Page images
PDF
EPUB

fchauung entsteht. Empfindungen, Wahrnehmungen und Anschauungen bringen uns das durch physiologisch-physikalische Reize bewirkte innere Geschehen der Seele zum Bewußtsein.

2. Auch wenn die Objekte verschwunden sind, bleiben die durch sie hervorgerufenen Zustände in unserer Seele, wenn auch in abgeschwächter und abgeblaßter Gestalt. Diese zurückgebliebenen Reste der ursprünglichen Vorgänge sind Vorstellungen. Die Grundgeseße des Vorstellungslebens sind das Gesetz der Beharrung und das Gesetz der Enge des Bewußtseins. Die Grunderscheinungen der Bewegung der Vorstellungen sind das Sinken (Verdunkelung, Hemmung), deren Notwendigkeit auf der Enge des Bewußtseins beruht, und das Steigen (Reproduktion), dessen Möglichkeit auf dem Geseze der Beharrung begründet ist. Infolge des Gesetzes der Verbindung fallen gleiche Vorstellungen zusammen, die gleichartigen assoziieren sich zu Assimilationen und die ungleichartigen zu Komplikationen; die gleichzeitigen und aufeinander folgenden schließen sich zu Reihen zusammen. Während das Gedächtnis den wachsenden Reichtum der Vorstellungswelt sichert und zugleich die Erscheinungen der unveränderten Reproduktion_umfaßt, schafft die Phantasie durch Veränderung der Vorstellungsverbände neue Gebilde und durch Beseitigung minderwertiger oder störender Elemente Allgemeinbilder oder psychische Begriffe. Aus der Wechselwirkung der Vorstellungen und aus der Verbindung mit neuhinzutretenden Wahrnehmungen und Anschauungen geht der Prozeß der Apperzeption hervor, durch welchen der vorhandene Geistesinhalt weiter entwickelt, bereichert und gestaltet wird. Das Zusammentreffen des vorhandenen Vorstellungskreises mit neuem Wahrnehmungs- oder Vorstellungsinhalte führt eine Spannung des Vorstellens herbei, die wir die Aufmerksamkeit nennen.

3. Die psychischen Gebilde, welche als bloße Ergebnisse des psychischen Mechanismus mit mancherlei Mängeln behaftet sind, bedürfen der Prüfung Berichtigung und Ergänzung. Die bewußte und absichtliche Bearbeitung derselben vollzieht das Denken, welches die vielen Vorstellungen gemeinsamer Merkmale hervorhebt und diesen inhaltlichen Wesenskern zu einer Einheit zusammenfaßt. So entstehen die logischen Begriffe. Die fortschreitende Annäherung der psychischen Begriffe an das Ideal der logischen Begriffe ist an das Urteil gebunden, das die Verknüpfbarkeit der Vorstellungen und Begriffe ausspricht. Die Wahrheit und logische Notwendigkeit des Urteils legt der Schluß dar. Die in ihrer Vollkommenheit gedachten. Begriffe, die die Erfahrung überschreiten, sind die Ideen, von denen die theoretischen als Postulate des Erkennens und die praktischen als Normen des Handelns sich erweisen. Die ordnende Kraft des Denkens nennen wir den Verstand, die schaffende die Vernunft. Unser Denken wird objektiviert und mitteilbar gemacht durch die Sprache.

4. Alle unsere Vorstellungen beziehen sich auf ein Zentrum, sammeln sich alle um eine Achse, um die sie sich bewegen, um die Jch-Vorstellung.

Durch das Selbstbewußtsein gewinnt die Seele sich selbst und erkennt fich als Person.

