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welche in der freien Natur wahrscheinlich gegenüber den älteren, im Kampf um das Dasein bewährten Formen bald wieder verschwinden würden. Nun sehen wir aber, wie der Mensch z. B. bei Tauben und Hunden in einer Folge weniger Generationen neue Formen erzielt, welche, so lange sie unter den gleichen schützenden Bedingungen gehalten werden, sehr bald die Reinheit und Geschlossenheit einer eigenen Species annehmen und die nur der Theorie zu Liebe Varietäten" bleiben müssen. 67) Und dies geschieht keineswegs etwa nur auf dem Wege der künstlichen" Züchtung, welche von vorn herein auf ein bestimmtes Modell hinarbeitet, sondern auch durch die „unbewusste" Züchtung 68), d. h. durch ein Verfahren, welches eine Spielart zu immer grösserer Vollkommenheit und Beständigkeit eines neuen Typus bringt, durch das blosse Bestreben, die Rasse rein zu halten und eine Eigenthümlichkeit derselben weiter auszubilden, so dass im Uebrigen hier die Natur gleichsam frei auf ein bestimmtes Modell hinstrebt, bei welchem Halt gemacht wird. Ist dies einmal erreicht, so kann es sich die längsten Perioden hindurch unverändert erhalten.

Aehnlich dürfen wir also auch annehmen, dass die Aenderungen in den sich selbst überlassenen Organismen in der Hauptsache nicht so ganz unmerklich langsam sich vollzogen haben, wie es Darwins eigne Anschauung zu fordern scheint, sondern dass je nach einer bedeutenden Aenderung der Existenzbedingungen gleichsam ruckweise eine schnelle Entwicklung der einen, ein Rückgang der andern Formen eingetreten sei. Auch dürfen wir wohl annehmen, dass jede solche Erschütterung des natürlichen Gleichgewichtes eine Neigung zum Variiren hervorbringt und damit Gelegenheit giebt, zur Entstehung neuer Formen, die sich schnell festsetzen und abrunden, wenn ihnen die Verhältnisse günstig sind. Alle die verschiedenen Principien, welche neuere Forscher in die Descendenzlehre eingeführt haben, um das Princip der natürlichen Züchtung zu ergänzen, wie z. B. die Wanderung, die Isolirung der Arten u. s. w., sind nur mehr oder weniger glücklich gegriffene Specialfälle des entscheidenden Hauptprincips: der Störung des Gleichgewichtes, welches die Arten bei länger dauernder Gleichheit der Lebensbedingungen nothwendig stabil machen muss.

Es ist leicht zu sehen, wie durch diese Auffassung der „Transmutationslehre eine Menge von Bedenken, die man gegen dieselbe erhoben hat, sofort beseitigt werden, während anderseits

Darwins Anschauung in einem sehr wesentlichen Punkte modificirt wird.

Die Anschauungsweise Darwins geht darin ganz der Lyell' schen Geologie parallel, dass das Hauptgewicht auf die stillen und stetigen, wenn auch für die gewöhnliche Beobachtung unmerklichen Veränderungen gelegt wird, welche beständig vorgehen, deren Resultat aber erst in sehr grossen Zeiträumen augenfällig wird. Damit übereinstimmend nahm Darwin an, dass die Abänderungen der Arten ursprünglich rein zufällig entstehen, und dass die Mehrzahl derselben bedeutungslos, wie gemeine Missbildungen, wieder verschwinden, während einige wenige, die dem betreffenden Wesen im Kampf um das Dasein Vortheil bringen, sich erhalten und sich durch natürliche Zuchtwahl und Vererbung festsetzen.

Natürlich müssen wir auch bei unsrer Ansicht einräumen, dass sehr langsame Veränderungen der Formen vorkommen können, zumal wenn sie durch sehr langsame Veränderungen der Existenzbedingungen, wie z. B. bei der allmähligen Hebung oder Senkung ganzer Länder, hervorgerufen werden. Zwar will es uns auch in diesem Falle wahrscheinlicher dünken, dass die organischen Formen der Veränderung ihrer Lebensbedingungen eine gewisse Widerstandskraft entgegensetzen, welche ihren Bestand unverändert erhält, bis bei einer gewissen Höhe der störenden Einflüsse eine störende Krisis hereinbricht. Es bleibt jedoch die langsame Umbildung nicht ausgeschlossen, und selbst unsre Ansicht von der Erreichung eines Gleichgewichtszustandes möchten wir nicht so verstanden wissen, als müsste dieser ein Zustand absoluter Unveränderlichkeit sein. Dagegen muss die Entwicklung neuer Arten aus rein zufälliger Entstehung neuer Eigenschaften allerdings in Zweifel gezogen werden; sofern wenigstens hierin grade der Haupthebel der Veränderung liegen soll.

