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haben, während doch eher geschlossen werden könnte, dass diese Classe ursprünglich aus dem Mysterien - Bedürfniss des Volkes naturgemäss hervorgegangen ist, und dass sie, bei zunehmender Einsicht, nur deshalb das Volk nicht zu reineren Anschauungen erheben kann, weil jener rohe Naturtrieb zum Geheimnissvollen gar zu mächtig bleibt. So zeigt sich, wie in dieser radicalsten Bekämpfung aller Vorurtheile doch auch wieder das Vorurtheil eine höchst bedeutende Rolle spielt.

Die gleiche Erscheinung tritt denn auch namentlich in denjenigen Capiteln hervor, welche dem Verhältnisse zwischen Religion und Moral gewidmet sind. Weit entfernt hier etwa nur kritisch zu verfahren und das Vorurtheil zu bekämpfen, als sei die Religion die alleinige Basis des sittlichen Handelns, geht das System der Natur vielmehr dazu über, die moralische Schädlichkeit der positiven Religionen und besonders des Christenthums darzuthun. Hier bieten sich denn allerdings in den Dogmen, wie in der Geschichte zahlreiche Anhaltpunkte; allein im Wesentlichen bleibt die Untersuchung bei der Oberfläche stehen. So wird beispielsweise ein moralischer Nachtheil daraus hergeleitet, dass die Religion dem Schlechten Verzeihung verheisst, während sie den Guten durch das Uebermass ihrer Forderungen erdrückt. Es wird also jener ermuthigt, dieser abgeschreckt. Wie aber im Laufe der Jahrtausende eben diese Abschwächung des uralten Gegensatzes der „Guten" und der „Bösen" auf die Humanität zurückwirken musste, hat das System der Natur nicht in Betracht gezogen. Und doch sollte uns grade ein ächtes System der Natur zeigen, wie jener scharfe Gegensatz erlogen ist, und wie er zur immer tieferen Erdrückung der Armuth, zur Entwürdigung der Schwachheit, zur Misshandlung der Krankheit führt, während die Ausgleichung der Schuld im Bewusstsein der Menschheit, wie das Christenthum sie angebahnt hat, genau mit den Sätzen übereinstimmt, auf welche die exacte Naturbetrachtung und insbesondere die Beseitigung des Begriffes der Willensfreiheit uns führen muss. Die „Guten", d. h. die Glücklichen, haben von jeher die Unglücklichen tyrannisirt. Allerdings stellt sich in diesem Punkte das christliche Mittelalter ebenbürtig neben das Heidenthum und erst die aufgeklärte Neuzeit hat eine entschiedene Besserung gebracht. Der Geschichtsforscher wird sich die ernste Frage vorlegen müssen, ob nicht gerade die christlichen Grundsätze, nachdem sie Jahrtausende hindurch unter Lange, Gesch. d. Materialismus.

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mythischer Form mit der Rohheit der Menschen gerungen haben, endlich ihre grösste Wirkung in dem Augenblicke thun, wo die Form zerfallen kann, weil die Auffassung der Menschheit für den reinen Gedanken gereift ist. Was aber die religiöse Form an sich betrifft; was namentlich die so vielfach mit der Religion verwechselte Neigung des Gemüthes zu Cultus und Ceremonien oder zu erschütternden und auflösenden Processen des Gemüthslebens betrifft; so ist hier sehr die Frage, ob nicht die dadurch bewirkte Weichlichkeit und Sinnlichkeit, verbunden mit der Unterdrückung des richtenden Verstandes und mit der Verfälschung des natürlichen Gewissens oft für Individuen wie für ganze Völkerschaften höchst verderblich ist. Wenigstens liefern die Geschichten der Irrenanstalten, die Annalen der Criminalrechtspflege und die Moralstatistik Thatsachen, die sich vielleicht einmal zu einem empirischen Beweise gruppiren liessen. Holbach weiss hiervon wenig. Er geht überhaupt nicht empirisch, sondern deductiv zu Werke, und alle seine Annahmen über die Wirkungsweise des religiösen Standpunktes setzen eine Vermittlung der Dogmen durch den blossen Verstand Voraus. Dabei kann denn freilich das Resultat der Betrachtung nur ein höchst ungenügendes bleiben.

Weit treffender und gedankenreicher sind die Capitel, in welchen der Beweis geführt wird, dass es Atheisten gebe, und dass der Atheismus mit der Moral vereinbar sei. Hier stützt sich Holbach auf Bayle, der zuerst nachdrücklich darauf hinwies, dass die Handlungen der Menschen überhaupt nicht aus ihren allgemeinen Vorstellungen, sondern aus ihren Leidenschaften und Trieben hervorgehen.

