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ruhenden Gesezen. Denn wie im Naturleben absolute Gesezmäßigkeit im Geschehen herrscht, so ist auch ein großer Teil des seelischen Lebens mechanischen Geseßen unterworfen. Diese ohne unser Wissen und Wollen sich vollziehende Wirkungsart der geistigen Zustände nennt man den psychischen Mechanismus.

Man unterscheidet nun nach Strümpell*) vier Grundgesetze des psychischen Mechanismus.

I. Das Gesez der Beharrung.

a. Alles in der Seele Ge

wordene dauert fort, meistens zwar in der Nacht der Bewußtlosigkeit, aber es bleibt doch dauernder Besißstand der Seele, so gewiß die Seele selbst fortexistiert. In dieser Fortdauer der geistigen Zustände spricht sich das Gesetz der Beharrung aus.

Die Erfahrung zeigt uns zwar, daß wir so vieles Erlebte vergessen, manche Vorstellungen durch den Hinzutritt neuer Elemente sich umbilden und modifiziert erscheinen, manche Verbindungen und Aufeinanderfolgen von Vorstellungen sich lösen 2c., und doch sind diese Erscheinungen kein Gegengrund gegen die Annahme des Gesetzes der Beharrung. Denn jene Vorstellungen und Vorstellungsreihen sind aus Mangel an Interesse, Aufmerksamkeit und Übung gar nicht zum wirklichen Inhalte der Seele geworden. Es ist ganz natürlich, daß das, was die Scele nur sozusagen streifte und sich in ihr nicht festsezte, auch wieder verschwindet. Jede Thätigkeit aber, in welche die Seele einmal ihr ganzes Wesen hineingelegt hat, beharrt in ihr unvertilgbar; von dem wirklich Angeeigneten geht nichts verloren. Oft verbinden sich mit Vorstellungen andere von solcher Stärke und Bedeutung, daß sie jene gleichgiltigeren und schwächeren verdunkeln und zeitweilig verdrängen. Wenn aber die Hemmung und andere modifizierenden Ursachen zurücktreten und der den früher bewußten Vorstellungen angethane Zwang weicht, so kehren diese wieder zu ihrem früheren Vorstellen zurück, sodaß selbst das Älteste in der Seele wieder jung werden und kräftig wirken kann.

b. Das Gesetz der Beharrung ist von fundamentaler Bedeutung für unser Geistesleben. Wenn alles, was in der Seele sich bildet, sofort nach seiner Entstehung wieder vernichtet würde, so könnte keine ununterbrochene Weiterentwickelung des seelischen Lebens stattfinden. Alles geistige Wachstum kann sich nur so vollziehen, daß sich das Neue an die bereits vorhandenen Vorstellungen anschlicßt; demnach ist das Gesetz der Beharrung das Grundgesetz aller geistigen Entwickelung.

*) Strümpell, psych. Pädagogik, S. 194-234.

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Aus demselben lassen sich folgende Folgerungen ableiten:

1. Es giebt kein absolutes Vergessen (vgl. S. 74). Nur solche Vorstellungen, bei deren Aneignung der Geist nicht in voller Stärke thätig war, sind „versunken und vergessen“.

2. Das Gedächtnis ist keine besondere Seelenkraft. Das Beharren der Vorstellungen liegt vielmehr in der Natur der Seele selbst und ist eine psychische Notwendigkeit.

3. Der natürliche Zustand der Vorstellungen ist das Vorstellen, der Zustand des Unbewußtseins wird ihnen durch andere Urfachen aufgenötigt. Die unbewußten Vorstellungen sehen daher dem ihnen aufgedrungenen Zustande Widerstand entgegen und werden gegenüber den hemmenden Vorstellungen in Kräfte umgewandelt. (S. 43).

4. Das jeweilig bewußte Seelenleben wird durch die unbewußten Vorstellungen, sobald zwischen ihnen und dem jezigen Inhalte des Bewußtseins ein inneres Verhältnis besteht, beeinflußt und bestimmt. II. Das Gesez der Verbindung (Kontinuität). a. Die Ans schauung (S. 31) lernten wir als eine Zusammenfassung von Wahrnehmungen kennen, die einen gemeinsamen Ursprung haben. Die qualitativ verschiedenen Wahrnehmungen schließen sich zu einer Einheit zusammen, indem wir sie eben als Eigenschaften dem angeschauten Dinge beilegen. Dasselbe Streben, untereinander in Verbindung, in ein Verhältnis oder eine Beziehung zu treten, finden wir auch bei den Vorstellungen. Diese bilden Assoziationen (S. 47), je nachdem sie nach Ähnlichkeit oder Kontrast oder je nach der räumlichen oder zeitlichen Folge sich verknüpfen. Alles in der Seele drängt nach Verbindung hin, da die einzelnen Vorstellungen isoliert gar nicht zu bestehen vermögen. Die Thatsache nun, daß diese Verknüpfungen, Assoziationen und Zusammenhänge mit Notwendigkeit aus der Natur der Seele folgen, nennt man das Geseß der Verbindung (Kontinuität). Es sind daher alle Gesamtvorstellungen (S. 37), Assimilationen und Komplikationen (S. 49) als Wirkungen dieses Gesezes Produkte des psychischen Mechanismus.

b. Das Gesetz der Verbindung ist bedeutungsvoll für das Seelenleben. 1. Es waltet als das ordnende Prinzip der Seele und läßt die psychischen Zustände als ein zusammenhängendes Kontinuum erscheinen.

