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Anmerkungen.

1) Der bisweilen missverstandene Eröffnungssatz: „Der Materialismus ist so alt als die Philosophie, aber nicht älter" wendet sich einerseits gegen die Verächter des Materialismus, welche in dieser Weltanschauung einen Gegensatz gegen das philosophische Denken schlechthin finden und ihm jede wissenschaftliche Bedeutung absprechen, anderseits gegen diejenigen Materialisten, welche ihrerseits alle Philosophie verachten und sich einbilden, ihre Weltanschauung sei überhaupt nicht das Ergebniss philosophischer Speculation, sondern ein lautres Erzeugniss der Erfahrung, des gesunden Menschenverstandes und der Naturwissenschaften. Es hätte vielleicht einfacher behauptet werden können, der erste Versuch einer Philosophie überhaupt, bei den ionischen Naturphilosophen, sei Materialismus gewesen, allein die Zusammenfassung einer längeren Entwicklungsperiode von den ersten schwankenden und unvollständigen Systemen bis zu dem mit voller Consequenz und klarem Bewusstsein durchgeführten Materialismus Demokrits musste dazu führen, den Materialismus nur unter den ersten" Versuchen erscheinen zu lassen. In der That ist der Materialismus, wenn man ihn nicht von vorn herein mit Hylozoismus und Pantheismus ineinander fliessen lassen will, erst da vollendet, wo die Materie auch rein materiell aufgefasst wird, d. h. wo ihre Bestandtheile nicht etwa ein an sich denkender Stoff sind, sondern Körper, die sich nach rein körperlichen Principien bewegen, und, an sich empfindungslos, durch gewisse Formen ihres Zusammentreffens Empfindung und Denken erzeugen. Eben deshalb scheint auch durchgeführter Materialismus stets nothwendig Atomismus zu sein, da es schwerlich eine andre Weise giebt, alles Geschehene anschaulich und ohne Beimischung übersinnlicher Eigenschaften und Kräfte aus dem Stoff abzuleiten, als wenn man diesen in kleine Körperchen und leeren Raum für die Bewegung derselben auflöst. In der That ist der Unterschied zwischen den Seelenatomen Demokrits und der warmen Luft des Diogenes von Apollonia bei aller oberflächlichen Aehnlichkeit von ganz durchgreifender principieller Bedeutung. Die letztere ist Vernunftstoff schlechthin; sie ist an sich der Empfindung fähig und bewegt sich, wie sie sich bewegt, kraft ihrer Vernünftigkeit; Demokrits Seelenatome bewegen sich, gleich allen andern Atomen, nach rein mechanischen Principien und

bringen nur in einem mechanisch zu Stande gekommenen Spezialfall die Erscheinung denkender Wesen hervor. So harmonirt auch der „beseelte Magnet des Thales trefflich mit dem Ausspruch návτα ninon dröv,“ ist aber von der Art, wie die Atomistiker sich die Anziehung des Eisens durch den Magneten zu erklären versuchen, gewiss grundverschieden.

