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die Natur, da sie das Naturschöne nie übertrifft und deshalb ihre Urbilder dem Naturschönen entnehmen muß.

Die Kunst bezweckt nur die Darstellung des Schönen: der Künstler, der die Idee in seiner Seele geboren hat, drückt dem toten Stoff diese Idee ein, sodaß er den Schein des Lebens gewinnt und zur schönen Erscheinung wird. Dient die Kunst noch anderen Zwecken, so nennt man sie abhängig, wie die Baukunst, Schauspielkunst, Schreibkunst 2c. Die freien Künste haben dagegen keinen Nebenzweck, sondern wollen nur das Schöne darstellen, und zwar:

a. die Plastik in Gestalten körperlicher Stoffe,

b. die Malerei durch auf eine Fläche aufgetragene Farben,
c. die Musik in Tönen eines Tonsystems,

d. die Poesie durch die Mittel der Sprache.

Plastik und Malerei sind die Künste des Raumes; ihre Schöpfungen sind zur Wahrnehmung fürs Auge bestimmt, weshalb sie nur Momente zur Anschauung bringen und sich als Künste der Ruhe charakterisieren. Sie verwenden naturgeschaffene Stoffe und stellen meist das Naturleben dar; da sie das schon Existierende in idealisierter Weise wiedergeben, nennt man sie die bildenden Künste.

Musik und Poesie sind die Künste der Zeit; ihre Schöpfungen sind zur Wahrnehmung fürs Ohr bestimmt, daher sie eine Aufeinanderfolge von Momenten darstellen und sich als Künste der Entwickelung charakterisieren. Sie verwenden menschlich geschaffene Mittel und stellen das Seelenleben dar, weshalb man sie aussagende oder redende Künste nennt. Da sie die Ideen, die sie wecken wollen, nicht äußerlich vorführen, wie die bildenden Künste, sondern in der Seele des Genießenden entstehen lassen, sehen sie starke Apperzeptionsmassen voraus, wenn sie dem Verständnis zugänglich sein wollen.

Willst den Dichter du verstehn,

Mußt in Dichters Lande gehn.

Der wahrhaft ästhetische Genuß findet nur durch Auge und Ohr statt. Bei anderen Sinnesorganen spricht man zwar auch von Künsten; so wirken Turn-, Fecht-, Tanzund Reitkunst auf das Muskelgefühl ein, die Kochkunst auf den Geschmack, die Kunstparfümerie auf den Geruch. Doch diese Künste regen nicht Ideen an, sondern dienen nur, ein physisches Bedürfnis in angenehmer, wohlthuender Art zu befriedigen.

5. Bedeutung des Schönen.

a. Das Schöne ist eine reiche Quelle des Genusses und der Erholung. Es verschönert das Leben und macht unser Dasein freudenreicher und menschenwürdiger. Es giebt keine bessere Erholung von der ernsten Arbeit als den Genuß des Schönen in Natur und Kunst, einen Spaziergang in die schöne Umgebung zu machen oder durch Lektüre und

Musik das Gemüt zu erfrischen. Durch die Beschäftigung mit dem Schönen
wird der Geist vor Erstarrung bewahrt und frisch und jugendlich erhalten.
b. Das Schöne dient zur Erhebung des menschlichen Geistes.
Indem der Mensch das Schöne auf sich wirken läßt, schaut er hinein
in den inneren Gehalt der sinnlichen Erscheinung; neue Gesichtspunkte
erschließen sich ihm, und neue Ideen werden in ihm angeregt.*) Er schaut
das Leben im Glanze der Vollkommenheit, „wirft die Angst des Irdischen
von sich" und fehrt auf Augenblicke ins verlorene Paradies zurück.
In wessen Herz die Kunst sich niederließ,

Der ist vom Sturm der rauhen Welt geschieden,
Ihm öffnet sich, durchwallt vom süßen Frieden,
In enger Brust ein stilles Paradies.

c. Das Schöne hat ferner einen bedeutenden Einfluß auf die Veredelung und Läuterung unseres Wesens. In dem Maße, als wir Wohlgefallen am Schönen finden, werden wir auch empfänglicher für das Wohlgefallen am Edlen; denn die feine Empfindung für das Schöne erhöht die Sensibilität für das Schickliche, Anständige, Ethische. Das Sittliche gehört mit in den Umfang des Schönen, es ist das Schöne, wie es sich in Handlungen darstellt. Wer daher einen regen Schönheitssinn hat, ist für sittliches Wollen und Handeln geschickter als der, dem die Empfänglichkeit für das Schöne abgeht. Das Schöne hinterläßt im Gemüte gleichsam eine Spur seiner selbst; es nährt in ihm das Gute. Der Geist wird sittlich gesund durch den Anhauch des Schönen, wie der Körper durch das Einatmen einer reinen Luft. Feuchtersleben: „Halte dich an das Schöne! Vom Schönen lebt das Gute im Menschen."

d. Das Schöne ist endlich ein Führer zu Gott, ein Vorhof, durch den man in das Reich Gottes gelangt. Es ist der würdigste Träger des Religiösen und dieses der tiefste Inhalt des Schönen. Die enge Beziehung zwischen dem Ästhetischen und Religiösen giebt Rückert an: Wie kann fromm derjenige sein, Da Frömmigkeit ist die Liebe allein Der das Schöne nicht liebt, Zum Schönsten, das es giebt? Darum zieht uns die Schönheit der Natur hinauf zu Gott, von dessen Herrlichkeit sie selbst ein Abglanz ist; deshalb gießt die Kunst, besonders Musik und Poesie,**) neuen Frieden und neues Gottvertrauen in die *) Nur_durch das Morgenthor des Schönen dringst du in der Erkenntnis Land (Schiller, die Künstler).

