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Schritt zu wagen, welcher das ganze Verhältniss der Erfahrung zum Menschen und seinen Begriffen umkehrt, könnte man doch auch jener Ethik eine tiefe Begründung leihen, indem man ausführte, wie durch den Rapport der Sinne sich allmählig im Lauf der Jahrtausende eine Gemeinsamkeit des Menschengeschlechtes in allen Interessen herstellt, welche darauf beruht, dass jeder Einzelne die Schicksale des Ganzen in der Harmonie oder Disharmonie seiner eignen Empfindungen und Vorstellungen mit durchlebt.

Statt diesen natürlichen Gedankengang zu verfolgen geht Holbach vielmehr nach einigen stark an Helvetius erinnernden Ausführungen über das Wesen des Geistes (esprit) und der Phantasie (imagination) dazu über, die Moral aus dem rein verstandesmässigen Erkennen der Mittel zur Glückseligkeit abzuleiten ein Verfahren, in dem sich wieder der ganze unhistorische und Abstractionen zugewandte Sinn des vorigen Jahrhunderts spiegelt.

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Die politischen Stellen des Werkes, das uns beschäftigt, sind ohne Zweifel bedeutender, als man gewöhnlich annehmen mag. Sie tragen einen so entschiedenen Charakter einer festen, in sich geschlossenen und durchaus radicalen Doctrin, sie bergen, oft unter dem Schein grossartiger Objectivität oder philosophischer Resignation, einen so verbissenen Groll gegen das Bestehende, dass sie gewiss tiefer wirken mussten, als lange Tiraden einer geistreichen und aufgeregten Rhetorik. Man würde sie ohne Zweifel mehr beachtet haben, wenn sie nicht kurz und vereinzelt wären.

,,Da die Regierung ihre Gewalt nur von der Gesellschaft hat, und nur zu ihrem Wohle errichtet ist, so versteht es sich von selbst, dass diese, wenn es ihr Interesse fordert, ihre Vollmacht zurücknehmen, die Regierungsform ändern und die Gewalt erweitern oder beschränken kann, welche sie den Häuptern anvertraut, über die sie eine ewige Oberhoheit bewahrt, nach dem unabänderlichen Gesetz der Natur, welches den Theil dem Ganzen unterordnet." Diese Stelle aus dem Capitel (IX) über die Grundlagen der Moral und der Politik giebt die allgemeine Regel; enthält nicht die folgende aus dem Capitel über die Willensfreiheit (XI) einen deutlichen Wink über die Anwendbarkeit derselben auf die Gegenwart? „Nur deshalb sehen wir eine solche Menge von Verbrechern auf der Erde, weil alles sich verschwört, die Menschen verbrecherisch und lasterhaft zu machen. Ihre Religionen, ihre Regierungen, ihre Erziehung, die Beispiele, welche sie vor Augen haben, treiben sie

unwiderstehlich zum Bösen. Vergebens predigt dann die Moral die Tugend, die nur ein schmerzliches Opfer des Glücks sein würde, in Gesellschaften, wo das Laster und die Verbrechen beständig gekrönt, gepriesen und belohnt werden, und wo die scheusslichsten Frevel nur an denen bestraft werden, welche zu schwach sind, um das Recht zu haben, sie ungestraft zu begehen. Die Gesellschaft straft an den Geringen die Vergehungen, welche sie an den Grossen ehrt, und oft begeht sie die Ungerechtigkeit, den Tod über Leute zu verhängen, welche nur durch die vom Staate selbst aufrecht gehaltenen Vorurtheile ins Verbrechen gestürzt worden sind."

Was das System der Natur vor den meisten materialistischen Schriften auszeichnet, ist die Unumwundenheit, mit welcher der ganze zweite Theil des Werkes, der noch stärker ist als der erste, in vierzehn weitläufigen Capiteln den Gottesbegriff in jeder möglichen Form bekämpft. Fast die ganze materialistische Literatur des Alterthums und der Neuzeit hatte diese Consequenz nur schüchtern oder gar nicht zu ziehen gewagt. Selbst Lucrez, der die Befreiung des Menschen von den Fesseln der Religion für die wichtigste Grundlage sittlicher Wiedergeburt hält, lässt wenigstens gewisse Phantome von Gottheiten in den Zwischenräumen der Welten ein räthselhaftes Dasein führen. Hobbes, der dem offnen Atheismus theoretisch gewiss am nächsten stand, hätte in einem atheistischen Staate jeden Bürger hängen lassen, welcher das Dasein Gottes lehrte; aber in England anerkannte er die sämmtlichen Glaubensartikel der anglikanischen Kirche. Lamettrie, der zwar mit der Sprache herausrückte, aber doch nicht ohne Umschweife und Zweideutigkeiten, widmete sein ganzes Streben nur dem anthropologischen Materialismus; erst für Holbach scheinen gerade die kosmologischen Sätze die wichtigsten zu sein. Sieht man freilich genauer zu, so bemerkt man leicht, dass es hier, wie bei Epikur, wesentlich praktische Gesichtspunkte sind, welche ihn leiten. Indem er die Religion für den Hauptquell aller menschlichen Verderbtheit ansieht, sucht er diesem krankhaften Hang der Menschheit auch die letzten Grundlagen zu entziehen und verfolgt daher die deistischen und pantheistischen Vorstellungen von Gott, welche sein Zeitalter doch so sehr liebte, mit nicht geringerem Eifer als die Ideen der Kirche. Dieser Umstand ist es ohne Zweifel, welcher dem System der Natur auch unter den Freigeistern so heftige Feinde machte.

