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wurden erst nach Eröffnung des Reichstags vollendet (am 19. Mai), und auch da trennten sich die Wahlherren nicht; wir werden sie später als eine Macht finden. Paris fandte 20 Deputirte vom dritten Stande; der lezte, den dieser wählte, war Abbé Sieyes, um dessentwillen ein früherer Beschluß des dritten Standes, keinen Geistlichen und keinen Abeligen zu wählen, zurückgenommen wurde. Die Ruhe ward am 28. Apr. durch einen wilden Pöbelauflauf gestört. In der Wahlversammlung der Vorstadt S. Antoine hatte sich der Papierfabrikant Reveillon durch sein vornehmes Wesen misfällig ge= macht; am 27. Apr. zog eine Masse Volks durch die Stras ßen und hing eine Puppe, benannt Reveillon, an den Galgen; am 28. Apr. stürmte und spoliirte sie sein Haus. Erst spát kamen Truppen; das Volk leistete Widerstand; nun floß Blut; an 200 Menschen wurden getödtet, 300 verwundet. Jede Partei suchte eine Anstiftung des Tumults in ihrem Sinne, man nannte so gut die Orleanisten als den Hof.

Zu Deputirten 1) des Klerus wurden gewählt: 44 Prálaten, 52 Abbés, Domherren, Generalvicare, Professoren, 205 Pfarrer, 7 Mönche, zusammen 308; 2) des Adels: 266 Edelleute vom Degen, 19 Magistrate von Oberhöfen (cours supérieures), zusammen 285; 3) des dritten Standes: 4 Priester ohne Umt, 15 Edelleute, 29 Maires, 2 Magistrate von Oberhöfen, 158 Gerichtsbeamte von niedern Gerichtshöfen, 214 Rechtsgelehrte und Notare, 178 Negocianten, Grundbes fiber, Landbauer (darunter der bretonische Landmann, Bater Gerard, mit seiner Bauerntracht) und Rentenbürger, 12 Ärzte, 5 Finanz- oder Civilbeamte, 4 Literaten, zusammen 621. Deputirte vom Adel der Bretagne kamen nicht; das verminderte die Stimmen des Adels um 22, und bei spåtern Ub= stimmungen hat dies fich als ein bedeutender Vermiß für die Aristokratie gezeigt.

Daß nun die Bewegung schon einen Charakter angenommen hatte, welcher voraussehen ließ, in der Reichsversammlung werde mehr zur Sprache kommen als das Finanzdeficit, ergibt fich aus den cahiers de doléances, welche die Deputirten mit sich brachten. Das (erst am 4. Mai vollendete) cahier der Stadt

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Paris 110) stellt als Hauptpunkte auf 1) Verfassung, 2) Fi« nanzen, 3) Ackerbau, Handel, Gerichte, 4) Religion, Erz ziehung, Sitten, 5) Gesetzgebung. Die besonderen Interessen der Stadt Paris folgen als Anhang. Vorausgeschickt ist eine déclaration des droits, deren Hauptsäße: In jeder politischen Gesellschaft find alle Menschen einander gleich an Rechten, alle Gewalt geht aus von der Nation, der allgemeine Wille gibt das Gefeß, die Nation allein kann Subsidien bewilligen, kein Bürger kann ohne gesehlichen Spruch seines Amts entsetzt werden, jeder Bürger kann zu jedem Amte gelangen. Eine nicht geringe Zahl der übrigen Cahiers ") enthält Principien und Begehren, die den parisern gleich oder nahe kommen; übereinstimmend waren die Cahiers aller drei Stånde darin, daß der König die vollziehende Gewalt habe, er selbst unverleßlich, aber die k. Beamten (agens de l'autorité) verantwortlich seien, daß die Nation das Geseß gebe, der König es beståtige, daß die Einwilligung der Nation zu Staatsanleihen und Abgaben und gleichmäßige Vertheilung der leßtern nöthig, daß Eigenthum und persönliche Freiheit geheiligt seien 112). Die

110) Moniteur, introd, 216, Buchez et R. 1, 835.

111) Ein Auszug daraus, Résumé général etc. erschien schon 1789 in drei Bånden b. Prudhomme. J. 1825 wurde der Sammlung v. Memoires, h. g. g. v. Berville und Barriere, ein Auszug aus den Cahiers, verfaßt von Grille, vorausgeschickt.

