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uns vor Schmerz, der unser Leben geradezu unerträglich machen und uns zur Verzweiflung treiben würde.

Anm. Die Stärke der Empfindung nimmt mit der Stärke des Reizes zu; die Erfahrung zeigt aber, daß sich bei starken Reizen die Intensität der Empfindung nur langsam erhöht und demnach die Empfindungsstärke mit der Reizstärke nicht gleichen Schritt hält. So nehmen wir, wenn 50 Kinder ein Lied singen und noch 10 andere Kinder in dasselbe einstimmen, keinen Zuwachs der Empfindungsstärke wahr. Bei stärkeren Reizen ist demnach ein größerer Reizzuwachs erforderlich, wenn eine Zunahme der Empfindungsstärke merklich werden soll. Das Verhältnis der Stärke der Empfindung. zur Stärke des Reizes ist besonders Gegenstand der experimentellen Psychologie geworden, da auf diesem Gebiete, wo äußeres und inneres Geschehen sich begegnen, die in der Naturwissenschaft üblichen Methoden des Messens und Rechnens vorzüglich anwendbar sind. Das Verhältnis von Reiz und Empfindung hat nun E. H. Weber (Leipzig) näher bestimmt. Er fand durch Versuch, daß man zu einem Gewichte von 300 g, das man auf der unterstüßten Hand hält, ein Gewicht von 100 g legen muß, wenn ein Unterschied im Drucke merklich sein soll, und daß ein Gewicht von 600 g um 200 g vermehrt werden muß, wenn ein Empfindungsunterschied aufgefaßt werden soll. Daraus formulierte er das Gejeß: Der Zuwachs des Reizes, welcher eine merkliche Änderung der Empfindung hervorbringen soll, muß immer in demselben Verhältniszu der Reizgröße stehen, zu welcher er hinzukommt. So beträgt der Unterschied bei den Tastempfindungen 1/37 bei der Muskelempfindung 1,,, bei der Lichtempfindung 100. Für die Empfindungsstärkedifferenz, um wie viel nämlich eine Empfindung stärker oder schwächer sei, als die andere, hat darauf Fechner den genauen mathematischen Ausdruck gefunden: die Empfindungszuwüchse verhalten sich zu den Reizzuwüchsen wie die arithmetische Reihe (1, 2, 3, 4 x.) zu der geometrischen Reihe (1, 2, 4, 8 2c.). Man nennt dies Grundgeset der physiologischen Psychologie das Weber-Fechnersche oder das psychophysische Gesez. Es läßt sich, da dasselbe Verhältnis, welches zwischen Reiz und Empfindung besteht, auch die Logarithmen und ihre Logarithmanden zeigen, kurz so ausdrücken: Die Empfindung wächst wie der Logarithmus des Reizes, z. B.

0 1 2 3 4 Empfindungszuwachs

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c. Der Ton der Empfindung. Im „Sänger“ von Goethe empfindet der greise Sänger beim Anblick des Saales ein lebhaftes Ergößen und nach dem Leeren des ihm dargereichten Bechers ein erquickendes Behagen. Auch uns berührt jeder auf uns wirkende mittelstarke Reiz an= genehm (Frühlingsgrün, Lerchenschlag, Rosenduft, ein wohldurchheiztes Zimmer im Winter), und jeder zu schwache oder zu starke Reiz ruft in uns ein Mißbehagen hervor, welches weiterhin in Schmerz übergeht, z. B. das grelle Sonnenlicht auf einer Schneefläche, der Pfiff einer nahen Lokomotive, eine Speise bei übermäßiger Süße oder Säure, die Berührung einer Flamme, der Geruch des Schwefelwasserstoffs. Jede Empfindung ist demnach von Regungen der Lust oder Unlust begleitet, sodaß sie uns angenehm oder unangenehm berührt und unser Befinden beein

flußt. Die Förderung oder Hemmung, welche eine Empfindung in die vorgefundene Stimmung bringt, nennen wir den Ton der Empfindung.

