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der Erziehung die höchste Bedeutung für den Einzelnen, wie für die Gesellschaft beigelegt hat; und zwar in zwei Stufen. Zunächst dient die Erziehung, wie wir schon erwähnten, zur Verbesserung der Organisation des Individuums. Sodann aber schreibt Lamettrie auch der Gesellschaft das Recht zu, um des Gesammtwohls willen durch die Erziehung die Ausbildung derjenigen Vorstellungen zu befördern, welche den Einzelnen dazu bringen, der Gesammtheit zu dienen und im Dienste der Gesammtheit, sogar unter persönlichen Opfern, sein Glück zu finden.

Wie nun aber der Gute das volle Recht hat, diejenigen Gewissensbisse in sich auszurotten, welche aus einer schlechten, die sinnlichen Genüsse mit Unrecht verdammenden Erziehung herrühren, so wird der Schlechte, welchem Lamettrie immer noch so viel Glück gönnen möchte, als für ihn möglich ist, zur Beseitigung aller und jeder Gewissensbisse aufgefordert, weil er ja doch einmal nicht anders handeln könne und die strafende Gerechtigkeit ihn mit oder ohne seine Gewissensbisse doch früher oder später ereilen werde.

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Hier ist offenbar nicht nur durch die plumpe Eintheilung der Menschen in „gute" und schlechte" gefehlt, wobei die unendliche Mannigfaltigkeit der psychologischen Combinationen guter und schlechter Motive übersehen wird, sondern es ist auch die psychologische Causalität für die Gewissensbisse der Schlechten aufgehoben, während sie bei den Guten angenommen wird. Kann es vorkommen, dass diese sich durch einen Rest der anerzogenen Moral von harmlosen Genüssen abhalten lassen, so muss es offenbar auch möglich sein, dass die Schlechten durch einen gleichen Rest anerzogener Empfindungen sich von schlechten Thaten abhalten lassen. Auch ist evident, dass die im ersten Falle empfundene Reue zu einem hemmenden Motive im zweiten werden kann. Dies aber muss Lamettrie leugnen oder übersehen, um zu seiner radicalen Verwerfung aller Reue gelangen zu können.

Eine bessere Frucht seines Systems ist die, dass er humane und möglichst milde Strafen verlangt. Die Gesellschaft muss um ihrer Erhaltung willen die Schlechten verfolgen, aber sie soll ihnen nicht mehr Uebles zufügen, als durch diesen Zweck gefordert wird. — Endlich sei noch bemerkt, dass Lamettrie seinem System auch dadurch mehr Rundung zu geben versucht, dass er behauptet, das Vergnügen mache den Menschen heiter, fröhlich und gefällig

und sei also schon an sich ein wirksames Band der Gesellschaft, während die Entsagung den Charakter rauh, intolerant und also ungesellig mache.

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Man mag über dies Moralsystem urtheilen wie man will, so kann man doch nicht leugnen, dass es durchdacht und reich an Gedanken ist, die ihre Bedeutung schon dadurch bewähren, dass sie später in breiter systematischer Ausführung bei Andern wiederkehren und das Interesse der Zeitgenossen lebhaft in Anspruch nehmen. Inwiefern sich Männer wie Holbach, Helvetius, Volney bewusst waren, aus Lamettrie geschöpft zu haben, können wir nicht untersuchen. Sicher ist wohl, dass sie ihn alle gelesen haben und dass sie alle glaubten, weit über ihm zu stehen. Auch liegen in der That viele dieser Gedanken so im Charakter der Zeit, dass zwar Lamettrie die Priorität, aber nicht die Originalität mit Sicherheit zuschreiben kann. Wie vieles von solchen Dingen circulirt mündlich, bevor es jemand wagt niederzuschreiben und drucken zu lassen! Wie vieles verbirgt sich in Werken verschiedenster Art in versteckter Ausdrucksweise, in hypothetischer Form, scheinbar scherzhaft hingeworfen, wo man es niemals gesucht hätte! Vor allen ist Montaigne für die französische Litteratur eine fast unerschöpfliche Fundgrube verwegener Ideen und Lamettrie beweist durch seine Citate, dass er ihn fleissig gelesen hat. Nimmt man noch Bayle und Voltaire hinzu, von denen der leztere freilich erst nach Lamettrie's Auftreten seine radicalere Richtung eingeschlagen hat, so wird man leicht einsehen, dass es eines besonderen Studiums bedürfte, um überall festzustellen, was Reminiscenz, was eigner Gedanke Lamettrie's ist. So viel darf man dagegen mit gutem Gewissen behaupten, dass kaum ein Schriftsteller dieser Zeit weniger als er darauf ausgeht, sich mit fremden Federn zu schmücken. So selten wir genaue Citate bei ihm finden, so häufig finden wir, dass er wenigstens mit einem Wort, mit einer Andeutung seine Vorgänger nennt; vielleicht eher beflissen, sich Gesinnungsgenossen zu machen, wo er allein steht, als umgekehrt, sich als Original hinzustellen, wo er es nicht ist.