Nicht ohne Interesse ist endlich die Behandlung der Frage, ob ein ganzes Volk dem Atheismus huldigen könne. Wiederholt haben wir die demokratische Tendenz des französischen Materialismus im Gegensatz zu der Wirkung dieser Weltanschauung auf England hervorgehoben. Holbach ist gewiss nicht weniger revolutionär als Lamettrie und Diderot; wie kommt es nun, dass er, der sich so viele Mühe gab, populär zu werden, der den Atheismus in einem Auszuge seines Hauptwerkes für Zofen und Haarkräusler zurecht machte", wie Grimm sich ausdrückte, doch ganz unumwunden ausspricht, dass diese Denkweise für die Masse des Volkes nicht geignet sei? Holbach, der seines Radicalismus wegen von den geistreichen Kreisen der Pariser Aristokratie so gut wie

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ausgeschlossen war, theilt nicht die Unklarheit mancher andrer Schriftsteller jener Epoche, die mit aller Macht auf den Umsturz des Bestehenden hinarbeiten und sich doch dabei als Aristokraten geriren, die dummen Bauern verachten und ihnen im Nothfall einen Gott erfinden wollen, damit doch ja der Popanz nicht fehle, der sie in der Furcht hält. Holbach geht von dem Grundsatze aus, dass die Wahrheit niemals schaden kann. Er schliesst dies aus dem Obersatze, dass überhaupt die theoretische Erkenntniss, selbst wenn sie irrt, niemals gefährlich werden kann. Selbst die Irrthümer der Religion erhalten ihren Stachel nur durch die Leidenschaften, die sich mit ihnen verbinden und durch die Staatsgewalt, welche sie. tyrannisch aufrecht erhält. Die extremsten Meinungen können. nebeneinander bestehen, wenn man nur keine derselben durch gewaltsame Mittel zur ausschliesslichen Herrschaft zu bringen versucht. Der Atheismus aber, der sich auf die Erkenntniss der Naturgesetze gründet, kann einfach deshalb nicht allgemein werden, weil der grossen Masse der Menschen Zeit und Neigung fehlt, um durch jenes ernste Studium hindurch zu einer völlig neuen Denkungsweise vorzudringen. Das System der Natur ist aber weit entfernt davon, deshalb der grossen Masse die Religion als Surrogat für die Philosophie zu überlassen. Indem es eine unbedingte Denkfreiheit und völlige Indifferenz des Staates verlangt, will es vielmehr die Gemüther der Menschen einer natürlichen Entwicklung anheimgeben. Mögen sie glauben, was sie wollen, und lernen, was sie können! Die Früchte der philosophischen Forschung werden früher oder später Allen zu Gute kommen, genau wie es mit den Ergebnissen der Naturwissenschaften schon der Fall ist. Zwar werden die neuen Ideen heftigen Widerspruch erfahren, aber man wird durch die Erfahrung lernen, dass sie nur Segen bringen. Man darf aber bei ihrer Verbreitung seinen Blick nicht auf die Gegenwart beschränken; man muss die Zukunft, die ganze Menschheit ins Auge fassen. Die Zeit und der Fortschritt der Jahrhunderte werden einst auch jene Fürsten aufkären, die sich jetzt so hartnäckig der Wahrheit, der Gerechtigkeit und der Freiheit des Menschen entgegenstellen.

Von demselben Geiste ist das Schlusscapitel des ganzen Werkes durchdrungen, in welchem die begeisterte Feder Diderots bemerkbar scheint. Dieser ,, Abriss des Gesetzbuches der Natur" ist kein trockner und dürrer Katechismus, wie die französische Revolution sie nach Holbachs Grundsätzen schuf, sondern vielmehr ein rheto

risches Prachtstück, und in mancher Beziehung kann man auch sagen, ein Meisterstück. In einem längeren Abschnitte tritt, wie bei Lucrez, die Natur redend auf. Sie fordert die Menschheit auf, ihren Gesetzen zu folgen, das Glück zu geniessen, das ihr beschieden sei, der Tugend zu dienen, das Laster zu verachten, die Lasterhaften aber nicht zu hassen, sondern als Unglückliche zu bemitleiden. Die Natur hat ihre Apostel, welche das Glück des Menschengeschlechtes herbeizuführen unablässig bemüht sind. Wenn ihr Streben nicht gelingt, werden sie wenigstens die Genugthuung haben, einen Versuch gewagt zu haben.