Der Ton hängt namentlich von dem Höhengrade der Nervenerregung ab. Solche Reize, welche den Nerven zu einer seiner Leistung entsprechenden Thätigkeit erregen, empfinden wir als angenehme, zu starke dagegen, welche den Nerven zu sehr angreifen, oder zu schwache, welche ihn nicht genügend erregen, werden als unangenehm empfunden. So berührt es den Lehrer unangenehm, wenn ein Schüler so leise antwortet, daß er ihn nicht verstehen kann, oder wenn ein anderer die Thür ins Schloß wirst. Auch können krankhafte Zustände des Nervensystems und Überanstrengung der Empfindungsnerven bei übermäßiger Arbeit eine solche gesteigerte Empfindlichkeit hervorrufen, daß selbst schon schwache Reize als bedeutender Schmerz empfunden werden. Durch Vermeidung körperlicher und geistiger Überanstrengung, durch Abwechselung von Arbeit und Erholung, durch Abhärtung und Stählung des Körpers können wir verhüten, daß unser Empfinden nicht in Empfindelei ausarte.

Während das Verhältnis des Tons zur Stärke ein gerades ist, steht der Ton zum Inhalt in umgekehrtem Verhältnisse. Die lebhafteste Betonung haben innere (physiologische) Reize, Vorgänge in unserm Körper, wie körperliche Schmerzen, sodann die Geruchs- und Geschmacksempfindungen, welche vorzüglich eine Beziehung auf unser Wohl und Wehe haben, aber nur einen unbestimmten Beitrag für die Erkennbarkeit der sie veranlassenden Reize liefern. Dagegen haben die Gesichts- und Gehörsempfindungen, welche sich durch Klarheit des Inhalts auszeichnen, eine nur mäßige Betonung, was von großer Wichtigfeit ist, weil so die für die Erkenntnis der Außenwelt brauchbarsten Sinnesempfindungen den Störungen durch zu starke Betonung am wenigsten ausgesetzt sind.

Inhalt, Stärke und Ton sind die Eigenschaften der Empfindungen; doch sind sie nicht objektive Unterschiede derselben, sondern subjektive Gesichtspunkte, unter denen wir die eine unteilbare Empfindung betrachten. Der Inhalt giebt die Klarheit der Empfindung, sodaß wir sie von andern unterscheiden können, die Stärke giebt die Deutlichkeit, sodaß uns ihr Inhalt bewußt wird, und der Ton die Bedeutung der Empfindung für uns, für unser körperliches und geistiges Befinden Inhalt und Stärke sind die wichtigsten Eigenschaften; denn wenn diese wegfallen, verschwindet auch der Ton.

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4. Dauer des Bewußtwerdens der Empfindung.

Eine an unserm Auge vorüberfliegende Flintenkugel sehen wir nicht, weil der Eindruck zu kurze Zeit gedauert hat. Wenn wir den Geschmack einer Speise oder eines Getränkes prüfen wollen, müssen wir nach der ersten Berührung durch die Zunge noch eine Weile warten, ehe uns der Geschmack bewußt wird. Zwischen einem Nadelstich am Finger und der Schmerzempfindung schiebt sich, wenn auch dem unmittelbaren Bewußtsein beides gleichzeitig zu erfolgen scheint, doch eine nicht unbeträchtliche Zeit ein. Für das Zustandekommen einer Empfindung bedarf es demnach immer einer gewissen Zeit, welche zwischen der Einwirkung des Reizes und der bewußten Reaktion verläuft. Wir nennen sie (nach Erner) die Reaktionszeit und das Minimum der Dauer derselben, das zum Be= wußtwerden einer Nervenerregung nötig ist, die Zeitschwelle. *)