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Erinnern wir uns wieder, dass wir es mit grossen Zeiträumen zu thun haben, und dass zu Anfang dieser Zeiträume die allgemeine Neigung zum Variiren am grössten gewesen sein muss. Dann kann man leicht einsehen, dass bei einem gewissen Zeitpunkte die Reihe der überhaupt vorkommenden Variationen gleichsam schon durchprobirt ist, und was zu Anfang der Periode nicht zu einer neuen Art geführt hat, wird es, unter gleich bleibenden Existenzbedingungen, immer weniger thun, weil die Formen allmählig immer bestimmter und strenger geschieden werden. Will man aber die

jenige Periode, die wir hier als die Anpassungsperiode für die angegebenen Verhältnisse betrachten, wenigstens für sich ausschliesslich vom Gesetz der Erhaltung nützlicher Zufälligkeiten regiert werden lassen, so ergeben sich weitere Bedenken verschiedener Art.

Zunächst gehen wir davon aus, dass die Anpassungsperiode auf eine Störung des Gleichgewichts folgt und eben deshalb mit vermehrter Neigung zum Variiren verbunden ist. Weshalb soll man nun allen unmittelbaren Causalzusammenhang zwischen der Veränderung der Existenzbedingungen und der Veränderung der Formen ausschliessen? Man bringt doch auch heutzutage mit Recht Lamarck wieder zu Ehren, der aus unmittelbar wirkenden Ursachen in Verbindung mit der Vererbung alle Wandlungen der Formen ableitete, also z. B. die Vergrösserung, Verstärkung und feinere Ausbildung irgend eines Organs aus dem vermehrten Gebrauch desselben. Hier können aber noch unbekannte Kräfte in grosser Zahl wirksam sein, ohne dass wir deshalb zu einem mystischen Eingriff des teleologischen Princips unsre Zuflucht nehmen müssten. Fechner zieht auch psychische Einflüsse hieher, und zwar ohne den Kreis der mechanischen Naturauffassung zu verlassen, da ja psychische Vorgänge zugleich physische sind.

„Der Hahn", bemerkt er, hat Sporen an den Füssen, eine Federmähne, einen hohen rothen Kamm. Man erklärt die beiden ersten Einrichtungen nach dem Principe des Kampfes um das Dasein dadurch, dass Hähne, an denen dergleichen sich zufällig ausbildete, durch die Sporen ihren Gegnern im Kampfe überlegen und durch die Mähne besser gegen deren Bisse geschützt wurden; also den Platz auf dem Felde des Kampfes behielten. Aber unstreitig hätte man lange auf das Eintreten solcher Zufälligkeiten warten müssen, und wenn man bedenkt, dass bei allen andern. Thieren ähnliche Zufälligkeiten angenommen werden müssten, um das Zustandekommen ihrer Zweck einrichtungen zu erklären, so wird der Vorstellung schwindeln. Ich denke mir vielmehr, als die Organisation noch leichter veränderlich war, vermochte das psychische Streben, dem Gegner im Kampfe tüchtig zuzusetzen, sich vor seinen Angriffen zu schützen, und der Zorn gegen ihn, die noch heute den Sporn in Thätigkeit setzen, die Federmähnen sträuben und den Kamm schwellen machen, diese Theile durch demgemässe Abänderung der Bildungsprocesse wenn nicht an den fertigen

Lange, Gesch. d. Materialismus. II.

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Hähnen hervorzutreiben, aber die Anlage dazu den Keimen und hiermit den Nachkommen einzupflanzen, wobei ich natürlich die psychischen Bestrebungen und Zustände nur als die innere Seite. der physisch organischen ansehe, wovon jene Umbildungen abhingen, das ganze Spiel der psychischen Antriebe mit ihrer physischen Unterlage aber durch das allgemeine Princip der Tendenz zu stabilen Zuständen verknüpft halte, ohne eine speciellere Erklärung zu versuchen." 69)

Wir lassen den Werth dieses Gedankens dahingestellt und bemerken nur, dass gewiss ebenso wenig Grund vorhanden ist, ihn unbesehen zu verwerfen, als ihn ohne Beweise anzunehmen. Es giebt aber unter andern Erscheinungen, welche sich aus der blossen Zuchtwahl schwer erklären lassen, eine bestimmte und ungemein verbreitete, welche die directe und positive Causalverbindung zwischen der Form und den Lebensbedingungen geradezu zu fordern scheint. Es ist dies die Nachahmung" (Mimicry), eine zumal in der Insektenwelt ungemein verbreitete und zu den sonderbarsten Täuschungen veranlassende Anpassung von Farbe und Form der Thiere an ihre Umgebung oder auch an andre Organismen.70)