2. Es dient dem Geseze der Beharrung, da die zusammengelöteten Vorstellungen gegen jede Verdunkelung widerstandsfähiger werden und deshalb an Dauerhaftigkeit gewinnen.

3. Auf ihm beruht die mittelbare Reproduktion. Da die Vorstellungen Zusammenhänge und Verbände bilden, so muß eben eine

Vorstellung die mit ihr zu derselben Gruppe gehörigen bald aus dem Bewußtsein mit fortziehen, bald sie wieder ins Bewußtsein mit zurückführen.

4. Kraft dieses Geseßes werden auch unsere Empfindungen mit den dazu gehörigen leiblichen Zuständen verknüpft, z. B. mit den Reflexbewegungen, wie mit den später von uns unwillkürlich ausgeführten Bewegungen des Gehens, Stehens, Sprechens, Schreibens 2c. So beherrscht dieses Gesetz auch einen großen Teil unserer Handlungen.

III. Das Gesetz der Ausschließung. a. Wenn wir, mit einer wissenschaftlichen Arbeit beschäftigt, einen Brief erhalten, so werden bei der Lektüre desselben sofort alle Vorstellungen, die uns vorher bewußt waren, zurückgedrängt. Es ist uns unmöglich, gleichzeitig mehrere Vorstellungen in derselben Klarheit in unserem Bewußtsein zu erhalten. Die Vorstellung Dreieck kann mit der Vorstellung Viereck nicht gleichzeitig in unserem Bewußtsein sein. Da somit jede Vorstellung an ihren eigenen Bewußtseinsakt gebunden ist und für sich besteht, muß eine Vorstellung der anderen weichen, eine die andere ablösen. Die Thatsache nun, daß eine Vorstellung die andere im Bewußtsein ausschließt, nennt man das Gesetz der Ausschließung. Es beruht auf der Enge des Bewußtseins (S. 42).

Das Gesez der Ausschließung steht im Gegensaße zum Geseße der Beharrung, da es eine Ablösung der Vorstellungen fordert, während dieses eine Fortdauer der Vorstellung verlangt, und zugleich im Gegensaße zum Geseze der Kontinuität, da es nach Trennung, dieses aber nach Verbindung der Vorstellungen drängt.

b. Die Bedeutung dieses Gesezes beruht in folgendem:

1. Es erklärt uns, warum Vorstellungen nicht gleichzeitig, sondern immer nacheinander im Bewußtsein erscheinen. Wenn wir einen Gegenstand beschreiben oder die Erlebnisse einer Reise erzählen, immer zwingt das Gesez der Ausschließung die Vorstellungen, nach und nach ins Bewußtsein zu treten. So zeigt uns dieses Geseß, daß die Aufeinanderfolge (Succession) der Zustände das wesentliche Merkmal des geistigen Lebens ist, durch welches es sich von den sinnlichen Zuständen unterscheidet, die nebeneinander existieren. In der Seele giebt es schlechterdings keine nebeneinander bestehenden bewußten Vorstellungen.

2. Auf diesem Geseze beruht die Möglichkeit, die Vorstellungen zu unterscheiden; denn indem sie einander ablösen, werden sie uns als besondere, für sich bestehende Bewußtseinsinhalte bewußt.

3. Es erklärt uns das Unbewußtwerden der Vorstellungen und deren unmittelbare Reproduktion. Eine Vorstellung muß der anderen weichen und wird demnach unter die Schwelle des Bewußtseins

gedrückt. Nun aber soll nach dem Geseze der Beharrung die Vorstellung fortdauern. Dadurch wird die Vorstellung, die von der anderen gehemmt wird, in eine zurückstrebende Kraft umgewandelt (S. 43), sodaß sie, sobald die Hemmung weicht, aus eigener Kraft zur unbehinderten Klarheit zurückkehrt.

4. Durch die Succession werden wir uns bewußt, daß von den Vor stellungen die eine früher, die andere später ins Bewußtsein kommt. Dadurch gewinnen wir die Zeitvorstellung (S. 91).

