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werden darf. Auch Aristarch von Samos, der Vorläufer des Kopernikus, knüpfte an altpythagoreische Ueberlieferungen an; der grosse Hipparch, der Entdecker des Vorrückens der Nachtgleichen, glaubte an den göttlichen Ursprung der menschlichen Seelen; Eratosthenes hielt sich zur mittleren Akademie, welche den Platonismus mit skeptischen Elementen versetzte. Plinius, Ptolemäus, Galenus huldigten ohne strenges System pantheistischen Grundsätzen und hätten sich vielleicht vor 200 Jahren unter dem gemeinsamen Namen der Atheisten und Naturalisten mit den eigentlichen Anhängern des Materialismus zusammenwerfen lassen. Allein Plinius huldigte keinem philosophischen System, wiewohl er zum Volksglauben in offener Opposition steht und in seinen Ansichten dem Stoicismus zuneigt. Ptolemäus ist in der Astrologie befangen und folgt in der allgemeinen Grundlage seiner Weltanschauung jedenfalls mehr Aristoteles als Epikur. Galen, der von diesen am meisten Philosoph war, ist ein Eklektiker, welcher die verschiedensten Systeme kennt; allein dem epikureischen zeigt er sich am allerwenigsten geneigt. Nur in der Erkenntnisslehre nahm er die unmittelbare Gewissheit der Sinnes wahrnehmungen an, allein er ergänzte sie durch die Annahme unmittelbarer Verstandeswahrheiten, die vor jeder Erfahrung feststehn. 60)

Man sieht aber auch leicht, dass diese geringe Betheiligung des Materialismus an den Errungenschaften der positiven Forschung nicht zufällig, dass sie namentlich nicht etwa lediglich dem quietistischen und beschaulichen Charakter des Epikureismus zuzuschreiben ist, sondern dass in der That gerade das ideelle Moment bei den Eroberern der Wissenschaft mit ihren Entdeckungen und Erfindungen im engsten Zusammenhang steht.

Hier dürfen wir uns eine Vertiefung in die grosse Wahrheit nicht entgehen lassen, dass das objectiv Richtige und Verstandesmässige nicht immer das ist, was den Menschen am meisten fördert, ja nicht einmal das, was ihn zu der grössten Fülle objectiv richtiger Erkenntnisse führt. Wie der gleitende Körper auf der Brachystochrone schneller zum Ziele kommt, als auf der geneigten Ebene, so bringt die Gesammtorganisation des Menschen es mit sich, dass in manchen Fällen der Umweg durch den Schwung der Phantasie schneller zur Erfassung der nackten Wahrheit führt, als die nüchterne Bemühung, die nächsten und buntesten Hüllen zu zerreissen.

Es ist keinem Zweifel unterworfen, dass die Atomistik der Alten, weit entfernt, absolute Wahrheit zu haben, doch dem Wesen der

Dinge, so weit wir es wissenschaftlich begreifen können, ungleich näher kommt, als die Zahlenlehre der Pythagoreer und die Ideenlehre Plato's; zum mindesten ist sie ein viel directerer und geraderer Schritt auf die gegebenen Naturerscheinungen zu, als jene fast ganz aus dem speculativen Dichten der individuellen Seele hervorgequollenen tiefsinnig schwankenden Philosopheme. Allein die Ideenlehre Plato's ist nicht zu trennen von der grenzenlosen Liebe des Mannes zu den reinen Formen, in denen bei gänzlichem Wegfall alles Zufälligen und Gestörten, die mathematische Idee aller Gestalten angeschaut wird. Nicht anders steht es mit der Zahlenlehre der Pythagoreer. Die innere Liebe zu allem Harmonischen, der Zug des Gemüthes zur Vertiefung in die reinen Zahlenverhältnisse der Musik und der Mathematik, zeugte in der individuellen Seele den erfindenden Gedanken. So zog sich von der ersten Aufstellung des Mydeìs ayewμérontos eioita bis zum Abschluss der alten Cultur der gemeinsame Grundzug durch die Geschichte der Erfindungen und Entdeckungen, dass gerade die Richtung des Gemüthes auf das Uebersinnliche die Gesetze der sinnlichen Erscheinungswelt auf dem Wege der Abstraction erschliessen half.

Oder

Wo bleiben denn nun die Verdienste des Materialismus? soll etwa gerade der phantastischen Speculation neben sonstigen Verdiensten um Kunst, Poesie, Gemüthsleben auch noch gar der Vorzug in Beziehung auf die exacten Wissenschaften eingeräumt werden? Offenbar nicht. Die Sache hat ihre Kehrseite, und diese findet sich, wenn man die indirecte Wirkung des Materialismus und sein Verhältniss zur wissenschaftlichen Methode betrachtet.