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Dem allgemeinen Princip nach passt diese täuschende Nachbildung fremder Formen anscheinend trefflich zur natürlichen Zuchtwahl, denn sie ist jederzeit ein Schutz des betreffenden Thieres gegen seine Verfolger. Man kann daher mit Leichtigkeit annehmen, dass Individuen, welche zufällig eine Abänderung in diesem schützenden Sinne erlitten, sich länger erhalten und auf die Fortpflanzung ihrer Art einen grösseren Einfluss üben mussten, als andere. Dies einmal gegeben, musste die schützende Anpassung in Form und Farbe nothwendig immer weiter gehen. Hier tritt aber die grosse Schwierigkeit ein, dass die erste Variation im schützenden Sinne sehr schwer zu erklären ist. Ein Gegner Darwins, Herr Bennet1), hat hervorgehoben, dass die Uebereinstimmung mancher Insekten mit dem Boden, auf welchem sie sich aufhalten, mit der Farbe trockner Baumrinde, abgefallener Blätter, oder mit der lebhaften Farbenpracht der Blumen, auf welchen sie sich gewöhnlich niederlassen, durch eine so grosse Reihe täuschender Züge und Zeichnungen zu Stande kommt, dass an ein plötzliches Auftreten einer solchen Variation um so weniger zu denken ist, da die nächst verwandten Species oft ein total verschiednes Aeussere haben. Nun argumentirt Herr Bennet weiter, dass ein zufälliges Auftreten

eines Theiles dieser neuen Zeichnung dem Thiere keinen Nutzen bringen konnte, weil es seine Verfolger sicher nicht getäuscht haben würde. Bis aber durch blossen Zufall der Variation, der ja der Natur der Sache nach gleich leicht nach dieser wie nach jeder andern Richtung erfolgen kann, sich die sämmtlichen Farbenstriche und Formveränderungen so zusammenfinden, dass die Täuschung fertig ist, würde eine solche Culmination der Zufälle erforderlich sein, dass die Wahrscheinlichkeitszahlen dafür ins Ungeheure gehn. Entsprechend müsste man also auch ungeheure Zeiträume annehmen, damit ein solches einmaliges Zusammentreffen aller jener Modificationen erwartet werden könnte. Wir haben nun zwar bei den Fragen der Kosmogonie mit gutem Bedacht die blinde Scheu vor grossen Zahlen bekämpft; allein hier liegt die Sache ganz anders. Die "Mimicry" kann sich nur ausbilden während einer Periode von ungefähr gleichen klimatischen Verhältnissen, gleichen Verfolgern, gleicher Vegetation gegenüber, und diese Perioden dürfen wir im Allgemeinen nicht gar zu gross annehmen.

Darwin erklärt die schützende Nachbildung dadurch, dass er annimmt, das betreffende Thier müsse schon ursprünglich eine gewisse rohe Aehnlichkeit mit irgend einem Bestandtheile seiner Umgebung gehabt haben, so dass die natürliche Zuchtwahl nichts zu thun hätte, als einen so bedeutenden Anfang weiter auszubilden, theils in bestimmterer Ausprägung der schützenden Aehnlichkeit, theils auch in der Anpassung der Lebensgewohnheiten an die Benutzung dieses Schutzes. In der That scheint diese Erklärung die einzige, welche mit der ausschliesslichen Verwendung des Princips der Zuchtwahl vereinbar ist. Statt des zufälligen Zusammentreffens einer Menge feiner Striche und Farbenmischungen hätten wir hier also ein ursprünglich gegebenes rohes Gesammtbild, welches wenigstens in einigen Fällen die Verfolger schon täuschen und damit zu dem bekannten Process der natürlichen Zuchtwahl den Anstoss geben konnte. Nun muss aber bemerkt werden, dass es Fälle giebt, auf welche diese ganze Erklärungsweise unmöglich angewandt werden kann. Es sind dies im Grunde alle diejenigen Fälle, in welchen die schützende Form und namentlich die Farbe von den Formen und Farben der nächstverwandten Species sehr stark und auffallend abweicht. Solche Fälle sind aber ungemein zahlreich. Bennet erwähnt einen Fall, in welchem eine Schmetterlingsart sich von allen ihren Verwandten, welche fast rein weiss sind,

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