2) Gegenüber der ganz entgegengesetzt lautenden Ausführung Zellers (Phil. d. Griechen I, S. 44 ff. 3. Aufl.) mag die Bemerkung am Platze sein, dass wir den Satz: „Die Griechen hatten keine Hierarchie und keine unantastbare Dogmatik" zugeben können, ohne uns zu einer Aenderung der obigen Darstellung veranlasst zu finden. „Die Griechen" bildeten vor allen Dingen keine politische Einheit, in welcher sich dergleichen hätte ausbilden können; ihr Glaubenswesen bildete sich mit noch grösserer Manichfaltigkeit aus als das Verfassungswesen der einzelnen Städte und Landschaften. Natürlich musste der durchaus locale Charakter des Cultus bei zunehmendem friedlichem Verkehr zu einer Toleranz und Freiheit führen, welche bei intensiv gläubigen und dabei centralisirten Völkern undenkbar war. Dennoch waren unter allen Einheitsbestrebungen in Griechenland vielleicht die hierarchisch- theokratischen die bedeutendsten und man kann z. B. die Stellung der Priesterschaft von Delphi gewiss nicht als bedeutungslose Ausnahme von der Regel betrachten, dass das Priesterthum ungleich mehr Ehre als Macht" verliehen habe (Vgl. Curtius, griech. Gesch. I, p. 451, in Verbindung mit den von Gerhard, Stephani, Welcker u. A. gegebnen Aufschlüssen über den Antheil der delphischen Theologen an der Ausbreitung des Bachusdienstes und der Mysterien). Gab es in Griechenland keine Priesterkaste und keinen geschlossenen Priesterstand, so gab es dafür Priesterfamilien, deren erbliche Rechte vom unverbrüchlichsten Legitimismus gewahrt wurden und die in der Regel der höchsten Aristokratie, angehörten und ihre Stellung Jahrhunderte hindurch zu behaupten wussten. Welche Bedeutung hatten nicht für Athen die ele usinischen Mysterien und wie eng waren diese mit den Familien der Eumolpiden, der Keryken, der Phylliden u. a. verbunden! (Vgl. Hermann, gottesd. Alterth. § 31, A. 21. Schömann, griech. Alterth. II, S. 340 u. f. 2. Aufl.) Ueber den politischen Einfluss dieser Geschlechter giebt der Sturz des Alcibiades den deutlichsten Aufschluss, wiewohl bei Actionen, welche hochkirchlich - aristokratische Einflüsse in Verbindung mit dem glaubenseifrigen Pöbel in's Werk setzen, einzelnen Fäden des Netzes sich der Beobachtung zu entziehen pflegen. Was die „Orthodoxie" betrifft, so ist diese allerdings nicht auf ein scholastisch gegliedertes System von Lehren zu beziehen. Ein solches hätte vielleicht entstehen können, wenn nicht die Theokrasie der delphischen Theologen und der Mysterien zu spät gekommen wäre, um die Ausbreitung der philosophischen Aufklärung in der Aristokratie und den gebildeten Kreisen hemmen zu können. So blieb man bei den mystischen Cultusformen stehen, unter denen sich im Weiteren Jeder denken mochte, was er wollte. Um so unverbrüchlicher blieb die allgemeine Lehre von der Heiligkeit und Bedeutung dieser bestimmten Götter, dieser Cultusformen, dieser bestimmten heiligen Worte und Bräuche, so dass hier nichts der Subjek

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tivität überlassen blieb und jeder Zweifel, jeder Versuch unbefugter Neuerungen, jede leichtfertige Besprechung verpönt blieb. Ohne Zweifel fand aber auch hinsichtlich der mythischen Ueberlieferungen ein grosser Unterschied statt, zwischen der Freiheit der Dichter und der Gebundenheit der localen, unmittelbar mit dem Cultus verbundenen Priestertradition. Ein Volk, welches in jeder Stadt andre Götter, andre Attribute derselben und andre Genealogie und Mythologie vorfand, ohne sich dadurch im Glauben an die eigne heilige Ueberlieferung irre machen zu lassen, musste verhältnissmässig leicht den Dichtern gestatten mit dem allgemeinen mythischen Stoff der Nationalliteratur nach Willkür zu schalten; schien aber in solchen Freiheiten auch nur im geringsten ein directer oder indirecter Angriff gegen die Ueberlieferung von den Localgottheiten zu liegen, so drohte dem Dichter, wie dem Philosophen Gefahr. Die Reihe der im Text genannten allein in Athen verfolgten Philosophen liesse sich leicht noch vermehren, z. B. durch Stilpon und Theophrast (Meier und Schömann, att. Prozess, S. 303 u. f.); dazu kommen Dichter, wie Diagoras von Melos, auf dessen Kopf ein Preis gesetzt wurde, Aeschylus, der wegen angeblicher Entweihung der Mysterien in Lebensgefahr gerieth und nur mit Rücksicht auf seine grossen Verdienste von den Areopagiten frei gesprochen wurde; Euripides, dem eine Anklage wegen Gottlosigkeit drohte, u. A.Wie sich Toleranz und Intoleranz im athenischen Bewusstsein gegeneinander abgrenzten, zeigt am besten eine Stelle aus der Rede gegen Andocides (die nach Blass, att. Beredsamkeit, S. 566 ff. zwar nicht von Lysias, wohl aber eine ächte Anklagerede aus jenem Prozesse ist). Da heisst es, Diagoras von Melos habe doch nur (als Ausländer) an fremdem Gottesdienst gefrevelt, Andocides aber an Heiligthümern seiner eignen Stadt. Auf Einheimische aber müsse man mehr zürnen als auf Fremde, weil letztere sich doch nicht an den eignen Göttern vergingen. Diese subjektive Entschuldigung musste wohl zu einer objektiven Entlastung werden, wenn der Frevel sich nicht speciell auf athenische, sondern auf fremde Heiligthümer bezog. Aus der gleichen Rede sehen wir auch, dass die Familie der Eumolpiden befugt war, unter Umständen gegen Frevler am Heiligen Recht zu sprechen nach geheimen Gesetzen, deren Urheber man nicht einmal kannte (dass dies unter dem Vorsitz des Archon Königs geschah, vgl. Meier und Schömann S. 117 u. f., ist für unsre Frage unerheblich). — Dass der grundconservative Aristophanes die Götter humoristisch behandeln, neu einreissenden Aberglauben sogar mit bitterm Spott verfolgen durfte, liegt auf einem ganz andern Boden und dass Epikur unverfolgt blieb, erklärt wohl einfach sein entschiedner Anschluss an das ganze äussere Cultuswesen. Die politische Tendenz mancher dieser Anklagen hebt die Basis des Religionsfanatismus nicht auf sondern bestätigt sie. Wenn der Vorwurf der άoißua als eins der sichersten Mittel galt, selbst populäre Staatsmänner zu stürzen, so musste offenbar nicht nur der Buchstabe des Gesetzes, sondern auch der leidenschaftliche Religionseifer der Massen gegeben sein. Hiernach müssen wir sowohl die Darstellung des Verhältnisses von Kirche und Staat bei Schömann, griech. Alterth. I, S. 117. 3. Aufl. für einseitig halten, als auch manche Züge der erwähnten Zeller'schen Erörterung. Dass sich die