112) Grille 1, 127: Le droit de la nation est de déterminer et de fixer le retour périodique des ét.-gén. 128: Les ét.-g. seront permanens. 167: Les trois ordres, distingués par leur rang, sont égaux par leurs droits. 168: La qualification de roture sera abrogée. 173: Les ét.-g. s'occuperont de fixer irrévocablement et rendre publiques les lois constitutionnelles de la monarchie, les droits du roi et ceux de la nation. 177: La constitution devra être arrêtée avant qu'on ne procède à aucune délibération sur l'impôt. Außerdem wird aber auch, theils von einem einzelnen Stande, und keineswegs bloß vom dritten, theils von mehren Stånden, meistens aber mit Übereinstimmung der resp. Standesgenossen eines Bailliage, begehrt: Freie Wahl neuer Municipalitåten, Eid der Treue des Heeres an die Nation und den König, Todesstrafe für jeden Militår, der zu Gunsten despotischer Gewalt feindlich gegen das Vaterland handelt, Gebrauch des Militárs bei Aufruhr nur nach Begehren des Magistrats, Trennung der richterlichen Gewalt von der gefeßgebenden und ausübenden, Zerstörung der Bastille und

finanziellen Anträge waren übrigens großentheils von der Art, daß eine Abhülfe für das Deficit daraus schwerlich hervorgehen konnte 113).

Der Wiederschein der Doctrin der neuen Philosophie mischt sich hier mit dem verjüngten Farbenspiel der Erinnerungen an vormalige reichsständische Rechte. Daß die Nation in ihren Erwartungen über die bloße Finanzfrage hinausging, war in der Ordnung; der König hatte das Beispiel dazu gegeben; seis nen finanziellen Ansprüchen waren mehrmals Reformen zugefellt gewesen, so noch bei dem Versuche, neue Gerichtshöfe einzurichten; auch hätte die Nation mehr als stumpf sein müssen, wenn sie bloß die Ausflüsse beachtet und nicht auf die Quelle ihren Blick gerichtet hätte. Daß dies geschah, war nicht Wirkung der neuen Philosophie allein; gab es denn im englischen langen Parlement eine Ahnung von dergleichen? Daß die Geister dadurch wach und rege geworden waren, daß Rousseau's System begeisterte Bekenner hatte, daß Normen zu dem Entwurfe eines neuen Staatsgebäudes daher genommen waren, gibt sich späterhin unwiderleglich aus der Geschichte der edeln Bestrebungen sowol als der Verirrungen der Volkspartei in Wort und Schrift der ersten Nationalversammlungen zu erkennen. Daß aber der Gang der Revolution ein dámonischer wurde, daß Frevel und Gråuel auftauchten, während die Verhandlungen der Volksvertreter sich um ideale Zwecke drehten, das ist nicht als Folge der neuen Philosophie, son

aller Staatsgefängnisse, Befähigung der Bürgerlichen, zu aller Art von Ämtern zu gelangen, Freiheit, jedes Gewerbe zu betreiben, Gleichheit der Strafen ohne Rücksicht auf Rang und Stand, seltene Anwendung der Todes, ftrafe und möglichste Schmerzlosigkeit derselben, Abschaffung der Patrimonial. gerichte, der Feudalrechte, Freiheit der Presse (der Klerus dagegen begehrt Maßregeln zur Unterdrückung irreligiöser Schriften), Öffentlichkeit der Criminalprocesse, Einführung der Jury, Abschaffung der Güterconfise cation, Residenz der Bischöfe, Vermehrung des Einkommens armer Pfars rer und Vicare, Ruhestellen für alte verdiente Pfarrer, Abstellung der Pluralität der Beneficien 2c. Vgl. die Auszüge aus den Cahiers, Gesch. d. Staatsverand. 2, 232 f., den Auszug b. Buchez et R. 1, 322 f., und das von Clermont-Tonnerre der Nationalversammlung 27. Juli 1789 vorgelegte Resumé. S. Moniteur No. 85.

113) Dies ist gut erdrtert in Gesch. d. Staatsverånd. 1, 262 f.

dern als Ausgeburt der weit verbreiteten Depravation der Sitten, die nicht erst durch jene erzeugt war, der unlautersten Demagogie, die im Finstern arbeitete, der Beweglichkeit und fanatischen Gluth im französischen Nationalcharakter und der geistigen. Rohheit und Unwissenheit der ohne Unterricht und Erziehung aufgewachsenen Masse zu bezeichnen 114).