B. Das Gefühlsleben.

[blocks in formation]

1. Wesen des Gefühls. Im blinden König“ Im „blinden König“ von Uhland hören wir den Greis mit beweglichen Worten den Räuber bitten, ihm die Tochter wiederzugeben, deren Harfenspiel und Lied sein Alter mit Sonnenschein umwoben hatte. Welche Veränderung war nun durch den Verlust seiner Tochter in seinem Innern vorgegangen? Die glücklichen Stunden, die ihm seine Tochter bereitet hat, steigen in seiner Erinnerung auf, aber die Vorstellung der durch die Entführung seiner Tochter eingetretenen Öde seines Hauses hemmt jene Vorstellungen, und diese Hemmung ruft eine Erregung der Seele hervor, die sich in Klagen Luft macht. Als jedoch der ritterliche Sohn mit dem väterlichen Schwert das Befreiungswerk ausgeführt hat, fällt jene Hemmung weg, der auf dem Herzen des Königs lastende Druck weicht, und diese kräftige Hebung der Vorstellung des von nun an ungetrübten Glücks thut sich in lauter Freude kund. Wir sehen daraus, daß die wechselnden Zustände der Vorstellungen die Seele nicht gleichgiltig lassen, sondern in ihr eine Erregung hervorrufen. Die innere Erregung, durch welche die Seele auf die Hemmung oder Förderung des Vorstellungsverlaufs reagiert, nennen wir Gefühl.

Die Gefühle haben demnach in den Vorstellungen ihren vermittelnden Ursprung und können ohne dieselben gar nicht entstehen. Oft sind sie auch Begleiterscheinungen der Vorstellungen. Wenn wir z. B. erwägen, welchen großen Schaden der Ausbruch eines Krieges dem Vaterlande bringen kann, so beschleicht uns bei einem drohenden Kriege das Gefühl der Bangigkeit, während die Erinnerungen an die deutschen Großthaten der Jahre 1870/71 unsere Herzen vor Freude höher schlagen lassen. Wie innig das Gefühl an die Vorstellung gekettet ist, erkennt man daraus, daß sich bei dem Wechsel der Vorstellungen auch das Gefühl ändert; z. B. wird die Trauer um den Tod des Vaters gemildert durch den Gedanken, daß der Tod in vorliegendem Falle eine Erlösung von schweren Leiden sei. Das Gefühl nimmt auch teil am Schicksale der Vorstellungen. Verblaßt die Vorstellung, so stumpft sich auch das Gefühl ab; wird sie reproduziert, so taucht auch das Gefühl

*) Vgl. meinen Auffah in der deutschen Schulpraxis 1887, Nr. 49 und 50.

wieder auf; ändern sich die Verbindungen der Vorstellungen, so nimmt auch das Gefühl eine andere Färbung an.

Wenn das Gefühl nun auch an die Vorstellung geknüpft ist, so ist es doch nicht bloß als ein Zustand der Vorstellung anzusehen, sondern als ein selbständiges Element der Seele. Wir können Vorstellungen haben, die uns völlig gleichgiltig lassen, z. B. Quadrat, Malaie zc. Ebenso ist es eine Erfahrungsthatsache, daß nicht immer das entsprechende Gefühl auf eine besondere Vorstellung folgt; was dem einen wertvoll erscheint und in ihm Gefühle auslöst, kann den andern ganz kalt lassen. Auch ist das bloße Innewerden der Hemmung oder Förderung der Vorstellungsthätigkeit nicht das Gefühl, sondern dessen Wesen liegt in der Erregung der Seele, und diese entsteht erst, wenn die Förderung oder Hemmung der Vorstellungsthätigkeit von selbst dem Bewußtsein sich aufdrängt. Es machen also die Vorstellungen erst eine andere Qualität in der Seele lebendig, die nun eben zu den Vorstellungen hinzutritt. In der Seele liegt offenbar die Fähigkeit, auf gewisse, von Vorstellungen ausgehende Anreizungen in Form von Gefühlen zu reagieren. Die Vorstellungen sind wohl die vermittelnden geistigen Gebilde, welche Gefühle wecken und zur Äußerung anregen, aber erzeugen können sie sie nicht, obschon sie mit ihnen verbunden sind. Das Gefühl hat demnach seinen Grund im innersten Wesen der Seele, es ist eine Grunderscheinung unseres Geistes, die durch Erscheinungen des Vorstellens (Empfindungen, Wahrnehmungen, Vorstellungen, Urteilen, Ideen) vermittelt wird.*)