Die Natur und ihre Töchter, die Tugend, Vernunft und Wahrheit werden zum Schluss als die einzigen Gottheiten angerufen, denen allein Weihrauch und Anbetung gebürt. So wird das System der Natur in poetischem Schwunge nach Zerstörung aller Religionen selbst wieder zur Religion. Ob auch diese Religion einst eine herrschsüchtige Priesterschaft erzeugen könnte? Ob die Neigung des Menschen zum Mystischen so gross ist, dass die Sätze des Werkes, welches sogar den Pantheismus verwirft, um selbst den Namen der Gottheit auszurotten, zu Dogmen einer neuen Kirche werden könnten, welche das Verständliche mit Unverständlichem klug zu mengen und Ceremonien und Cultusformen hervorzubringen wüsste?

Wo wird die Natur zur Unnatur? Wie zeugt die ewige Nothwendigkeit aller Entwickelung das Verkehrte und Verwerfliche? Worauf beruht unsere Hoffnung einer besseren Zeit? Was soll die Natur in ihre Rechte einsetzen, wenn es überall nichts giebt, als Natur? Das sind Fragen, auf welche das System der Natur uns keine genügende Antwort giebt. Wir sind bei der Vollendung des Materialismus angelangt, aber auch bei seinen Grenzen. Was das System der Natur in geschlossenem Zusammenhang giebt, das hat die neuere Zeit wieder mannigfach zerstreut und zersplittert. Neue Motive, neue Gesichtspunkte sind in grosser Zahl gewonnen worden; aber der Kreis der Grundfragen ist unabänderlich derselbe geblieben, wie er in Wahrheit schon bei Epikur und Lucrez derselbe war.

IV. Die Reaction gegen den Materialismus in Deutschland. Wir haben gesehen, wie früh der Materialismus in Deutchland Boden fasste. Gerade in Deutschland erhob sich aber auch mit

bedeutender Kraft eine Reaction gegen diese Geistesrichtung, welche sich durch einen grossen Theil des achtzehnten Jahrhunderts hinzieht, und deren Betrachtung wir nicht unterlassen dürfen. Gleich zu Anfang des Jahrhunderts verbreitete sich die Leibnitz'sche Philosophie, deren wesentliche Grundzüge auf einen grossartigen Versuch hinauslaufen, dem Materialismus mit einem Schlage zu entrinnen. Niemand kann die Verwandtschaft der Monaden mit den Atomen der Physiker verkennen. 92) Der Ausdruck ,,principia rerum" oder „elementa rerum", den Lucrez für die Atome anwendet, könnte ebenso gut einen gemeinsamen Oberbegriff für Monaden und Atome bezeichnen. Leibnitzens Monaden sind allerdings die Urwesen, die wahren Elemente der Dinge in seiner metaphysischen Welt, und man hat längst erkannt, dass der Gott, den er als den „zureichenden Grund der Monaden" in sein System aufgenommen hat, eine mindestens ebenso überflüssige Rolle spielt, als die Götter Epikurs, die sich schattenhaft in den Zwischenräumen der Welten herumtreiben. 93) Leibnitz, der ein Diplomat und ein Universal-Genie war, der aber, wie Lichtenberg 94) scharf treffend sagt,,,wenig Festes hatte", vermochte es mit gleicher Leichtigkeit, sich in die Abgründe der tiefsten Speculation zu versenken, und im seichten Fahrwasser alltäglicher Erörterung die Klippen zu umschiffen, mit denen das praktische Leben den standhaften Denker bedroht. Es wird vergeblich sein, die Widersprüche seines Systems bloss aus der abgerissenen Form seiner gelegentlichen Productionen zu erklären; als ob jener reiche Geist in sich selbst eine vollkommen klare Weltanschauung gehegt hätte, als ob er irgend einen Uebergang, eine Erläuterung nur zufällig verschwiegen hätte, die uns mit einem Schlage den Schlüssel zu allen Räthseln seiner Schriften geben würde. Jene Widersprüche sind da; sie sind auch wohl Zeugen von Characterschwächen; allein wir dürfen nicht vergessen, dass wir es hier nur mit dem Schatten im Bilde eines wahrhaft grossen Mannes zu thun haben. 95)

Leibnitz, der einen Toland bei seiner königlichen Freundin Sophie Charlotte einführte, musste selbst wissen, dass die verschwommenen und zweideutigen Gründe seiner Theodicee nur einen schwachen und für den eigentlichen Denker überhaupt gar keinen Damm gegen den Materialismus bilden konnten. Serena wird auch aus diesem Werke ebenso wenig viel Beruhigung geschöpft haben, als aus Bayles Lexicon und Tolands Briefen ernsthafte Beunruhigung. - Für uns

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