Leicht musste übrigens ein Schriftsteller wie Lamettrie auf die verwegensten Ideen kommen, da er verwegne, die gewöhnliche Denkweise beleidigende Aussprüche nicht nur nicht scheut, sondern geradezu sucht. Man kann in dieser Beziehung keinen grösseren Gegensatz finden, als zwischen der Parrhesie Montaigne's und der

jenigen Lamettrie's. Montaigne erscheint uns bei seinen gewagtesten Sätzen fast immer naiv und deshalb liebenswürdig. Er plaudert, wie ein Mensch, der nicht die entfernteste Absicht hat, irgend Jemanden zn verletzen, und dem plötzlich eine Aeusserung entschlüpft, deren Tragweite er selbst gar nicht zu bemerken scheint, während sie den Leser erschreckt oder in Staunen setzt, sobald er sie fixirt und bei ihr verweilt. Lamettrie ist nirgend naiv. Studirte Effecthascherei ist sein schlimmster Fehler aber auch derjenige Fehler, der sich am meisten gerächt hat, weil er seinen Gegnern die Entstellung des eigentlichen Gedankens sehr leicht macht. Selbst anscheinende Widersprüche in seinen Behauptungen erklären sich (abgesehen von jener verstellten Selbstbekämpfung, die er der Anonymität wegen oft aufführt) sehr häufig aus dem übertriebenen Ausdruck eines Gegensatzes, der gar nicht als Verneinung, sondern nur als theilweise Einschränkung zu verstehen ist.

Die gleiche Eigenschaft macht diejenigen Producte Lamettrie's so besonders widerwärtig, in denen er eine gewissermassen poetische Verherrlichung der Wollust gesucht hat. Schiller sagt von den Freiheiten der Poesie gegenüber den Gesetzen des Anstandes: „nur die Natur kann sie rechtfertigen" und „nur die schöne Natur kann sie rechtfertigen". In beiden Beziehungen sind durch die blosse Anlegung dieses Massstabes Lamettrie's ", volupté“ und „l'art de jouir" als Literaturprodukte aufs schärfte gerichtet. Ueberweg sagt mit Recht von diesen Werken, dass sie in einer noch mehr künstlich überspannten als frivolen Weise" den sinnlichen Genuss zu rechtfertigen suchen 80). Ob auch der Mensch in sittlicher Hinsicht schärfer zu beurtheilen ist, wenn er dergleichen, einem Princip zu liebe, erkünstelt, als wenn es mit natürlichem Behagen aus seiner Feder strömt, lassen wir dahingestellt.

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Auf alle Fälle brauchen wir es Friedrich dem Grossen nicht so sehr zu verübeln, dass er sich dieses Mannes annahm, und ihn, als ihm selbst in Holland der Aufenthalt verboten wurde, nach Berlin berufen liess, wo er Vorleser des Königs wurde, eine Stelle an der Academie erhielt, und seine ärztliche Praxis wieder aufnahm. „Der Ruf eines Philosophen und eines Unglücklichen“, sagt der König in seinem éloge, genügten um Herrn Lamettrie ein Asyl in Preussen zu verschaffen". Er liess also den „Homme machine“ und die Naturgeschichte der Seele als Philosophie gelten. Wenn er selbst später sich über Lamettrie's Werke sehr gering

schätzig äusserte, so hat er dabei ohne Zweifel hauptsächlich jene eben erwähnten Producte im Auge; seinen persönlichen Charakter beurtheilte der König nicht nur in jener officiellen Gedächtnissrede, sondern auch in vertraulichen Aeusserungen durchaus günstig. Dies fällt um so mehr in's Gewicht, da Lamettrie, wie wir wissen, sich am Hofe viele Freiheiten herausnahm und sich in Gesellschaft des Königs sehr ungezwungen gehen liess.