Verfolgungen nicht immer zunächst auf den Cultus, sondern oft auch direct auf die Lehre und den Glauben bezogen, scheint grade die Mehrzahl der Anklagen gegen die Philosophen ganz klar zu beweisen. Bedenkt man aber die für eine einzige Stadt und für einen verhältnissmässig kurzen Zeitraum gar nicht geringfügige Zahl der zu unsrer Kenntniss gekommenen Prozesse dieser Art und die hohe Gefahr, die mit ihnen verbunden war, so wird es schwerlich richtig sein, dass die Philosophie „nur in einigen ihrer Vertreter" betroffen wurde. Vielmehr bleibt hier, wie auch für die neuere Philosophie des 17., 18. (und 19.?) Jahrhunderts noch ernstlich zu untersuchen, wie weit der Einfluss bewusster oder unbewusster Accomodation an den Volksglauben unter dem Druck der drohenden Verfolgung bis in die Systeme selbst eingedrungen ist.

3) Vgl. Zeller I, 3. Aufl., S. 176, Anm. 2 und die bei Marbach, Gesch. d, Ph., S. 53 citirten Schriften, welche, wohl nicht zufällig, in der Zeit des Materialismus-Streites des vorigen Jahrhunderts erschienen. Zur Sache selbst sei mit Beziehung auf die Darstellung Zellers, der mir Thales zu tief zu stellen scheint, bemerkt, dass die Stelle bei Cicero de nat. deorum I, 10, 23, aus welcher man früher den Theismus des Thales ableitete, doch offenbar mit ächt Ciceronianischer Oberflächlichkeit in dem Ausdruck „fingere ex“ den ausserhalb des Weltstoffes stehenden Werkmeister bezeichnet, während Gott als „Weltvernunft“, zumal im Sinne der Stoiker, doch nur auf einen immanenten, nicht anthropomorph, also auch nicht persönlich zu denkenden Gott deutet. Die stoische Ueberlieferung mag auf blosser Deutung einer älteren Ueberlieferung im Sinne des eignen Systems beruhen, so folgt daraus noch nicht, dass diese Deutung (von der Aechtheit der Worte abgesehen) auch falsch sei. Dem Zusammenhang nach dürfte die wahrscheinlich ächte Aeusserung, dass Alles voll von Göttern sei, die Grundlage bilden, eine Aeusserung, welche auch Aristoteles de an. I, 5, 17 offenbar als symbolisch auffasst, so dass der durch toos angedeutete Zweifel sich nur (mit Recht!) auf seine eigne Deutung bezieht, die in der That weit verwegner und unwahrscheinlicher ist, als die der Stoiker. Die Auffassung der letzteren mit Arist. Met. I, 3 zurückzuweisen (Zeller I, 173) ist schon deshalb unzulässig, weil Aristoteles dort unzweifelhaft das seiner eignen Philosophie verwandte Element in Anaxagoras hervorhebt, d. h. die Trennung der weltbildenden Vernunft als der Ursache des Werdens von dem Stoff, auf welchen sie wirkt. Dass ihm dieses nämliche Element in Anaxagoras, wie schon aus dem nächstfolgenden Capitel hervorgeht, nicht genügt, weil das transcendente Princip nur gelegentlich, wie ein deus ex machina erscheint und nicht consequent durchgeführt ist, ist eine nothwendige Folge der ganzen, keineswegs widerspruchsfreien Uebergangsstellung des Anaxagoras und sowohl die Hervorhebung seines vermeintlichen Verdienstes als auch der lebhafte Tadel seiner Inconsequenz sind bei Aristoteles nur die Fortsetzung des fanatischen Eifers, mit welchem der platonische Sokrates im Phädon c. 46 den gleichen Punkt behandelt.