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Die Zeit wird nicht sowohl auf die Leitung des Eindrucks in den Nerven bis zum Gehirn verwandt für die Leitung von der Fußspizze bis zum Gehirn wird nicht längere Zeit gebraucht als für die Leitung vom Auge zum Gehirn sondern vielmehr auf das Bewußtwerden der Empfindung. Nach den Untersuchungen des Physikers Helmholz beträgt das Intervall bei einem Reize, dessen Leitung von den Fingerspißen bis zu den Centralorganen nur 160 Sekunde beansprucht, zum Bewußtwerden eines Reizes 1/10 Sekunde. Um demnach 2 Eindrücke als voneinander unterschieden auffassen zu können, bedarf es mindestens 110 Se= kunde. Noch mehr Zeit wird gefordert, wenn ein Ueberlegungsakt hinzutritt; so ist die Zeit, welche nötig ist, um etwas mit Bewußtsein zu lesen, verschieden, je nachdem man den allgemeinen Inhalt oder die einzelnen Vorstellungen oder die einzelnen Buchstaben im Bewußtsein erfassen will. Ein noch größerer Zeitaufwand wird erfordert, wenn der Reiz bewußt werden soll, um willkürliche Bewegungen auszulösen. Der Klavierspieler braucht vom Erblicken der Note e bis zum Anschlag der Taste e mindestens 1/5 Sekunde; denn dieser Zeitraum umschließt: Einwirkung des Reizes, Fortleitung der Erregung bis zum Gehirn, Bewußtwerden derselben, Veranlassung einer Bewegung im Gehirn und Fortpflanzung der Erregung des motorischen Nerven bis zum Finger Daraus geht auch hervor, daß es gefährlich ist, vor einer heranbrausenden Lokomotive über die Schienen zu laufen, weil sie zwischen ihrem ersten Erblicken und der Ausführung schon viel näher gekommen ist.

Die Zeitschwelle ist bei den verschiedenen Empfindungsqualitäten verschieden: Licht, Farbe, Ton, Geschmacks- und Tasteindrücke brauchen je eine bestimmte Zeitdauer zum Bewußtwerden. Auch die Stärke des

*) Ochorowicz, Bedingungen des Bewußtwerdens S. 30 f.

Reizes wirkt auf sie ein; denn je geringer die Stärke der nervösen Erregung, desto mehr Zeit wird beansprucht. Beim Lesen verkürzt sich die Zeit bei großen Buchstaben, während sie sich bei den kleinen verlängert. Folgen viele Eindrücke schnell aufeinander, so wird immer mehr Zeit erfordert; denn da durch jede Empfindung eine zeitweilige Abstumpfung der gereizten Nervenfaser eintritt, kann der rasch auf den ersten folgende Eindruck sich nicht so schnell geltend machen, als wenn keine Empfindung vorangegangen wäre.

Andrerseits verkürzt sich die Zeit, wenn das empfundene Objekt bekannt war; denn dann ist im wahrnehmenden Subjekt die Vorstellung von dem Objekte schon vorhanden, und die Empfindung verstärkt nur das vorgestellte Bild. Darum kürzen auch Wiederholung und Übung die Zeit, welche zum Empfange eines Eindrucks und zu dessen Erwiderung gebraucht wird. Nach dem Gesez der Übung tritt der Prozeß um so leichter und schneller ein, je häufiger er vor sich gegangen ist. Beim Musiker, der die Noten eines Stückes kennt, vermag deren Anblick fast unmittelbar Bewegungen auszulösen, wie auch bei dem geübten Schreiber die Buchstaben so zu sagen aus den Augen in die Finger laufen. Vorzüglich beeinflussen die Aufmerksamkeit und der Zustand der Erwartung die Zeitdauer. Erwartete Eindrücke werden schneller percipiert; kommt aber ein Eindruck unerwartet, so wird das Bewußtwerden verlangsamt.

Bei zu langer Dauer des Reizes stumpft sich der Sinn ab, sodaß bei steter Einwirkung desselben Reizes gar keine Empfindung entsteht. So empfindet der Lehrer den Geruch der Schulstubenluft nicht mehr, der Müller merkt nicht das Klappern der Mühle, der Uhrmacher nicht das ununterbrochene Tiktak. Das Maximum der Dauer kann man daher als Ermüdungsschwelle bezeichnen. Eine Empfindung ist demnach nur möglich, wenn der Reiz die Dauer der Zeitschwelle er= reicht hat, ohne die der Ermüdungsschwelle zu übersteigen.