Zugleich sind nun aber auch die gegen das Dasein Gottes gerichteten Capitel grösstentheils überaus langweilig. Die logischen Gebilde, welche Beweise für das Dasein Gottes darstellen sollen, sind durchweg so haltlos und nebelhaft, dass es sich bei der Annahme oder Verwerfung derselben nur um eine grössere oder geringere Neigung zur Selbsttäuschung handeln kann. Wer sich an solche Beweise hält, giebt damit nur seiner Neigung einen Gott anzunehmen, einen scholastischen Ausdruck. Diese Neigung selbst war, längst bevor Kant diesen Weg einschlug, um die Gottesidee zu begünden, stets nur ein Ausfluss der praktischen Geistesthätigkeit oder des Gemüthslebens; nicht aber der theoretischen Philosophie. Der scholastische Hang zu nutzlosem Disputiren kann freilich Befriedigung finden, wenn um Sätze gestritten wird, wie: „Das durch sich selbst existirende Wesen muss unendlich und allgegenwärtig sein", oder das nothwendig existirende Wesen ist nothwendig das einzige"; aber an irgend einen Anhaltspunkt für eine ernsthafte, des Menschen würdige Geistesarbeit ist bei so vagen Begriffen gar nicht zu denken. Was soll man nun dazu sagen, wenn ein Mann wie Holbach fast fünzig Seiten seines Werkes allein dem Beweise Clarkes für das Dasein Gottes widmete, einem Beweise, der sich durchaus in solchen Sätzen bewegt, die von vorn herein jedes bestimmten Sinnes ermangeln? Mit rührender Sorgfalt schöpft das System der Natur in das Fass der Danaïden. Satz für Satz wird unerbittlich vorgenommen und zergliedert, um immer wieder auf dieselben einfachen Sätze zurückzukehren, dass zur Annahme eines Gottes kein Grund vorliege, und dass die Materie von Ewigkeit her gewesen sei.

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Holbach wusste übrigens recht gut, dass er gar nicht gegen einen Beweis, sondern kaum gegen den Schatten eines Beweises kämpfe. Er zeigt an einer Stelle, das Clarkes eigene Definition des Nichts vollkommen mit seiner Begriffsbestimmung Gottes, die nur negative Prädikate enthält, zusammenfalle. Er macht an einer andern Stelle die Bemerkung, man sage zwar immer, dass uns unsere Sinne nur die Schale der Dinge zeigten; was aber Gott betreffe, so zeigten sie uns nicht einmal die Schale. Besonders treffend ist aber folgende Bemerkung:

„Dr. Clarke sagt uns, es sei genug, dass die Attribute Gottes möglich seien, und so, dass man das Gegentheil nicht beweisen kann. Sonderbare Logik! Die Theologie wäre also die einzige

Wissenschaft, in welcher man schliessen kann, dass ein Ding wirklich ist, weil es möglich ist?"

Hätte Holbach hier nicht das Bedenken einfallen können, wie es doch möglich sei, dass Leute von leidlich gesundem Gehirn, die sich auch nicht eben durch Schlechtigkeit auszeichnen, sich mit so vollständig in die Luft gebauten Sätzen begnügen können? Hätte ihn dies nicht darauf führen können, dass die Selbsttäuschung des Menschen in religiösen Sätzen doch anderer Natur ist, als die alltägliche Selbsttäuschung? In der äusseren Natur sah Holbach nicht. einmal die Schale eines Gottes. Wenn nun aber diese bodenlosen Beweise gerade eine gebrechliche Schale wären, unter der sich eine tiefere Begründung der Gottesidee auf die Eigenschaften des menschlichen Gemüthes birgt? Doch dazu hätte denn gleichzeitig eine gerechtere Beurtheilung der Religion in Beziehung auf ihren moralischen und culturhistorischen Werth gehört; und das vor allen Dingen war von dem Boden, aus welchem das System der Natur erwuchs, nicht zu erwarten.

