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wollten die Fragen über Verification und über Art der Stimmung nicht von einander trennen. Der dritte Stand suchte Gehör bei dem Könige; aber die Etikette, welche seinen Deputirten nur durch Vermittelung des Großsiegelbewahrers Zutritt zum Könige gestattete 19), der Zweifel, ob man von ihnen Kniebeugung begehren solle 20), dann die Krankheit des Dauphin und die Trauer nach seinem Tode (4. Juni) waren dem im Wege 21). Der Versuch des Klerus, durch eine am 6. Juni an den dritten Stand erlassene Aufforderung, zur Erleichterung der Noth des Volkes durch rasche Sorge für Subsistenzmittel mitzuwirken 22), war vergeblich; dieser sah darin einen Fallstrick, ihn von der Hauptfrage abzulenken, und verwies auf die Nothwendigkeit vorgängiger Erledigung der leßtern; ebenso vergeblich war das Bemühen der k. Commissare, die Stände einander näher zu bringen; der Adel machte dem dritten Stande den Titel chambre des communes streitig und weigerte sich, das Protokoll zu unterzeichnen; die Conferenzen wurden am 9. Juni geschlossen 23). So waren fünf Wochen seit Eröffnung des Reichstages vergangen. Mittlerweile waren die pariser Deputirten eingetreten, unter ihnen Bailly, der seit dem 3. Juni als Nachfolger Willy's den Vorsiß als Doyen hatte **), und Sieyes, der mit Mirabeau zu einem entscheidenden Schritte trieb. Die beiden letztern hatten erkannt, daß mit Unterhandlungen, wie Malouet, Mounier und andere Gemäßigte und Treuherzige wollten, nicht zum Ziele zu kommen sei 25).

19) Bailly 1, 172.

20) Ders. 1, 104.

21) Zur vollständigen Erkenntniß der Etikette mag dienen, was Montgaillard 1, 198 erzählt. Eine Deputation der Reichsstånde erschien in Meudon, um Weihwasser auf die Leiche des Dauphin zu sprengen. Brezé kündigte sie der Leiche an: Monseigneur, voilà une députation des états-généraux. Wahrlich dieser Brezé ist auch eine Größe in der Geschichte der ersten Conflicte jener Zeit.

22) Moniteur No. 6, S. 29.

23) Daf. No. 6, G. 32. Ferrières 1, 47. Bailly 1, 95 ff.
24) Bailly 1, 88.

25) Treffend charakterisirt die damalige Verschiedenheit der Ansichten bei dem dritten Stande Bailleul, Examen critique de l'ouvrage post

Am 10. Juni nahm Sieyes zuerst das Wort; er erklärte, es sei Zeit, daß die Versammlung aufhöre, unthåẳtig zu sein, schlug vor, noch einmal die beiden andern Stånde zur Theilnahme an der Verification aufzufordern und ihnen zu eröffnen, daß, wenn sie dieselbe verweigerten, der dritte Stand fie als nicht erschienen ansehen werde, desgleichen eine Vorstellung an den König zu richten, worin das einzuschlagende Verfahren ges rechtfertigt werde. Sieyes' Vorschlag ward angenommen und damit die Versammlung eine active; es war der Anfang der Constituirung derselben als Nationalversammlung 26). Die Dez putationen an die beiden andern Stände und eine von Bars nave verfaßte Adresse an den König wurden am 12. Juni abgesandt und am Abende desselben Tags ohne weiteren Aufschub die Verification der Vollmachten begonnen. Der Bescheid von Klerus und Adel lautete, daß sie über den Antrag berathen wollten, als aber die Verification vom dritten Stande am 13. Juni fortgesetzt wurde, kamen drei Pfarrer aus Poitou, · Lecesve, Ballart und Fallet, derselben sich zu unterziehen, am 14. folgten sechs Pfarrer, wobei Gregoire, Pfarrer von Embermesnil, Tags darauf noch drei 27); daß nicht eine größere Zahl erschien, ward durch die hinderliche Geschäftigkeit einiger hohen Geistlichen bewirkt 28). Die Verification war am 15. Juni beendigt; Sieyes erklärte, es sei nunmehr unerläßlich, daß die Versammlung fich constituire. Nun begann eine Debatte über den Namen, den sie zu führen habe; Sieyes, Mirabeau, Mounier, Le Chapelier machten Vorschläge dazu 29); jeder

hume de Md, de Staël 1, 172. Mirabeau, Sieyes 2c. hatten allerdings die überzeugung, daß bei den Intriguen der Hofpartei auf nichts zu rechnen sei. Vgl. Bailleul 1, 191: Les hommes, qu'on a l'injustice d'appeler factieux, disaient en pleurant dans le salon de M. Necker: Nous consentirons à bien des choses; mais sera-t-on de bonne foi? Dies paßt freilich nicht auf Mirabeau und Sieyes.