Wenn wir dem subjektiven Trieb, der individuell gestalteten Ahnung gewisser Endursachen grosse Bedeutung für die Richtung und die Kraft der Bewegung zur Wahrheit hin zuschreiben, so dürfen wir doch keinen Augenblick aus den Augen verlieren, wie es gerade. jene phantastische Willkür des mythologischen Standpunktes ist, welche den Fortschritt der Erkenntniss so lang und so mächtig gehemmt hat und in den weitesten Kreisen noch immer hemmt. Sobald der Mensch beginnt, die einzelnen Vorgänge nüchtern, klar und bestimmt zu betrachten, sobald er die Ergebnisse dieser Betrachtung an eine bestimmte, wenn auch irrthümliche, so doch jedenfalls feste und einfache Theorie anknüpft, ist der weitere Fortschritt gesichert. Dieser Vorgang ist von dem Process des Erdenkens und Erdichtens gewisser Endursachen leicht abzutrennen. Hat letzteres, wie wir eben

nachwiesen, unter günstigen Umständen einen hohen subjektiven, auf das Ineinandergreifen der Geisteskräfte begründeten Werth, so ist der Anfang jener klaren, methodischen Betrachtung der Dinge gewissermassen erst der wahre Anfang des Verkehrs mit den Dingen selbst. Der Werth dieser Richtung ist objektiver Natur. Die Dinge fordern gleichsam, dass man so mit ihnen verkehrt, und erst bei der geregelten Frage ertheilt die Natur eine Antwort. Hier dürfen wir nun aber auf jenen Ausgangspunkt griechischer Wissenschaftlichkeit verweisen, der in Demokrit und der aufklärenden Wirkung seines Systems zu suchen ist. Diese aufklärende Wirkung kam der ganzen Nation zu gut; sie wurde vollzogen an der einfachsten und nüchternsten Betrachtung der Dinge, welche sich unserm Denken darbieten kann: an der Auflösung des bunten und veränderlichen Weltganzen in unveränderliche, aber bewegliche Theile. Hat auch dies Princip, übrigens im engsten Anschluss an den epikureischen Materialismus, seine volle Bedeutung erst in den neueren Jahrhunderten gewonnen, so hat es doch offenbar als das erste Beispiel einer vollkommen anschaulichen Vorstellungsweise aller Veränderungen auch auf das Alterthum einen durchgreifenden Einfluss geübt. Hat doch selbst Plato seine „nichtseiende" aber gleichwohl für die Construction des Weltgebäudes unentbehrliche Materie in bewegliche Elementarkörperchen aufgelöst, und Aristoteles, welcher sich mit aller Macht der Annahme eines leeren Raums gegenüberstellt, welcher die Continuität der Materie als Dogma festhält, sucht, so gut es von diesem schwierigen Standpunkte gehen will, mit Demokrit in der Anschaulichkeit der Lehre von der Veränderung und Bewegung zu wetteifern.

Allerdings steht unsere heutige Atomistik seit der Ausbildung der Chemie, der Vibrationstheorie und der mathematischen Behandlung der in den kleinsten Theilchen wirkenden Kräfte in ungleich directerem Zusammenhang mit den positiven Wissenschaften; allein die Beziehung aller sonst so räthselhaften Naturvorgänge, des Werdens und Abnehmens, des scheinbaren Verschwindens und des unerklärten Auftauchens von Stoffen auf ein einziges durchgehendes Princip und eine, man möchte sagen handgreifliche Grundanschauung war denn doch im Alterthum für die Naturwissenschaft das Ei des Kolumbus. Der Götter- und Dämonenspuk war mit einem einzigen grossartigen Zuge beseitigt, und was nun auch tiefsinnig angelegte Naturen von Dingen denken mochten, die hinter der Erscheinungswelt liegen: die Erscheinungswelt selbst lag vom Nebel frei vor den Blicken da, und

auch die ächten Schüler eines Plato und Pythagoras experimentirten oder sannen nun über die Naturvorgänge, ohne die Welt der Ideen und der mystischen Zahlen mit dem unmittelbar Gegebenen zu vermengen. Diese Vermengung, in welcher einige neuere Naturphilosophen der Deutschen so stark waren, trat im classischen Alterthum erst ein mit dem Verfall der ganzen Cultur in der Zeit der schwärmerischen Neuplatoniker und Neupythagoreer. Es war die gesunde Sittlichkeit des Denkens, welche, durch das Gegengewicht des nüchternen Materialismus erhalten, die griechischen Idealisten so lange von solchen Irrwegen fern hielt. In gewisser Hinsicht behielt daher das ganze Denken des griechischen Alterthums vom Anfang bis zur Zeit des vollständigen Verfalls ein materialistisches Element. Man erklärte die Erscheinungen der Sinnenwelt zunächst wieder aus dem, was man mit den Sinnen wahrnahm oder sich wenigstens als wahrnehmbar vorstellte.