4) Vgl. Buckle, hist. of civil. in England II, p. 136 u. f. der Brockhaus'schen Ausgabe.

5) Vgl. die ausführliche Widerlegung der Ansichten vom Ursprung der

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griech. Phil. aus orientalischer Speculation bei Zeller I (3. Aufl.) S. 20 ff. und die gedrängte, aber sehr besonnene Behandlung der gleichen Frage bei Ueberweg, 1, 4. Aufl. S. 32. Durch die Kritik Zellers und Andrer sind die roheren Anschauungen von einer Lehrmeisterrolle des Orients wohl für immer beseitigt; dagegen dürften die Bemerkungen Zeller's auf S. 23 u. f. über den Einfluss der gemeinsamen indogermanischen Abstammung und der fortdauernden nachbarschaftlichen Berührung wohl durch den Fortgang der orientalischen Studien eine erhöhte Bedeutung gewinnen. Speciell in Beziehung auf die Philosophie ist zu bemerken, dass Zeller eine Nachwirkung des Hegel'schen Standpunktes - offenbar den Zusammenhang derselben mit der allgemeinen Culturentwicklung unterschätzt und die „speculativen“ Gedanken zu sehr isolirt. Ist unsre Anschauung vom engsten Zusammenhang der Speculation mit religiöser Aufklärung und mit dem Beginn wissenschaftlichen Denkens überhaupt richtig, so kann der Impuls zu dieser veränderten Denkweise aus dem Orient gekommen sein, aber in Griechenland, vermöge des günstigeren Bodens edlere Früchte gezeitigt haben. Vgl. die Bemerkung von Lewes, Gesch. d. a. Phil. 1. Bd. (deutsch, Berlin 1871) S. 112: „Die Thatsache giebt uns zu denken, dass die Morgendämmerung der wissenschaftlichen Speculation in Griechenland mit einer grossen religiösen Bewegung im Orient zusammenfällt. Umgekehrt können auch sehr wohl einzelne philosophische Ideen aus dem Orient nach Griechenland gekommen und dort eben deshalb entwickelt worden sein, weil die geeigneten Culturzustände dafür aus eigner griechischer Entwicklung vorhanden waren. - Die Historiker werden sich eben auch naturwissenschaftliche Anschauungen aneignen müssen. Der rohe Gegensatz von Originalität und Ueberlieferung ist nicht mehr zu brauchen. Ideen, wie organische Keime, fliegen weit, aber nur der rechte Boden bringt sie zur Entwicklung und giebt ihnen oft höhere Formen. Damit ist natürlich die Entstehung der griechischen Philosophie ohne solche Anregungen nicht ausgeschlossen, wohl aber die Frage der Originalität in ein ganz andres Licht gestellt. Die wahre Unabhängigkeit der hellenischen Cultur ruht in ihrer Vollendung; nicht in ihren Anfängen.

6) Wiewohl die modernen Aristoteliker darin Recht haben, dass in der aristotelischen Logik das Wesentliche, vom Standpunkt des Verfassers derselben betrachtet, nicht die formale Logik, sondern die logisch-metaphysische Erkenntnisstheorie ist. Gleichwohl hat uns Aristoteles auch die, von ihm wohl nur gesammelten und vervollständigten Elemente der formalen Logik überliefert, die sich, wie wir in einem späteren Werke zu zeigen hoffen, dem Princip der aristolelischen Begriffslehre nur äusserlich anschliessen und öfter mit ihm in Widerspruch treten. Wie sehr es aber auch jetzt Mode sein mag, die formale Logik zu verachten und die metaphysische Begriffslehre zu überschätzen, so dürfte doch eine ruhige Besinnung genügen, wenigstens so viel über jeden Streit zu erheben, dass die Fundamentalsätze der formalen Logik allein streng demonstrirt sind, wie die Elemente der Mathematik und selbst jene nur, soweit sie nicht, wie z. B. die Lehre von den Schlüssen aus modalen Urtheilen, durch die aristotelische Metaphysik gefälscht und verdorben sind.

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