Wie schroff der Standpunkt ist, den das System der Natur der Gottesidee gegenüber einnimmt, zeigt am besten das Capitel (IV. im 2. Th.), welches den Pantheismus behandelt. Wenn man bedenkt, dass lange Zeit Spinozist und Materialist als dasselbe galt, und dass man unter der Bezeichnung des Naturalismus beide Richtungen häufig zusammenfasste, ja, dass man sogar bei Männern, die als Stimmführer des Materialismus gezählt werden, oft ganz pantheistische Wendungen findet, so kann man sich über den Eifer verwundern, den Holbach entwickelt, um auch den blossen Namen eines Gottes, wenn man ihn selbst mit der Natur identisch setzt, gänzlich aus dem Bereich menschlichen Denkens zu verbannen. Und doch geht Holbach, wenn man sich auf seinen Standpunkt versetzt, hierin keineswegs zu weit. Ist es doch gerade der mystische Zug im Wesen des Menschen, den er als krankhaft ansieht, und dem er die grössten Uebel zuschreibt, welche die Menschheit niederdrücken! Und in der That, sobald ein Gottesbegriff, wie immer begründet, wie immer näher bestimmt, überhaupt nur gegeben ist, so wird das menschliche Gemüth ihn ergreifen, poetisch gestalten, personificiren und ihm irgend einen Cultus, irgend eine Verehrung widmen, bei deren Wirkung im Leben die logische und metaphysische Ableitung des Begriffs sehr wenig mehr in Betracht kommt. Ist dieser Zug zur Religion, welcher immer wieder durch die

Schranken der Logik bricht, nicht einmal so viel werth, als die Poesie; ist er vielmehr unbedingt nachtheilig, dann ist allerdings auch der blosse Name eines Gottes zu beseitigen, und hierin liegt dann erst der wahre Schlussstein einer naturgemässen Weltanschauung. Wir müssten dann aber auch Holbach noch eine kleine rhetorische Schwäche zuschreiben, die vielleicht gefährliche Folgen haben könnte, wenn er von dem wahren Cultus der Natur und von ihren Altären spricht.

Wie nah stehen sich doch oft die Extreme! Dasselbe Capitel, in welchem Holbach seine Leser aufruft, die Menschheit auf immer von dem Phantome der Gottheit zu befreien und selbst den Namen desselben zu beseitigen, enthält eine Stelle, welche den Hang des Menschen zum Wunderbaren als so allgemein, so tief gewurzelt, so übergewaltig darstellt, dass man dabei an eine vorübergehende Entwicklungskrankheit der Menschheit gar nicht mehr denken kann; dass man förmlich einen umgekehrten Sündenfall annehmen muss, um der Consequenz zu entgehen, dass dieser Hang zum Wunderbaren dem Menschen gerade so natürlich ist, wie die Liebe zur Musik und zu schönen Farben und Formen, und dass gegen das Naturgesetz, wonach dies so ist, ein Kampf gar nicht denkbar ist.

„So ziehen die Menschen ewig das Wunderbare dem Einfachen vor, das was sie nicht verstehen, dem was sie verstehen können. Sie verachten die Dinge, mit denen sie vertraut sind und schätzen nur diejenigen, welche sie gar nicht zu beurtheilen vermögen. Wenn sie von diesen nur unklare Vorstellungen haben, so schliessen sie eben daraus, dass sie irgend etwas Wichtiges, Uebernatürliches, Göttliches enthalten. Mit einem Wort, sie brauchen den Reiz des Geheimnissvollen, um ihre Phantasie anzuregen, ihren Geist zu beschäftigen und ihre Neugier zu sättigen, die sich niemals stärker rührt, als gerade wenn sie sich mit Räthseln befasst, deren Lösung überhaupt unmöglich ist."

In einer Anmerkung zu dieser Stelle wird aufgeführt, dass mehrere Völker von einer begreiflichen Gottheit, der Sonne, zu einer unbegreiflichen übergegangen seien. Warum? Weil der verborgenste, geheimnissvollste, unbekannte Gott stets der Einbildung mehr zusagt, als ein sichtbares Wesen. Alle Religionen brauchen deshalb Mysterien, und hierin liegt das Geheimniss der Priester. Auf einmal sollen es wieder die Priester gethan

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