Anm. Die Empfindungszeit wird durch die Nachempfindung vergrößert. Als Nachempfindung bezeichnet man die Erscheinung, daß die Empfindung länger dauert als ihr Reiz. Wenn wir z. B. in eine helle Flamme sehen und schnell die Augen schließen, sodaß der Reiz nicht mehr wirken kann, so sehen wir ein Nachbild; die Lichtempfindung dauert noch eine kurze Zeit fort, weil der durch den Reiz hervor= gerufene Erregungszustand der Nezhaut die äußere Einwirkung überdauert.

5. Die Sinne.

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Alle Empfindungen werden durch die sogenannten fünf Sinne vermittelt. Diese haben mit Ausnahme des Tastsinns einen besonderen Apparat im Kopfe des Menschen. In diese Sinnesorgane, die

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den Empfang der von der Außenwelt ausgehenden Reize ermöglichen sollen, münden die Sinnesnerven, die in unmittelbarer Verbindung mit dem Gehirn stehen. Den einfachsten Apparat weist der Tastsinn auf, nämlich die den Körper bedeckende und einhüllende Haut, weshalb auch die Nerven dieses Sinnes durch den ganzen Leib sich verzweigen, sodaß keine Stelle der Haut ohne Empfindung ist.

Wir haben oben gesehen, daß die Nervenfunktionen auf chemischen Prozessen beruhen, die eben stattfinden, wenn die in die Sinnesorgane gelangten Reize dazu den Anstoß geben. Die Reize werden nun auf die Sinnesnerven entweder auf mechanischem Wege übertragen, indem durch den physikalischen Impuls die Nerven beeinflußt werden, den empfangenen Reiz von dem peripherischen Ende zum centralen fortzuleiten — so ge= schieht es beim Gehörssinn und Tastsinn, die deshalb die mechanischen Sinne genannt werden, oder es werden, wie beim Gesichts-, Geruchsund Geschmackssinn, durch die Sinnesreize in den chemischen Nervenprozessen eine Veränderung bewirkt und dadurch ein Vorgang hervorgerufen, der dann erst als der eigentliche, die Sinnsnerven anregende Reiz wirkt. Darum werden der Gesichts-, Geruchs- und Geschmackssinn als chemische Sinne bezeichnet.

Ihrem Werte nach teilt man die Sinne ein in höhere und niedere. Ein Sinn hat um so größere Bedeutung, je feiner und vollkommener entwickelt sein Organ ist, je weniger die durch ihn vermittelten Empfindungen von Gefühlen der Lust und Unlust begleitet sind und je mehr er zur Entwickelung und Bereicherung des seelischen Lebens beiträgt. Nach diesen Seiten hin zeichnen sich aus der Gesichts- und Gehörssinn, weshalb man sie die höheren Sinne nennt, zumal ihre Reize erst durch Vermittelung von Medien (Äther, Luft 2c.) wirken, sodaß bei ihnen eine bedeutende Fernwirkung und dadurch ein reicher Erwerb möglich werden. Den Geruchs- und Geschmackssinn bezeichnet man als die niederen Sinne, da sie fast ausschließlich der Sphäre des animalischen Lebens dienen. Der Tastsinn nimmt eine mittlere Stellung zwischen den höheren und niederen Sinnen ein. Dieser Rang ist schon durch den Wirkungskreis der Sinne angedeutet; denn das Auge und Ohr dienen nur einem Zwecke: das Auge nur zum Sehen, das Ohr nur zum Hören. Die Zunge dagegen ist nicht bloß Sinneswerkzeug, sondern auch Sprachwerkzeug; die Nase dient außer zum Riechen auch als Atmungsorgan und zur Modulation der Stimme, der Tastsinn endlich vermittelt die verschiedenartigsten Empfindungen: Berührungs- und Spannungsempfindungen, Wärme- und Kälteempfindungen und Organempfindungen. Ihrem Range entsprechend, entwickeln sich auch die Sinne in der Reihenfolge vom Niederen zum Höheren; denn Organ-, Taft- und Geschmacks

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