2. Grundformen des Gefühls. Die Gefühle charakterisieren sich als seelische Zustände der Lust und Unlust. Jede Förderung ihres Seins erlebt die Seele in einem Gefühle der Lust, jede Hemmung in einem Gefühle der Unlust. Wenn uns eine schwere Arbeit gelingt, oder wenn wir einen geliebten Freund wiedersehen, fühlen wir Freude; wenn wir eine unsittliche That begehen sehen oder wenn unser gutes Recht uns vorenthalten wird, fühlen wir Schmerz. So sind Lust und Unlust die Grundformen des Gefühls, die Pole, zwischen denen sie hin- und herwogen. Lust und Unlust bezeichnet man als Ton (Färbung) der Gefühle; der Ton teilt demnach die Welt der Gefühle in ein Reich der Freude und ein Reich des Leides, die durch die Indifferenzlage als den gefühlsfreien, gleichgiltigen Zustand voneinander getrennt sind.

*) Der erste, welcher dem Gefühl eine selbständige Stelle zwischen Intellekt und Willen anzuweisen suchte, war Tetens (1736-1805) in seinen philos. Versuchen über die menschl. Natur, doch bekam die Ansicht vom Gefühl als einer Grundäußerung der Seele erst durch Kant (1724-1804) allgemeine Verbreitung.

Es drängt sich nun hier die Frage auf, ob es auch gemischte Gefühle in dem Sinne gäbe, daß Lust und Unlust so ineinanderflössen, daß man von trauriger Freude oder fröhlichem Schmerze reden könnte. Zwar führt uns Homer die Andromache beim Abschiede Hektors „lächelnd mit Thränen im Blick“*) vor, zwar läßt Goethe die Iphigenie sagen: „Es wälzet sich ein Rad von Freud' und Schmerz durch meine Seele"**) und läßt den Faust zu Mephisto sprechen:

Dem Taumel weih' ich mich, dem schmerzlichsten Genuß,

Verliebtem Haß, erquickendem Verdruß -. ***)

Doch findet hier ein so schnelles Nacheinander von Lust und Unlust statt, daß die einzelnen Zustände kaum auseinander zu halten sind und es daher den Anschein gewinnt, als ob sie gleichzeitig vorhanden wären. Gefühlsmischungen sind daher nur Oszillationen von Gefühlen. So findet ein inneres Hin- und Herwogen zwischen Lust und Unlust statt beim Heimweh (Salis: „Wird mir wohl und dennoch trüben Sehnsuchtsthränen meinen Blick"), bei der Hoffnung (Vorstellungen von gegenwärtigem Mangel und künftigem Glück), beim Gefühl des Erhabenen (Beugung des Herzens durch die Vorstellung der Unfaßbarkeit, Ausweitung und Erhebung des Herzens durch die Vorstellung der Größe), bei den Gefühlen des Tragischen (Mitleid für den Helden und Wohlgefühl einer gerechten Vergeltung), bei der Wehmut (Trauer über den Verlust des Dahingeschiedenen und Erinnerung an all das Erfreuliche und Gute, das wir ihm zu danken haben) 2c.

3. Die Gefühle nach ihrer quantitativen Verschiedenheit. a. Die Stärke der Gefühle. In Maria von Bethanien schlug das religiöse Gefühl stärker als bei ihrer geschäftigen Schwester, da sie für religiöse Wahrheiten eine höhere Empfänglichkeit hatte. So zeigte sich das sittliche Gefühl bei Sokrates stärker als bei seinen Zeitgenossen; in Brutus regte sich das Rechtsgefühl energischer als bei Kollatinus; in dichterisch gesinnten Seelen spricht das ästhetische Gefühl lebendiger als in nüchternen Naturen. Die Stärke des Gefühls hängt demnach von der Gemütsart oder von der Disposition der Seele ab. Auf diese Disposition haben noch Geschlecht, Alter, Temperament, das körperliche Befinden, wie auch die Jahres- und Tageszeiten Einfluß. Die Frauen haben meist stärkere Gefühle als die Männer; die Jugend erglüht in feurigeren Gefühlen als das spätere Lebensalter; der Choleriker wird heftiger erregt als der Phlegmatiker; der Gesunde giebt sich der Lust mehr hin als der Kranke; im Herzen des Südländers lodert eine wärmere Glut als im Nordländer, am Abend sind wir den Gefühlserregungen mehr preisgegeben als am Morgen.