26) Moniteur No. 6, G. 32. Bailly 1, 134.

27) Moniteur No. 7, G. 33-35.

28) On citait un évêque qui mangeait tous les jours un curé. Bailly 1, 177.

29) Sieyes: Assemblée des représentans connus et vérifiés de la nation française. Mirabeau: Représentans du peuple français. Mou

fand Widerspruch; darauf wurde von Sieyes ein neuer Vorschlag gemacht, der von einem nachher nicht bedeutend gewordenen Deputirten, Legrand aus Berry, herrührte ), Natio= nalversammlung. Dieser fand Beifall; Sieyes gab seinen Vorschlag gegen diesen auf. Das Wort war nicht neu; Larochefoucauld hatte es schon im I. 1774, Sieyes selbst in seiner Schrift Qu'est-ce que le tiers-état, seit Eröffnung der Sigungen Boissy D'Anglas (15. Mai) und ein Schreiben der pariser Wahlherren, darauf (15. Juni) ein Pfarrer Marolles gebraucht 3); es lag im Sinne und auf den Lippen der Deputirten, als Sieyes es aussprach, und daß er es sprach, ward ihm zur Empfehlung. Abgestimmt wurde darüber am 17. Juni; eine Mehrheit von 491 Stimmen gegen 90 war dafür; die Nationalversammlung war constituirt 32). Nachdem die Constituirung geschehen, Bailly zum Präsidenten bestellt und Secre tåre, unter denen Camus, erwählt waren, leisteten sämmtliche Deputirte mit Enthusiasmus einen Eid, mit Eifer ihre Verpflichtungen erfüllen zu wollen. Darauf folgten Beschlüsse, daß die gegenwärtigen Steuern einstweilen bis zur Regeneration des Staates fortbestehen sollten, daß die Nation den Staatsgläubigern sich verbürge, ferner daß ein Comité zur Abhülfe der Noth um Lebensmittel bestellt werden sollte 33). Damit nahm die Versammlung die Autonomie in Anspruch und das von ihr gebrauchte Wort décréter gab dies auch in der Form zu erkennen 3). Zugleich wurde Anstalt getroffen, die Decrete

nier: Assemblée légitime des représentans de la majeure partie de la nation, agissant en l'absence de la mineure partie. Le Chapelier: Représentans de la nation française légalement vérifiés. Moniteur . 36 ff.

30) Moniteur No. 8, 6. 40. 9, G. 41. Ferrières 1, 51. Bailly 1, 147.

31) S. oben Buch 1, Cap. 2, Not. 84. Moniteur No. 3, 6. 17. No. 7, 35. Bailly 1, 394.

32) Den Namen einer constituirenden Versammlung nahm fie erst 1791 nach der Flucht des Königs an. S. unten Buch 2, Cap. 5, Not. 121.

38) Moniteur No. 9, S. 41 ff.

34) Bailly 171. Bertrand de Moleville 1, Beil. 4.

der Nationalversammlung durch den Druck zu veröffentlichen und in die Provinzen zu senden 3). Dieses, noch mehr aber die von Schreibern jeglicher Art thatsächlich und vor gesetzlicher Zusicherung geübte Preßfreiheit, war die Vollendung des Sie ges, den Mirabeau (schon vor Eröffnung der N.-V., durch Herausgabe einer Flugschrift, Anwalt der Preßfreiheit) erlangt hatte, als er gegen des Königs Verbot die von ihm begonnenen Mittheilungen an seine Committenten nur mit geändertem Titel 3) fortseßte *7). Preßfreiheit gehörte zu den Nationalgútern, die am eifrigsten begehrt wurden; daß jedoch das Geschrei darüber minder laut war als im I. 1830, lag darin, daß so viel Anderes zugleich und zuvor erlangt werden mußte; Preßfreiheit erschien damals meistens nur als Mittel zu jenem; der Journalismus, der nachher um seiner, zum Theil egoistischen, Interessen willen die Preßfreiheit zum Zwecke gemacht hat, war erst im Auftauchen. Das von Barère herausgegebene Blatt Point du jour, Brissot's Patriote français, Carra's und Mercier's Annales politiques, Gorfas' Courrier de Versailles (nachher Courrier des 83 départemens), Royou's Ami du roi, das schon 1777 begonnene Journal de Paris und die Chronique de Paris, die schon seit 1631 bestehende Gazette de France u. f. w., waren die gelesensten Journale jener Zeit; der revolutionåre Ton stark in Mirabeau's und Brissot's, noch stärker in Gorfas' und Carra's Auffägen.

