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nichts, als die allgemeine Verbreitung jenes beweglichen Stoffs, den er bildlich sehr wohl als das Göttliche in der Welt bezeichnen konnte, ohne ihm andre als materielle Eigenschaften und mechanisch bedingte Bewegungen zuzuschreiben.

Aristoteles persiflirt die Ansicht des Demokrit von der Art, wie die Seele den Körper bewegt, mit einem Vergleich. Dädalos sollte ein bewegliches Bild der Aphrodite gemacht haben; dies erklärte der Schauspieler Philippos dadurch, dass Dädalos wahrscheinlich in das Innere des Holzbildes Quecksilber gegossen habe. Grade so, meint Aristoteles, lasse Demokrit den Menschen durch die beweglichen Atome in seinem Innern bewegt werden. Der Vergleich hinkt bedeutend, 28) aber er kann doch dienen, um zwei grundverschiedene Principien der Naturbetrachtung zu erklären. Aristoteles meint, nicht also, sondern durch Wählen und Denken bewegt die Seele den Menschen. Als ob dies nicht schon dem Wilden klar wäre, längst bevor die Wissenschaft auch nur in den leisesten Anfängen vorhanden ist! Unser ganzes „,Begreifen" ist ein Zurückführen des Besondern in der Erscheinung auf die allgemeinen Gesetze der Erscheinungswelt. Die letzte Consequenz dieses Strebens ist die Einreihung der vernünftigen Handlungen in diese Kette. Demokrit zog diese Consequenz; Aristoteles verkannte ihre Bedeutung.

Die Lehre vom Geist, sagt Zeller (I. 735) sei bei Demokrit nicht aus dem allgemeinen Bedürfniss eines „,tieferen Princips" für die Naturerklärung hervorgegangen. Demokrit habe den Geist nicht als, die weltbildende Kraft", sondern nur als einen Stoff neben andern betrachtet. Selbst Empedokles habe doch noch die Vernünftigkeit als eine innere Eigenschaft der Elemente angesehen, Demokrit dagegen nur als eine „, aus der mathematischen Beschaffenheit gewisser Atome in ihrem Verhältniss zu den andern sich ergebende Erscheinung." Genau dies ist Demokrits Vorzug; denn jede Philosophie, welche mit dem Verständniss der phänomenalen Welt Ernst machen will, muss auf diesen Punkt zurückkehren. Der Spezialfall der Bewegungen, die wir vernünftige nennen, muss aus den allgemeinen Gesetzen aller Bewegung erklärt werden, oder es ist überhaupt nichts erklärt. Der Mangel alles Materialismus besteht darin, dass er mit dieser Erklärung abschliesst, wo die höchsten Probleme der Philosophie erst beginnen. Wer aber mit vermeintlichen Vernunfterkenntnissen, die keine anschaulich-ver

ständige Auffassung mehr zulassen, in die Erklärung der äusseren Natur, den vernünftig handelnden Menschen inbegriffen, hineinpfuscht, der verdirbt die ganze Basis der Wissenschaft, heisse er gleich Aristoteles oder Hegel.

Der alte Kant würde sich hier unzweifelhaft im Princip für Demokrit und gegen Aristoteles und Zeller entscheiden. Er erklärt den Empirismus für durchaus berechtigt; so weit er nicht dogmatisch wird, sondern nur dem ,,Vorwitz und der Vermessenheit der ihre wahre Bestimmung verkennenden Vernunft" entgegentritt, welche ,,mit Einsicht und Wissen gross thut, da wo eigentlich Einsicht und Wissen aufhören," welche die praktischen und theoretischen Interessen verwechselt, um, wo es ihrer Gemächlichkeit zuträglich ist, den Faden physischer Untersuchungen abzureissen." 29) Dieser Vorwitz der Vernunft gegenüber der Erfahrung, dieses unberechtigte Abreissen des Fadens physischer Untersuchungen spielt heute seine Rolle, so gut, wie im hellenischen Alterthum. Wir werden noch genug davon zu reden haben. Es ist allemal der Punkt, wo eine gesunde Philosophie den Materialismus nicht scharf und energisch genug in Schutz nehmen kann.

Demokrits Ethik ist bei aller Erhebung des Geistes über den Körper doch im Grunde eine Glückseligkeitslehre, die ganz mit der materialistischen Weltanschauung im Einklang steht. Unter seinen moralischen Aussprüchen, die uns in ungleich grösserer Zahl erhalten sind, als die Bruchstücke seiner Naturlehre, finden sich gewiss viele uralte Lehren der Weisheit, welche in die verschiedensten Systeme passen und die Demokrit, verbunden mit Klugheitsregeln aus seiner subjektiven Lebenserfahrung, mehr in populärpraktischem Sinne vertrat, als dass sie unterscheidende Merkmale seines Systems gebildet hätten; allein wir können doch Alles in eine feste Gedankenfolge einfügen, die auf wenigen und einfachen Grundsätzen beruht.