IV. Das Gesez der Reihenbildung. a. Die Erfahrung zeigt uns, daß, wenn wir von einem Anschauungsobjekte oder Erlebnisse die einzelnen Vorstellungen ins Bewußtsein bringen wollen, unser Vorstellen zum Vorstellen des Einzelnen werden, d. i. in Succession übergehen muß. Die reihenmäßige Anordnung, welche nun die Vorstellungen annehmen, beruht auf der Enge des Bewußtseins. Ein weiterer Grund dieser Reihenbildung liegt in unserer Sprache; denn wenn wir auch aller Vorstellungen bewußt wären, würden wir doch genötigt sein, beim Sprechen und Schreiben, sowie beim Hören und Lesen unsere Gedanken in Reihen zu ordnen. Die naturwüchsigen Reihen (S. 60), z. B. Wahrnehmungsreihen und phantasiemäßige Reihen, haben nun keine feste Aufeinanderfolge ihrer Glieder und daher auch keine bestimmte Länge; sie sind Abbilder unserer jeweiligen Gedankenassoziation. Doch fühlt sich unsere Seele auch getrieben, solche Vorstellungen, die einen gemeinsamen Charakter haben, in Reihcnform einzustellen; das hinzutretende Denken giebt dann den einzelnen Gliedern einen bestimmten Ort zwischen zwei anderen Gliedern, sodaß festgegossene Reihen entstehen, die vom ersten bis zum letzten Gliede in derselben Folge vorwärtsschreiten. Die Thatsache nun, daß die Seele zufolge ihrer Natur genötigt ist, die Vorstellungen in Reihenform zu ordnen, nennt man das Gesetz der Reihenbildung.

b. Dieses Gesetz ist von großer Wichtigkeit für das Seelenleben. 1. Durch die Reihenbildung wird in unsere Vorstellungen Ordnung gebracht. Chne dieselbe würde unser Vorstellungsschatz ein wirres Durcheinander sein, das uns nur belästigen würde.

2. Da sich das Gemeinsame durch Wiederholung in der Reihenform verstärkt, wird es zum Allgemeinen erhoben. Dadurch entstehen Allgemeinvorstellungen (S. 38), wie aus der Zahlenreihe 2, 4, 6, 8, 10 die Vorstellung der geraden Zahl, aus der Reihe 1, 3, 5, 7, 9 die der ungeraden Zahl, aus der Tonreihe c, d, e, f, g, a, h, c die Tonleiter, aus der Tonreihe c, e, g der Akkord, aus der Reihe Ost, SüdWest, Nord die Vorstellung der Himmelsgegend. Dadurch arbeitet

das Gesetz der Reihenbildung dem bewußten Denken vor, und die Seele entzieht sich, indem sie vom Konkreten zum Abstrakten hinaufsteigt, allmählich den Wirkungen des psychischen Mechanismus.

3. Durch die Verknüpfung der Vorstellungen in Reihenform gewinnen wir eine Übersicht über das ganze Gedankenfeld. Die Reihen sind Lichtstrahlen, durch welche wir die zusammengehörigen Vorstellungen überschauen. Darum beruht die Bildung des Menschen wesentlich auf einem System von Reihen.

4. Das Gesez der Reihenbildung dient in vorzüglicher Weise den anderen Geseßen; denn durch die geseßmäßig geordnete Aneinanderreihung steigert es die Beharrungskraft der Vorstellungen, durch die strenge Bindung der einzelnen Glieder schafft es ein zusammenhängendes Ganzes und durch die feste Stelle, welche es jedem cinzelnen Gliede zwischen den anderen anweist, crhalten alle Glieder erst bestimmten Inhalt und werden voneinander ausgeschlossen und als für sich bestehende Bewußtseinsinhalte hingestellt.

III. Die Denkformen und das Denken. 25. Der Begriff.

1. Wesen und Entstehung.

Das Kind hat eine Vorstellung von der Linde vor dem väterlichen Hause und von den im Garten stehenden Apfel-, Birn- und Pflaumenbäumen gewonnen. Es faßt alle diese Gegenstände unter dem Namen „Baum“ zusammen, den es von seiner Umgebung gehört hat. Je mehr es nun weitere derartige Vorstellungen erwirbt: Kastanic, Eiche, Buche, Birke, Fichte 2c., eine desto größere Vielheit gleichartiger Vorstellungen verbindet cs mit dem Worte Baum. Es tritt dann allmählich das Bedürfnis hervor, sich darüber klar zu werden, was eigentlich das sei, was alle diese Bäume miteinander gemein haben, sodaß sie mit demselben Worte bezeichnet werden können. Das Kind beginnt darauf die einzelnen Bäume miteinander zu vergleichen und erkennt allmählich als das Charakteristische, was sich bei allen Bäumen vorfindet und was sie von den anderen Gewächsen unterscheidet, daß sie Holzgewächse mit Stamm und Krone sind. Mit jeder neuen Vorstellung und jeder neuen Reproduktion verknüpft sich dieses Charakteristikum immer mehr mit der Vorstellung Baum. Die besonderen Eigenschaften dagegen, wie die Höhe und der Umfang des Baumes, die Form und Farbe des Stammes, die Art der Belaubung, die Form der Blätter, Blüten und Früchte 2c., zeigen sich bei den cinzelnen Bäumen verschieden; sie sind daher nur zufällige,

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