*) Ilias VI, 484. **) Iphigenie III, 1. ***) Grotesche Ausg. V, S. 60.

Im Jahre 1870 regte sich in Deutschland das Nationalgefühl in einer Glut und Stärke wie nie zuvor; der Übermut Napoleons und die Erinnerung an die frühere Vergewaltigung durch Frankreich regten die Gemüter auf. Die Stärke des Gefühls ist demnach mitbedingt von der Stärke der Vorstellung. Den Grad der Stärke, den die Hemmung oder Förderung des Vorstellungsverlaufs erreicht haben muß, um den Zustand innerer Erregung, in dem sich die Seele befindet, dem Bewußtsein bemerkbar zu machen, nennt man die Gefühlsschwelle, die von gleicher Bedeutung wie die Empfindungsschwelle (S. 9) ist, da durch sie der größte Teil der Erregungszustände dem Bewußtsein entzogen wird und so dem bewußten Geistesleben die nötige Ruhe und Stetigkeit gewahrt bleibt. Je lebhafter und mächtiger die Vorstellungen und je zahlreicher und ausgebreiteter die Vorstellungsverbindungen sind, die den Lust- oder Leidinhalt des Gefühls bestimmen, desto intensiver und mächtiger wird sich das Gefühl ankündigen. Besondere Stärke haben die Vorstellungen, welche Beziehung auf unser persönliches Wohl oder Wehe haben. Je wichtiger uns eine Sache erscheint, je näher uns eine Person steht, desto mehr regen die an sie geknüpften Vorstellungen die Tiefen der Seele auf. So vermag Angst um entfernte Lieben sich immer tiefer in das Gemüt einzubohren, und die erregte Phantasie kann dann dem Gefühle eine Stärke geben, daß das Herz bis zum Springen voll ist“. Wenn wir jemandem eine schmerzliche Nachricht mitzuteilen haben, so bereiten wir ihn vor. Je plöglicher und unerwarteter ein Eindruck die Seele trifft, desto stärker kündet sich das Gefühl an. So vermag eine plögliche Freude oder ein jäh eintretender Unglücksfall den Grund der Seele mächtig aufzuregen. Die Stärke der Gefühle hängt demnach auch ab von der Plöglichkeit des Eindrucks. Die Gefühle stehen überhaupt unter dem Gesez des Gegensazes. Das Gefühl der Lust ist stärker, wenn es auf den Schmerz folgt, als wenn es sich an den Zustand der Gleichgiltigkeit anschließt. Je schneller daher die großen Gegensäße der Lust und Unlust aufeinanderfolgen, desto mächtiger schlägt das Gefühl; der vorausgehende Schmerz verleiht der Freude größeres Leben, die vorausgehende Freude dem Schmerz schärferen Stachel.

[ocr errors]

b. Die Dauer des Gefühls. Die Gefühle haben meist eine flüchtige, proteusartige, in fortwährender Verwandlung begriffene Natur; denn wie die erregte Wasserfläche allmählich sich beruhigt und bald spiegelglatt daliegt, so klingen auch Gefühle bald aus, da die Seele eine heftige Erregung nicht lange ertragen kann. „Die Zeit heilt alle Wunden." Doch herrscht hinsichtlich der Dauer eine große Mannigfaltigkeit. Manche Gefühle treten nur kurze Zeit auf, um sofort, wenn ihr Grund beseitigt

« PreviousContinue »