Die Glückseligkeit besteht in der heitern Ruhe des Gemüths, die der Mensch nur durch Herrschaft über seine Begierden erlangen kann. Mässigkeit und Reinheit des Herzens verbunden mit Bildung des Geistes und Entwicklung der Intelligenz geben jedem Menschen die Mittel, trotz aller Wechselfälle des Lebens dies Ziel zu erreichen. Die Sinnenlust gewährt nur eine kurze Befriedigung und nur wer das Gute, ohne durch Furcht oder Hoffnung bewegt

zu sein, um seines inneren Werthes willen thut, ist des innern Lohnes sicher.

Eine solche Ethik ist allerdings weit entfernt von der Hedonik Epikurs oder von der Ethik eines verfeinerten Egoismus, die wir im 18. Jahrhundert mit dem Materialismus verbunden sehen; allein es fehlt ihr doch das Kriterium jeder idealistischen Moral: ein direkt aus dem Bewusstsein genommenes und unabhängig von aller Erfahrung aufgestelltes Princip unsrer Handlungen. Was gut und böse, recht und unrecht sei, scheint Demokrit ohne weitere Unter`suchung als bekannt vorauszusetzen; dass die heitre Gemüthsruhe das dauerhafteste Gut ist und dass sie durch rechtschaffnes Denken und Handeln allein erzielt werden kann, sind Erfahrungssätze, und der Grund, warum jener harmonische Zustand unsres Innern erstrebt wird, liegt allein im Glück des Individuums.

Unter den grossen Grundsätzen, auf welche der Materialismus unserer Zeit sich stützt, fehlt nur ein einziger bei Demokrit; es ist die Aufhebung jeder Teleologie durch ein Naturprincip für die Entwicklung des Zweckmässigen aus dem Unzweckmässigen. In der That darf ein solches Princip nicht fehlen, sobald mit der Durchführung einer einzigen Art von Causalität, derjenigen des mechanischen Stosses der Atome, Ernst gemacht werden soll. Es genügt nicht, zu zeigen, dass es die feinsten, beweglichsten und glattesten Atome sind, welche die Erscheinungen der organischen Welt hervorbringen; es muss auch gezeigt werden, warum mit Hülfe dieser Atome statt beliebiger zweckloser Gebilde die fein gegliederten Körper der Pflanzen und Thiere mit all ihren Organen zur Erhaltung des Individuums und der Arten zu Stande kommen. Erst wenn hiefür eine Möglichkeit gezeigt wird, kann auch im vollen Sinne des Wortes die vernünftige Bewegung als ein Spezialfall der allgemeinen Bewegung begriffen werden.

Demokrit pries die Zweckmässigkeit der organischen Gebilde, vorab des menschlichen Leibes, mit der Bewunderung eines denkenden Naturforschers. Wir finden bei ihm keine Spur jener falschen Teleologie, die man als den Erbfeind aller Naturforschung bezeichnen kann, aber wir finden auch nirgend einen Versuch, die Entstehung des Zweckmässigen aus dem blinden Walten der Naturnothwendigkeit zu erklären. Ob dies eine Lücke in seinem System oder nur eine Lücke in der Ueberlieferung ist, wissen wir nicht; wir wissen aber, dass auch dieser letzte Fundamentalsatz alles

Materialismus, zwar in roher Form, aber in voller begrifflicher Schärfe, dem philosophischen Denken der Hellenen entsprungen ist. Was Darwin, gestützt auf eine grosse Fülle positiver Kenntnisse, für die Gegenwart geleistet hat, das bot den Denkern des Alterthums Empedokles; den einfachen und durchschlagenden Gedanken: das Zweckmässige ist deshalb im Uebergewicht vorhanden, weil es in seinem Wesen liegt, sich zu erhalten, während das Unzweckmässige längst vergangen ist.