85) Moniteur No. 9, S. 43.

36) Lettres à ses commettans statt États-généraux. Der spätere Titel war Courrier de Provence. Die Flugschrift sur la liberté de la presse ist oben B. 1, Cap. 3, Not. 102 angeführt worden.

37) S. darüber Moniteur No. 2, G. 13, wo das k. Verbot und der erste Brief Mirabeau's an seine Committenten mit einer heftigen Reclamation nach Preßfreiheit abgedruckt ist. Die pariser Wahlherren proteftirten 8. Mai gegen das k. Verbot (den Protest f. b. Bailly 1, 88); es wurde nicht zurückgenommen, aber auch nicht geltend gemacht. Cette marche incertaine du gouvernement est ce qui a le plus nui dans le cours de la révolution. Bailly, a. a. D. Was half es, daß der Großfiegelbewahrer den Journalisten schreiben ließ (19. Mai), er habe nichts dagegen, daß die Journale von dem, was bei den Reichsständen vorginge, berichteten, aber sie sollten sich keine Reflexionen oder irgend einen Come mentar erlauben! Bailly 1, 43.

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Die Regierung hatte während dieser verhängnißvollen Tage nichts gethan, die Einführung oder Ausbildung des neuen Wesens zu hemmen; wiederum hatte der König sich in den Formen strenger Etikette gegen Präsidenten und Deputationen der Nationalversammlung gehalten; ein Schreiben desselben, worin er den von jener gebrauchten Ausdruck „privilegirte Classen" rúgte, ließ Concessionen auf Kosten der lektern wenig hoffen. Der Hof war, der Rede nach, wegen der Trauer um den Tod des Dauphins in Marly, der König daselbst von Personen, die der N.-V. übelwollten, umgeben. Necker hatte schon in der Mitte des Mai einen Plan zur Beendigung des Haders der Stände und zur Feststellung der künftigen Rechte des Throns und der Reichsstånde entworfen. Der Gedanke, nach dem Muster der englischen Verfassung aus Klerus und Adel ein Oberhaus zu bilden, wozu Necker geneigt war und was de la Luzerne, Bischof von Langres, bei dem Klerus vorgeschlagen hatte, wäre einige Zeit früher mit gutem Erfolge auszuführen gewesen; doch des Königs und Adels Abneigung gegen das Englische standen dem entgegen 3). Necker's Plan ging auf Bewilligungen an den dritten Stand als solchen und Beibehaltung gewisser Sonderrechte und, für einzelne Fålle, gesonderter Versammlung der öbern Stände 39). Seinem Plane waren die Minister Montmorin und S. Priest geneigt; der König schien ihn billigen zu wollen, aber die aristokratische Partei arbeitete ihm entgegen: der König ward aus dem Staatsrathe gerufen und durch die Vorstellungen der Königin, des Grafen Artois und der starren Adelspartei sein Wille befangen; bei seinem Wiederkommen erklärte er, daß die Entscheidung verschoben werden solle *). Nun kamen Botschaften aus Versailles von dem nahe bevorstehenden übertritte der Mehrheit des Klerus zum dritten Stande; in einer 19. Juni gehaltenen Ubstimmung hatten 149 Stimmen gegen 115 sich dafür erklärta1);

38) Necker, De la révol. fr. 1, 188.

39) Necker a. a. D. 1, 251 fg. Md. de Staël, Considérations 1, 213 f. 40) Derf. 1, 285. 290. Die Betheiligung der Königin und des Grafen Artois wird bezeugt durch die Aussage der erstern vor dem Revolutionstribunal und durch Bertrand de Moleville 1, 197.

41) Moniteur No. 9, G. 44.

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