Wie man also auch im Uebrigen über das System Epikurs als Ganzes urtheilen möge, so steht doch jedenfalls so viel fest, dass die antike Naturforschung nicht sowohl aus diesem System, als vielmehr aus der allgemeinen materialistischen Grundlage desselben Vortheil gezogen hat. Die Schule der Epikureer blieb unter allen Philosophenschulen des Alterthums die geschlossenste und unveränderlichste. Wie die Beispiele äusserst selten sind, dass ein Epikureer später zu andern Systemen überging, so findet man auch kaum einen Versuch zur Weiterbildung oder Umbildung der einmal angenommenen Lehren bis auf die spätesten Ausläufer der Schule. Diese sektenhafte Geschlossenheit zeugt für das starke Uebergewicht der ethischen Seite des Systems über die physikalische. Als Gassendi im siebzehnten Jahrhundert das System Epikurs an's Licht zog und es dem aristotelischen gegenüberstellte, suchte er freilich auch die Ethik Epikurs, so weit es auf christlichem Boden anging, geltend zu machen und es lässt sich nicht läugnen, dass auch diese ein starkes Ferment für die Entwicklung des modernen Geistes abgegeben hat; allein das wichtigste Faktum war eben doch die alsbaldige Losreissung des alten demokritischen Grundgedankens aus den Fesseln des Systems. Durch Männer wie Descartes, Newton und Boyle mannichfach umgestaltet, wurde die Lehre von den Elementarkörperchen und der Entstehung aller Erscheinungen durch ihre Bewegung zur Grundlage der modernen Naturwissenschaft. Das Werk aber, durch dessen Vermittlung das System Epikurs schon seit dem Beginn des Wiederauflebens der

Wissenschaften mächtigen Einfluss auf die Denkweise der neueren Völker gewann, ist das Lehrgedicht des Römers Lucretius Carus, dem wir eben dieser seiner historischen Bedeutung wegen einen besondern Abschnitt widmen werden, der uns zugleich einen tieferen Einblick in die wichtigsten Gebiete der epikureischen Lehre gewähren wird.

V. Das Lehrgedicht des Titus Lucretius Carus über die Natur.

Unter allen Völkern des Alterthums stand vielleicht keines von Haus aus materialistischen Anschauungen ferner als das der Römer. Ihre Religion wurzelte tief im Aberglauben, ihr ganzes Staatsleben war von abergläubischen Formeln eingeschränkt. Die ererbten Sitten wurden mit eigensinniger Starrheit festgehalten, Kunst und Wissenschaft hatten wenig Reiz für die Römer, die Vertiefung in das Wesen der Natur noch weniger. Die praktische Richtung ihres Lebens herrschte über jede andere, aber auch sie war nicht materialistisch, sondern durchweg spiritualistisch. Herrschaft ging ihnen über Reichthum, Ruhm über Wohlbefinden, ein Triumph über Alles. Ihre Tugenden waren nicht die der Friedensliebe, des unternehmenden Kunstfleisses, der Gerechtigkeit, sondern die des Muthes, der Ausdauer, der Mässigkeit. Die Laster der Römer waren ursprünglich nicht Ueppigkeit und Genusssucht, sondern Härte, Grausamkeit und Treulosigkeit. Das Talent der Organisation in Verbindung mit jenem kriegerischen Charakter hatte die Nation gross gemacht und sie war sich dessen mit Stolz bewusst. Jahrhunderte lang dauerte seit ihrer ersten Berührung mit den Griechen die Abneigung, die aus der Verschiedenheit der Nationen hervorging. Griechische Kunst und Literatur drangen in Rom erst nach der Besiegung Hannibals allmälig ein, aber gleichzeitig auch Luxus und Ueppigkeit und die Schwärmerei und Unsittlichkeit asiatischer und afrikanischer Völkerschaften. Die besiegten Nationen drängten sich in ihre neue Hauptstadt und bereiteten hier eine Mischung aller Elemente des alten Völkerlebens vor, während die Grossen mehr und mehr an Bildung und feinerem Lebensgenuss Geschmack fanden. Feldherren und Statthalter raubten die Werke griechischer Kunst zusammen, Schulen griechischer Philosophen und Redner wurden eröffnet und mehrmals wieder verboten; man fürchtete das auflösende Element der griechischen Bildung, aber

Lange, Gesch. d. Materialismus.

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