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Eine Geschichte der Revolution läßt sich nicht schreiben, ohne daß ein politisches Glaubensbekenntniß durchblickte; es ist wohl gethan, dies von vorn herein auszusprechen; die Auffassung der folgenden Begebenheiten ist abhängig von dem zu Anfange genommenen Standpunkte, das Urtheil über die Con sequenzen wird durch die Ansicht von den ersten Gründen bez dingt. Oberflächlich und kaum der Beachtung werth ist das Reden Derer, die nur an das Deficit und an die Verlegenheit der Regierung in dieser Beziehung denken; schon Polybius nennt es Barbiergeschwäß, wenn nur die äußeren Begebenheiten, die eine geistige Gährung zur Explosion bringen, beachtet werden. Nicht anders ist es mit Denen, die sich bes mühen, darzuthun, daß der Finanzzustand gar nicht so durchaus trostlos gewesen sei, und daß das Volk nicht so übermäßige Last getragen habe, daß es nicht noch etwas mehr habe belastet werden können, die sich mit Zählen und Rechnen in Summen abmühen, durch deren Ausmittelung gar nichts ausgemacht wird. Gegen diese könnte ohne Weiteres der Sah umgedreht und behauptet werden, die Revolution sei ein Werk der privilegirten Stånde, indem diese sich weigerten, dem Staate volle und reichliche Unterstüßung von ihrem ansehnlichen Gute zu gewähren, als die Zeit gebieterische Ansprüche

114) Il faut, on ne saurait trop le dire, il faut séparer le voeu national de 1789, ce voeu unanime et si évidemment national, de toutes les théories que l'intrigue, la terreur, que le vain éclat de gloire, que toutes les déceptions de la fourberie ont passagèrement accréditées dans les têtes irréfléchies des Français. Montgaillard 1, 267. Wohl zu beherzigen ist, was b. Montgaill. 4, 124 von der Leichtgläubigkeit der Franzosen, als einer Hauptquelle revolutionårer Bewegung, bemerkt ist. Dazu Hist. de la rev. p. deux amis de la lib. 7, 21: C'est la philosophie sans doute qui a préparé la révolution de France, mais c'est l'extravagance qui l'a exécutée.

machte. Eine bedenkliche Ansicht ist die fatalistische, daß Alles habe so kommen müssen. Mag man den Theologen die unerfreuliche Lehre von dem servum arbitrium mit sammt der dazu gehörigen, daß dem Menschen dennoch die Schuld zugerechnet werde, überlassen; in der Geschichte ist der Fatalismus furchtbar, wenn derselbe den Menschen der Zurechnungsfähigkeit entrückt und eine gliederreiche Verkettung von Rath und That mit entseglicher Verwilderung und Lasterhaftigkeit außer dem Bereiche des Willens und der Absicht des handelnden Menschen bestehen läßt. Volle Gültigkeit hat die Lehre von dem unwiderstehlichen Fortschreiten allgemeiner Ideen; wenn aber enthusiastische Freunde der politischen Emancipation der Völker Europa's, wozu die französische Revolution als eine schöne Morgenröthe angesehen wurde, in dieser ein nothwendiges Erzeugniß der menschlichen Vernunft in ihrer stufenmäßigen Entwickelung erkennen, so ist dieser Standpunkt zu hoch über dem historischen Material von einflußreichen einzelnen Trågern und Herolden der Ideen und von den Gegnern derselben genommen. Wo die Geschichte aus Art und Kunst der handelnden Persönlichkeiten den Zusammenhang von Ursache und Wirkung zu erklären vermag, hat sie sich zunächst an diese zu halten. Volle Wahrheit aber hat es, daß die Revolution sich als die Macht eines Ideenstroms darstellt, die den Widerstand der Anhänger alter Zeit überwältigt, weil dort die Masse, hier nur ein geringes Häuflein kämpfte und weil aus den alten Formen der belebende und befruchtende Geist gänzlich entwichen war. Wiederum find Diejenigen in Irrthum befangen, welche den Gang der Revolution nur den Umtrieben, Intriguen und Verschwörungen Einzelner zuschreiben, und welche der Absichtlichkeit zu viel finden. Und hier ist am meisten gefehlt worden, wenn den Jüngern der neuen Philosophie, oder auch, mit dem wahnsüchtigen Barruel, den Freimaurern 115), oder dem Herzoge von Orleans eine Schuldrechnung gemacht wor

115) Barruel 'mémoires pour servir à l'histoire du Jacobinisme, gründlich widerlegt in Mounier de l'influence attribuée aux philosophes, franc-maçons etc. sur la révol.. de Fr. p. 146 f. Vgl. dazu Montgaillard 1, 289.

Wachsmuth, Gesch. Frankr. im Revol.-ZeitastBHL1070

MONAGHMEIS

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