Am meisten hat Lamettrie seiner Sache durch seinen Tod geschadet. Hätte der neuere Materialismus nur Vertreter gehabt, wie Gassendi, Hobbes, Toland, Diderot, Grimm und Holbach, so würde den Fanatikern, die so gern ihre Urtheile auf verschwindende Einzelnheiten begründen, eine erwünschte Gelegenheit zu Verdammungsurtheilen über den Materialismus entgangen sein. Kaum war Lamettrie seines neuen Glückes am Hofe Friedrichs des Grossen einige Jahre froh geworden, als der französische Gesandte, Tirconnel, den jener von einer schweren Krankheit glücklich geheilt hatte, ein Genesungsfest veranstaltete, welches den leichtsinnigen Arzt ins Grab stürzte. Er soll in prahlerischer Schaustellung seiner Genussfähigkeit und wohl auch im Trotz auf seine Gesundheit eine ganze Trüffelpastete verzehrt haben, worauf er sofort unwohl wurde und im Hause des Gesandten an einem hitzigen Fieber unter heftigem Delirium starb. Dieser Fall machte um so grösseres Aufsehen, als damals gerade auch die Euthanasie der Atheisten zu den lebhaft besprochenen Zeitfragen gehörte. Im Jahre 1712 war ein franzö sisches Werk erschienen, als dessen Hauptverfasser man Deslandes angiebt, in dem ein Verzeichniss der grossen Männer gegeben wird, die unter Scherzen gestorben sind. Das Buch war 1747 in deutscher Uebersetzung erschienen und stand in frischem Angedenken. So mangelhaft es war, so erhielt es doch eine gewisse Bedeutung durch seine Opposition gegen die gewöhnliche orthodoxe Lehre, · welche nur den Tod in Verzweiflung oder im Frieden mit der Kirche anerkennt. Wie man darüber hin und her disputirte, ob ein Atheist sittlich leben könne, und ob also nach Bayles Hypothese ein Staat von Atheisten möglich sei, so stritt man auch über die Frage, ob ein Atheist ruhig sterben könne. Ganz entgegen der Logik, welche die einzige negative Instanz, wo es sich um die Bildung eines allgemeinen Satzes handelt, über eine ganze Reihe positiver stellt, pflegt das Vorurtheil in solchen Fällen einen einzigen seiner Behauptung günstigen Fall mehr zu beachten als alle un

günstigen. Lamettrie's Hinscheiden im Fieberdelirium in Folge des Verschlingens einer grossen Trüffelpastete ist aber ein Gegenstand, der geeignet ist, den engen Horizont eines Fanatikers so vollständig auszufüllen, dass keine apdre Vorstellung mehr Platz hat. Uebrigens ist die ganze Geschichte, welche so viel Aufsehen gemacht hat, was die Hauptsache betrifft, nämlich die eigentliche Todesursache, noch nicht einmal über den Zweifel erhaben. Friedrich der Grosse sagt in der Gedächtnissrede über seinen Tod nur: „Herr Lamettrie starb im Hause des Milord Tirconnel, des französischen Bevollmächtigten, dem er das Leben wieder gegeben hatte. Es scheint, dass die Krankheit, wohl wissend mit wem sie es zu thun hatte, die Geschicklichkeit besass, ihn zuerst beim Gehirn anzupacken, um ihn desto sicherer umzubringen. Er zog sich ein hitziges Fieber mit heftigem Delirium zu. Der Kranke war gezwungen, zu der Wissenschaft seiner Collegen seine Zuflucht zu nehmen, und er fand darin nicht die Hülfe, welche er so oft, sowohl für sich als für das Publicum, in seinen eignen Kenntnissen gefunden hatte." Ganz anders freilich äussert sich der König in einem vertraulichen Briefe an seine Schwester, die Markgräfin von Bayreuth 81). Hier wird erwähnt, dass sich Lamettrie durch Verzehren einer Fasanpastete eine Indigestion zugezogen habe. Als eigentliche Todesursache scheint jedoch der König einen Aderlass zu betrachten, den Lamettrie sich selbst verordnete, um den deutschen Aerzten, mit denen er über diesen Punkt im Streite lag, die Zweckmässigkeit des Aderlasses in diesem Falle zu beweisen.

III. Das System der Natur.

Wenn es in unserm Plane läge, den einzelnen Verzweigungen materialistischer Weltanschauung durch alle Windungen zu folgen, die grössere oder geringere Consequenz der Denker und Schriftsteller zu prüfen, die bald dem Materialismus nur gelegentlich huldigen, bald sich in langsamer Entwickelung ihm mehr und mehr nähern, bald endlich entschieden materialistische Gesinnungen nur gleichsam wider Willen verrathen: so würde keine Epoche uns einen so reichen Stoff bieten, als die zweite Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts, und kein Land würde in unserer Darstellung einen

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