefühl als Unluftgefühl. Wenn es nämlich seinen Leiter nicht allein in der eigenen Seele hat, sondern nur von außen her Geseze herantreten und Erfüllung fordern, so wird der Seele, da sie alle finnlichen und egoistischen Neigungen unterdrücken muß, ein Zwang angethan, der sich als Unlust *) Röm. 2, 14. **) Aft. 4, 20.

geltend macht. Indem nun der noch nicht ganz feste Wille mit den sittlichen Geboten ringt, schmeckt er die Unlust der Selbstbekämpfung, die gar leicht Vernachlässigung und Übertretung der Pflicht hervorruft.

c. Das Pflichtgefühl erwacht spät und wächst nur mit zunehmender Einsicht und Erfahrung. Während der Jüngling noch mit Begierden, Affekten und Leidenschaften zu kämpfen hat und gar oft aus Streben nach sinnlichem Behagen die Pflichten, selbst wenn er sie auch erkannt hat, einfach nicht erfüllt oder gar ihren Forderungen gegenüber die eigenen Wünsche und Begehrungen zur Geltung bringen will, seht der gereifte Mann einen Stolz und seine Ehre darein, seinen Pflichten immer unverbrüchlich nachzukommen.

Wegen seines hohen ethischen Wertes ist das Pflichtgefühl frühe zu wecken und immer lebendig zu erhalten. Es dient dem schwankenden Willen als sicherer Wegweiser, regt ihn zur Thätigkeit an und erfüllt ihn mit Entschlossenheit und Kraft, allzeit das Gute zu thun. Nur bei lebendigem Pflichtgefühl schmeckt der Mensch die Herrlichkeit und den Segen treuer Pflichterfüllung. *)

4. Das Rechtsgefühl.

a. Als Josephs Brüder sahen, wie ihr Vater auf Joseph die Fülle seiner Gaben häufte, gegen sie aber kargte, wurde ihre Seele von Unlust ergriffen. Sie sagten sich, daß sie doch alle als Söhne des Vaters gleiches Recht und gleiche Ansprüche auf die Liebesbezeigungen des Vaters hätten, und daher empfanden sie Josephs Bevorzugung als eine Verleßung ihres Rechts. Es regte sich in ihnen das Rechtsgefühl.

Das Recht hat den Zweck, die aus dem Zusammenleben der Menschen untereinander hervorgehenden Verhältnisse und Beziehungen zu regeln, indem es dem Einzelnen seine Wirkungssphäre genau bestimmt und gewisse Normen für sein Handeln aufstellt. Dem einzelnen Menschen muß innerhalb dieser objektiven Normen ein möglichst großer Spielraum eingeräumt werden, in welchem er seine Kraft entfalten und sein Lebensgeschick gestalten kann, und darin darf er nicht durch andere, etwa durch Vorrechte anderer, behindert und gehemmt werden. Widersprechen nun die Worte oder Handlungen anderer jenen Normen, so entsteht ein sittliches Unlustgefühl; harmonieren sie mit ihnen, so stellt sich ein sittliches Lustgefühl ein. Das Rechtsgefühl quillt demnach aus der Harmonie oder Disharmonie des Wollens und Handelns mit der

*) Es ist ein tiefer Segen,

Der aus dem Wort dir spricht:
„Erfülle allerwegen

Getreulich deine Pflicht!“

Welch Ziel du magst erstreben,
Sei's nah, sei's hoch und fern,
Weiht nicht die Pflicht dein Leben,
So fehlt dein guter Stern.
Julius Hammer.