**) O Geist der Dichtung, göttliche Gabe, du

Deckst mit Blumen den Abgrund des Lebens zu.

Du beutst Weihe der Freude und Balsam dem Schmerz,

Ziehst goldene Fäden vom Himmel ins Herz,

Auf daß schon hienieden ein Abglanz der Klarheit

Uns werde vom Urborn des Lichts und der Wahrheit. (Bodenstedt.)

Seele, und deshalb haben alle Künste als wirksamste Mittel der Andacht und der Gottesverehrung im christlichen Kultus ihre Vollendung gefunden. 6. Pädagogisches.

Die Fähigkeit, das Schöne zu empfinden, und der Trieb, es darzustellen, zeigen sich schon früh im Kinde. Es freut sich am Bunten und Glänzenden, wird erheitert durch Musik, wendet sich mit Vorliebe schön gekleideten und hübschen Personen zu und sucht in seinen Spielen Schönes darzustellen. Dieses natürliche Wohlgefallen am Schönen müssen nun Familie und Schule pflegen, für schöne Eindrücke sorgen und durch Fernhalten alles Geschmacklosen den Sinn für das Schöne vor Abstumpfung bewahren.

a. Die Zucht hat das Kind zu gewöhnen, daß es das Schöne um und an sich zur Erscheinung bringt. Sie darf daher am Kinde und in seiner Nähe nichts Unschönes dulden. Das Haus muß in seiner ganzen Einrichtung und die Schule muß im Lehrzimmer und Schulgarten ein Bild freundlicher Ordnung bieten, die kein Kind ohne Tadel verlezen darf. Dann wird das Leben in Ordnung den Sinn für Ordnung großziehen und das Kind alles Ungeordnete unerträglich und häßlich finden. Doch auch am Kinde soll alles einen gefälligen Eindruck machen: das Kleid, die Haltung, der Gang, die Mienen, der Blick und die Rede. Die Zucht muß daher an Wohlanständigkeit gewöhnen; Anstand ist das Benehmen, das dem Kinde wohl ansteht. Alles Unreinliche und Geschmacklose in der Kleidung, alles Ungelenkige und Täppische in der Haltung, alles Rohe und Gemeine in Rede und Gebahren muß ernst bekämpft und durch den Ausdruck lebhaftesten Abscheues zum Gegenstande des Mißfallens werden. Dadurch schafft die Zucht die notwendige Vorstufe für die eigentliche ästhetische Bildung.

b. Die Erziehung wecke Natursinn und Naturfreude. Die Eltern sollen die Kinder oft in die Natur führen, sie den Reiz jeder Jahreszeit schmecken und die Schönheit des Regenbogens und Abendrotes, der Berg- und Flußlinien und die wundersame Farbenpracht der Geschöpfe bewundern lassen. Die Naturfreude läßt sich zwar nicht aufnötigen, aber sie zieht ein in die junge Brust, wenn das Kind über das Gesicht der Eltern beim Anschauen des Naturschönen einen Strahl von Freude gleiten sieht und deren Urteile vernimmt. Aller mutwilligen Zerstörung des Schönen, allem sinnlosen Abreißen von Blumen*) und herzlosem Verlezen oder Töten von Tieren ist streng zu wehren, damit das Kind eine *) Rückerts „Blumenpflücken":

Nur eines unterlaß ich nicht, dir einzuschärfen,

Daß du nichts pflücken sollst, nur um es wegzuwerfen.
Bedenk: der schöne Strauß des Frühlings blüht für dich,
Doch wenn du ihn nicht brauchst, so laß ihn blühn für sich.

zarte Scheu vor dem Schönen empfindet und erkennt, daß man sich wohl an der Natur erfreuen, aber nicht vergreifen darf. Die Schule hat nun durch den naturkundlichen Unterricht noch tiefer in die schönen Gebilde und die erhabenen Erscheinungen der Natur einzuführen und die ästhetischen Verhältnisse der Naturformen zum Bewußtsein zu bringen, damit das ästhetische Wohlgefallen und die rechte Wertschäßung des Naturschönen noch gesteigert werden.

c. Die Erziehung führe in das heitere Gebiet der Künste ein. Die Kunst tritt dem Kinde zunächst entgegen in den Bildern und Zieraten und in allen den Dingen, die zum Schmucke des Hauses dienen. Um diese Dinge, die den Stempel der Kunst tragen, muß nun der Erzieher nach Palmers trefflichem Ausdruck ein Gitter ziehen,*) d. H. das Kind soll sie entweder gar nicht antasten oder doch mit Respekt behandeln. Dann wird es sich auch gewöhnen, die öffentlichen Denkmäler, Bauwerke, Grabsteine 2c. mit Scheu zu betrachten, und nicht wird sich in ihm der Mutwille regen, dieselben zu besudeln oder zu verunstalten. Das Schöne stammt vom Schonen, es ist zart

Und will behandelt sein wie Blumen edler Art

Wie Blumen vor dem Frost und rauher Stürme Drohen,
Will es beschirmet sein, verschont von allem Rohen.