In Sicilien und Unteritalien gelangte das hellenische Geistesleben nicht viel später zu einer regen Blüthe, als an den Küsten Kleinasiens. Auch ,, Grossgriechenland" mit seinen reichen und stolzen Städten eilte dem Mutterlande weit voran, bis sich endlich die Strahlen der Philosophie in Athen, wie in einem Brennpunkte, wieder sammelten. Es muss wol bei der rapiden Entwicklung dieser Colonieen ein Element mitgewirkt haben, wie das, welches Goethe zu dem Stossseufzer brachte: „Amerika, du hast es besser, Als unser Continent, das alte, Hast keine verfallenen Schlösser Und keine Basalte." Die grössere Freiheit von der Tradition, die Entfernung von den Jahrhunderte alten Cultusstätten und aus dem Bereich der herrschsüchtigen Priesterfamilien mit ihrer tief gewurzelten Autorität scheint namentlich den Uebergang von der Befangenheit im religiösen Glauben zur wissenschaftlichen Forschung und zum philosophischen Denken sehr begünstigt zu haben. Der pythagoreische Bund war bei all seiner Strenge doch zugleich eine religiöse Neuerung von ziemlich radikalem Charakter und unter den geistig hervorragenden Gliedern dieses Bundes entwickelte sich das erfolgreichste Studium der Mathematik und der Naturwissenschaften, welches Griechenland bis zu den alexandrinischen Zeiten gekannt hat. Xenophanes, der aus Kleinasien nach Unteritalien übersiedelte und dort die Schule von Elea stiftete, ist ein eifriger Aufklärer. Er bekämpft die mythischen Vorstellungen vom Wesen der Götter und setzt einen philosophischen Begriff an die Stelle.

Empedokles von Agrigent darf nicht als Materialist bezeichnet werden, weil bei ihm Kraft und Stoff noch grundsätzlich getrennt sind. Er war vermuthlich der erste in Griechenland, der den Stoff in die vier Elemente schied, welche durch Aristoteles ein so zähes Dasein erhielten, dass wir noch heute in der Wissenschaft auf manchen Punkten ihre Spuren entdecken. Neben ihnen nahm Empedokles zwei Grundkräfte an, die Liebe und den Hass,

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welche in der Bildung und Zerstörung der Welt das Geschäft der Anziehung und der Abstossung übernahmen. Hätte Empedokles diese Kräfte als Eigenschaften der Elemente erscheinen lassen, so dürften wir ihn ruhig den Materialisten zuzählen, denn die bilderreiche Sprache seiner philosophischen Gedichte entnahm ihre Bezeichnungen nicht nur den Gefühlen des menschlichen Herzens, sondern er setzte den ganzen Olymp und die Unterwelt in Bewegung, um seinen Begriffen ein lebenswarmes Gepräge zu geben und mit dem Verstand zugleich die Phantasie zu beschäftigen. Allein seine Grundkräfte sind vom Stoff unabhängig. In unermesslichen Perioden überwiegt bald die eine, bald die andre. Wenn die „Liebe" zur völligen Oberherrschaft gelangt ist, ruhen alle Stoffe in glückseligem Frieden vereint in einer grossen Kugel. Wenn der „Hass" die Höhe seiner Macht erreicht hat, ist Alles zerstreut und zersprengt. In beiden Fällen existiren keine Einzeldinge. Alles Erdenleben ist an die Uebergangszustände gebunden, die von der einheitlichen Weltkugel durch zunehmende Macht des Hasses zur absoluten Zerstreuung führen, oder durch zunehmende Macht der Liebe den umgekehrten Weg. Dieser letztere ist der unsrer Weltperiode, in welcher wir, wie aus den Grundgedanken des Systems zu entnehmen ist, schon eine ungeheure Zeitdauer hinter uns haben müssen. Das Specielle seiner Kosmogonie interessirt uns hier nur, so weit es sich um die Entstehung der Organismen handelt, denn hier begegnet uns jener Gedanke, der durch Vermittlung von Epikur und Lucrez eine so nachhaltige Wirkung geübt hat.

Hass" und „Liebe" wirken nicht nach einem Plane, wenigstens nach keinem andern Plane, als nach dem der allgemeinen Trennung und Vereinigung. Die Organismen werden durch das zufällige Spiel der Elemente und Grundkräfte. Zuerst bildeten sich Pflanzen, dann Thiere. Die thierischen Organe brachte die Natur zuerst einzeln hervor: Augen ohne Gesichter, Arme ohne Körper u. s. w. Dann kam im Fortschritt des Verbindungstriebes ein wirres Spiel von Körpern, bald so, bald anders zusammengefügt, zu Stande. Die Natur probirte gleichsam alle Combinationen durch, bis ein lebensfähiges und endlich auch ein fortpflanzungsfähiges Geschöpf zu Stande kam. Sobald dies vorhanden ist, erhält es sich von selbst, während jene früheren Bildungen untergingen, wie sie entstanden.

Ueberweg bemerkt zu dieser Lehre (Gesch. d. Phil. I, 4. Aufl.

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