Idee des Rechts. Wenn wir von der Bedrängung der Schweizer durch Geßler und Landenberg hören, erglühen wir in Unwillen gegen die, welche alte gute Rechte hemmten, beugten und unterdrückten, und wenn ein rechtsloser Zustand aufgehoben wird, wenn langwierige Streitigkeiten ausgeglichen werden, wenn ein lange unterdrücktes Recht zur Geltung kommt und einen Verbrecher die ihm gebührende Strafe trifft, dann findet die Idee des Rechts ihre Bestätigung, und die Übereinstimmung zwischen dieser Idee und dem vorliegenden Falle erfüllt die Seele mit Befriedigung. b. Das Rechtsgefühl meldet sich schon frühe im Kinde. Die ergiebigste Rechtsquelle ist das Spiel. Durch die Spielsachen zieht die Vorstellung des Mein in die kindliche Secle ein. Wird dem Kinde nun ein Spielmittel weggenommen, so erhebt es ein Klagegeschrei, weil es die Handlung als einen Eingriff in sein Recht empfindet. Bei den Spielen selbst haben sich feste Regeln gebildet, die respektiert werden müssen, wenn überhaupt das gemeinsame Spiel von statten gehen soll. Wehe dem Kinde, das gegen diese Regeln frevelt! Von allen Seiten tönt der Ruf: Das gilt! das gilt nicht!" Anfänglich hat das Rechtsgefühl einen egoistischen Charakter; der Mensch wacht eifersüchtig über seine Rechte und entbrennt in heftigem Zorn für Wahrung dieses eigenen Rechts, während er das Recht anderer weniger anerkennt. Auch überwiegt die negative Seite des Rechtsgefühls (Verabscheuen des Unrechts) die positive Seite (Achtung des fremden Rechts). Dieses egoistische Rechtsgefühl muß daher durch die Idee des Wohlwollens verklärt werden, wenn sich der Mensch zur Sittlichkeit erheben soll. Da die Jugend bei ihrem starken Selbstgefühl ungemein empfindlich gegen jede Ungerechtigkeit ist und einen feinen Instinkt für das Recht und Unrecht, welches ihr ge= schieht, besißt, so können nur Erzieher von strenger Gerechtigkeit und Unparteilichkeit das Rechtsgefühl bilden und stärken.

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c. Das Rechtsgefühl ist bedeutsam, da auf ihm die Rechtlichkeit und die sittliche Tüchtigkeit des Menschen beruht. Wer ein lebhaftes Rechtsgefühl besigt, verlegt Niemandes Rechte und giebt jedem, was ihm gebührt;*) er weicht anderseits aber auch keinen unberechtigten Ansprüchen, sondern beharrt auf seinem Rechte und kämpft mutvoll für dasselbe. Aus der Verbindung des Rechtsgefühls und des festen Willens erblüht daher der sittliche Charakter.

5. Pädagogisches.

Da das sittliche Gefühl den Willen fürs Gute und Edle in Schwung seht und ihn von verwerflichen Handlungen abhält, muß es eine Haupt

*) Geibel: Recht ist hüben zwar wie drüben,
Aber darnach sollst du trachten,

Eigne Rechte mild zu üben,
Fremde Rechte streng zu achten!

sorge der Erziehung sein, dasselbe auszubilden und zu verfeinern, damit es die übrigen Gefühle und Gedanken durchdringt und beeinflußt.

a. Die wichtigste Stätte für die Bildung des sittlichen Gefühls ist die Familie. Im häuslichen Kreise erhält das Kind die ersten sitt= lichen Anschauungen. Das Vorbild der Eltern und die Handlungen der Liebe und des Fleißes, von denen sie tägliche Beweise geben, rufen im Kinde bald die Gefühle der Abhängigkeit, Anhänglichkeit und des Vertrauens hervor. Was die Eltern thun, ist gut und erregt sein Gefallen. Ihre Gebote sind ihm das Gute, ihre Verbote sind ihm das Böse. Vater und Mutter sind ihm das gegenwärtige leibhaftige Gewissen; in seinem Bewußtsein sind sie die Zeugen von jeder seiner Handlungen, und hat es etwas Böses gethan, so ruft ihr Erscheinen die Gefühle der Scham, Reue und Furcht hervor, in denen sich die Regungen des Gewissens zeigen. Das Verhältnis zu den Geschwistern giebt, wenn es vom Gefühle des Wohlwollers getragen wird, den emporkeimenden sittlichen Gefühlen größere Stärke. Das Gemeinschaftsleben selbst, die sittliche Atmosphäre, die die Familie umgiebt, der Fleiß, mit dem jedes Glied seinen Pflichten nachkommt, die Eintracht, die alle verbindet, die Liebe, die alle durchdringt, die Erholungsstunden, welche die Glieder zusammenführen, die Familienfeste, die zur Bethätigung gegenseitiger Liebe auffordern - alles dies wirkt unmittelbar auf das kindliche Gemüt. Gestärkt werden die erwachenden sittlichen Gefühle durch sittliche Urteile, welche das Kind vernimmt. Die Eltern loben seinen Fleiß, tadeln oder strafen seine Unart, sprechen über das Verhalten der Geschwister oder über die Handlungen anderer Personen, indem sie ihre Urteile mit Billigung oder Mißbilligung begleiten, sodaß sich im Kinde richtige sittliche Urteile und Begriffe bilden. Namentlich wirkt die Sprache auf die Entwickelung des sittlichen Gefühls ein durch die sogenannten parteiischen Wörter, die neben der Bezeichnung einer Handlung oder eines Gefühls zugleich ein billigendes oder mißbilligendes Urteil enthalten. Wörter wie Streit, Neid, Mord, Mut, Fleiß und Wohlthätigkeit haben nicht nur den einen begrifflichen Inhalt, sondern schließen zugleich eine tadelnde oder lobende Nebenbedeutung in sich. Das Urteil wird dadurch zu einem Merkmale der Handlung bez. Empfindung und wird mit derselben zu einer Gesamtvorstellung verbunden, sodaß Wohlthätigkeit und Lob, Streit und Tadel dem Kinde zusammengehören. Alle späteren Erfahrungen, die es macht, alle Personen, mit denen es verkehrt, alle Bücher, die es liest, bestätigen diese Zusammengehörigkeit und verstärken daher das sittliche Gefühl. Durch die Urteile der Eltern gewinnt es allmählich feste sittliche Normen, in denen es dann einen Maßstab zu eigner sittlicher Beurteilung hat. Ohne einen