Rückert.

Die Schule führt nun das Kunstschöne in Wort, Bild und Ton vor. Die Lektüre der poetischen Stücke darf nur so erfolgen, daß das Kind wirklich Genuß an der Dichtung empfindet und das ästhetische Empfinden in ihm anschwillt. Die Erklärung der Lesestücke darf den poetischen Duft nicht abstreifen, sondern muß durch Darlegung der ästhetischen Verhältnisse, des Gedankeninhaltes und der Formenschönheit den ästhetischen Genuß erhöhen. Das Bild dient nur dann als Bildungsmittel des Geschmacks, wenn es vom Kinde äußerlich mit den Sinnen, innerlich mit Gemüt und Phantasie erfaßt wird; daher sollen selbst alle Veranschaulichungsmittel, die im Unterrichte gezeigt werden, einen wahrhaft ästhetischen Charakter tragen. Wenn das Kind selbst Formen und Bilder entwirft, wie im Schreiben und Zeichnen, so muß es mit dem klaren Verständnisse der schönen Formen die sauberste und korrekteste Ausführung verbinden. — Ästhetisch bildend wirkt das Lied, wenn Ton und Wort eine ästhetische Einheit bilden, sodaß der Charakter der Melodie dem Empfindungsinhalt des Gedichtes entspricht. Ist das Lied von poetischem und musikalischem Werte, so wird es dem Kinde zur Erhebung und Freude gereichen.

*) Palmer, evang. Pädagogik, S. 297.

37. Die intellektuellen Gefühle.

1. Wesen des intellektuellen Gefühls. Froh rief ich aus: „Ich hab's gefunden!" Mit diesen Worten bezeichnet im „Kampf mit dem Drachen" der junge Ordensritter die Stimmung, die ihn ergriffen, als er nach langer Überlegung das rechte Mittel, die Insel von der Plage zu befreien, erkannt hatte. Mit denselben Worten durchlief Archimedes die Straßen von Syrakus, als er die Bestimmung des spezifischen Gewichts gefunden hatte. Diese Beispiele zeigen, daß die Erkenntnis der Wahrheit Lust in der Seele hervorruft. Wenn das Denken ohne Mühe eine Gedankenreihe durcheilt, empfindet die Seele unmittelbar Befriedigung, und das Gefühl, welches die Akte unseres Denkens und Erkennens begleitet, nennen wir das intellektuelle oder Wahrheitsgefühl. Wie der Lichtstrahl, der ein Dunkel durchbricht, dem Auge wohlthut, so erfreut die Erkenntnis der Wahrheit die Seele. Dies Gefühl beruht auf dem Drange unseres Geistes nach Erweiterung, Zusammenhang und Übereinstimmung unseres Wissens; es entspringt dem Triebe nach Wahrheit, den Lessing höher als den Besiß der Wahrheit stellt.*) Schiller nennt daher das Wahrheitsgefühl das eigentliche Lebensgefühl des Menschengeistes.

2. Das intellektuelle Gefühl begleitet die intellektuellen Akte.

Schon das Kind fühlt geistiges Behagen, wenn die Apperzeption leicht gelingt, die Reproduktion schnell von statten geht, der Lauf der Vorstellungen lebhafter wird und der Denkprozeß ohne Hemmung verläuft. Bei einer richtigen Antwort leuchtet sein Auge in freudiger Stimmung auf. Noch intensiver wird das Wissensgefühl, wenn wir inne werden, wie unser geistiger Besit an Reichtum, Klarheit und Ordnung zunimmt, wenn wir einen lange nicht begriffenen Zusammenhang zwischen Vorstellungen erkennen, wenn wir eine schwierige mathematische Aufgabe gelöst haben oder ein neuer großer Ausblick ins Reich der Wahrheit sich uns öffnet. Bei jedem Forschen nach Wahrheit atmet die Seele logische Luft. Das Wahrheitsgefühl meldet sich auch, wenn die Wahrheit von anderen ausgesprochen wird: eine treffende Bemerkung und ein schlagendes Argument erregen uns in wohlthuender Weise, und ein guter Wię bewirkt, daß wir lachen vor intellektueller Lust.

Anderseits martert uns der Mangel an Ordnung und Zusammenhang unseres Wissens, das Verworrene und Nebelhafte unsrer Vorstellungen. Mißbehagen befällt uns bei Nichtgelingen und langsamem Vorrücken unserer geistigen Arbeit. Was für eine unangenehme Beschäftigung ist es für einen Schüler, der einen lateinischen Schriftsteller

*) Lessings Werke IX., Duplif, S. 99.

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