sittlichen Maßstab würde sein Gefühl immer etwas Unklares und Schwankendes behalten.

b. Die Schule wirkt auf das sittliche Gefühl der Kinder durch die Zucht, den Unterricht und die Persönlichkeit des Lehrers. In diesem größeren geselligen Kreise hat das Kind eine alle Schüler gleicherweise bindende Ordnung zu respektieren, muß sich in den Grenzen guter Sitte bewegen, dem Lehrer Gehorsam leisten, sich in beharrlichem Fleiße üben und mit den gleichberechtigten und gleichverpflichteten Genossen friedlich verkehren und deren Rechte anerkennen. So stellt das Schulleben dem Kinde größere sittliche Aufgaben, die sein ethisches Gefühl anregen und stärken. An der Spize dieses Organismus steht der Lehrer, der durch sein sittliches Vorbild und die gerechte Führung und Behandlung der Kinder ihnen eine Fülle kräftiger Anregungen bietet. Auch der Lehrer muß das Gewissen des Kindes sein und dessen sittliches Bewußtsein durch seine Zustimmung oder Mißbilligung, wie durch ein richtiges Strafverfahren mehr und mehr klären. Durch den Unterricht soll er das Kind in Berührung bringen mit idealen Personen, an denen sich das Gute in möglichst ungetrübter Schönheit und Deutlichkeit zeigt, sodaß die sittlichen Gefühle an Wärme gewinnen. Das sittliche Urteil wird durch Betrachtung von Beispielen aus der Erfahrung des Kindes und aus dem öffentlichen Leben zu einem klaren, bestimmten und allgemein giltigen erhoben. Wenn ein wahrhaft sittlicher Geist alles Leben und Lehren in der Schule durchweht, so wird im Kinde eine sittliche Gesinnung heranreifen, die sich bestrebt, immer ein unverlegtes Gewissen zu haben, beides gegen Gott und die Menschen. Aft. 24, 16.

39. Die religiösen Gefühle.

1. Wesen und Entstehung. Bei der Rückkehr von Haran erkannte Jacob, daß sein ganzer Reichtum an Herden und Gütern ihm von Gott allein geworden sei, und in tiefer Bewegung sprach er: „Ich bin zu geringe aller Barmherzigkeit und Treue, die du an deinem Knechte gethan hast." Das Bewußtsein der göttlichen Gnadenführung erregte demnach sein Gemüt so, daß er beten mußte und in reinster Hingebung an Gott dessen Gnade und die eigene Unwürdigkeit bekannte. Er war ergriffen von den Gefühlen der Dankbarkeit und Demut gegen Gott. - In „Schäfers Sonntagslied" von Uhland findet sich an einem von ungewöhnlicher Himmelsklarheit ausgezeichneten Sonntagsmorgen der schlichte Schäfer allein auf weiter Flur. Feierlicher Glockenklang tönt aus den umliegenden Dörfern an sein Ohr und stimmt ihn zur Andacht, daß er mitten in der schönen Natur anbetend niederkniet, die Nähe des

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