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aber auch nicht nöthig, denn ein Werk kann sehr sittlich sein, und dennoch über den Horizont derer hinaus gehen, die stets an der Einzelheit kleben bleiben, und niemals zur Anschauung des Total-Gebildes gelangen. Wenn ich den Inhalt des Romans mit 5 wenig Worten aussprechen sollte, so würde ich sagen: er zeichnet uns die gezwungene Wanderung eines Menschen durch die unterirdische Welt der Maulwürfe, Igel, Marder und Jltisse; er lehrt, daß der Koth, der dem armen Teufel in allen diesen lichtscheuen Höhlen, Nestern und Brutwinkeln nothwendig anfliegen 10 muß, zur rechten Zeit durch einen milden Regenguß von oben schon wieder abgewaschen wird.

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„Schiller und sein väterliches Haus.“ Von Ernst Julius Saupe, Subconrector am Gymnasium zu Gera.

Leipzig, bei J. J. Weber 1851.

Ein Büchlein, aus dem man erfährt, was sich eigentlich von selbst verstehen sollte, dem man aber trotzdem die weiteste Verbreitung wünschen darf, weil es sich leider nicht mehr von selbst versteht. Wir sehen daraus, daß Schiller ein guter Sohn war, ein aufopferungsfähiger Bruder, ein treuer Freund, und 20 daß er, was mit dazu gehört, alle diese menschlich-schönen Eigen= schaften auf die einfachste Weise bethätigt hat. Wir erhalten mit einem Worte einen neuen Beleg, daß sein ganzes Ich von jener heiligen Pietät erfüllt gewesen ist, welche die sittliche Welt umfließen muß, wie der Aether die physische, und ohne welche Nichts 25 auf Erden gedeihen, am allerwenigsten aber ein Dichter wirklich ein Dichter sein kann. Jüngere Talente wollen oft von älteren wissen, ob es auch richtig mit ihnen bestellt sei. Es giebt einen besseren Weg, um das zu erfahren. Mögen sie das vorliegende Buch, oder den Schiller'schen Briefwechsel mit Körner in die 30 Hand nehmen, und sich aufrichtig fragen, ob ein Mensch in ihnen

steckt, wie sich hier einer fund giebt; können sie sich antworten: ja wohl, ich bin eben so bereit, das Bedeutende neben und über mir zu verchren, und, worauf das zuweilen hinausläuft, meinen eigenen Tod zu umarmen, sobald er mir in der Gestalt erhabener Schönheit entgegentritt; können sie sich sagen: ich werde, 5 dem Geseze gegenüber, eben so wenig mit der Gemeinheit und der Trivialität, oder, falls ich nicht im Stande bin, seinen strengen Forderungen zu genügen, mit meiner eigenen Ohnmacht unterhandeln. Können sie sich das Zeugniß geben, ohne dabei in wohlfeiler Heuchelei auf den Aeschylos oder den 10 Aristoteles zurückzugehen, dann hat die Natur ohne Zweifel die Materie zu allem Großen, und also auch zum großen Künstler in sie gelegt, und es handelt sich nur noch darum, in welcher Form dieselbe hervortreten, und ob sie sich als sittliche oder künstlerische That manifestiren wird!

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„Liebesbriefe historisch berühmter Personen." Ein Beitrag zur Kenntniß des menschlichen Herzens. I. Band.

Leipzig, bei J. J. Weber. 1851.

Eine beachtenswerthe, höchst interessante Mosaik-Arbeit, die freilich keine Kritik, nur eine Inhaltsanzeige zuläßt. Wer sehen 20 will, wie Heloise liebte, und wie Abälard das Feuer, das er selbst angezündet hatte, wieder zu dämpfen strebte; wer Mirabeau von seiner rein menschlichen Seite kennen zu lernen wünscht; wen es interessirt, wie die edle La Vallière, neuerdings durch Bulwers höchst achtungswerthes Drama im Angedenken der Welt 25 wieder aufgefrischt, einer Muschel gleich, in sich selbst verglühte, und wie die feine Roland einen Freund, der sich in einen Liebhaber zu verwandeln drohte, geschickt in die frühern Schranken zurückführte; wen es vor Allem reizt, Napoleons Herzensbulletins, die er neben den Schlachtberichten an seine Josephine so

absandte, zu lesen, der nehme diese mit großer Umsicht zusammen= gestellte Sammlung zur Hand.

71.

,,Emilia Galotti."

5 (Aufgeführt im k. k. Hof- und Nationaltheater am 2. Februar)

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1852.

Lessings Emilia Galotti" wurde mit theilweise neuer Besetzung nach langer Pause wiederholt. Wir waren sehr dankbar dafür, und das Publicum mit uns. Das Stück ist nun bereits 10 über achtzig Jahre alt, denn es wurde im Jahre 1770 ge= schrieben, es ist nicht das Werk eines dichterischen Genius, und wird doch viel lieber gesehen, als die beste Novität. Woher rührt das? Unseres Erachtens liegt der Grund in der unendlichen Harmonie von Stoff und Form, die es in unserer Literatur, 15 wo diese Harmonie so selten ist, zu einer wahrhaft einzigen Erscheinung macht. Hinter jeder Scene, ja hinter jeder Rede steht Lessing selbst mit seinem klaren Auge, seinem hellen Blick, und weist die Ausstellungen, die wir machen mögten, lächelnd ab, bevor wir den Mund noch öffnen können. Fragen wir: 20 aber warum ist die erschütternde Geschichte der römischen Virginia, an die sich so Ungeheures knüpfte, hier zu einer deutschen Hofintrigue verschnitten? so antwortet er: weil ich kein Tragödiendichter war, wie Shakespeare, und nur so viel vom Gegenstand aufnahm, als ich zu bewältigen vermogte. Fragen wir: wie 25 kann der schlaue Marinelli die auf's Acußerste gereizte Orsina mit dem argwöhnischen Galotti allein lassen? so antwortet er: bemerkt Ihr das selbst, wenn Ihr vor den Lampen sigt, oder spricht der superkluge Friedrich Schlegel aus Euch? Nun, der hatte es mit dem Literaturwerke zu thun; Euch kümmere 30 nur die Darstellung, denn ich rechnete auf den Zuschauer, nicht

auf den Leser. Fragen wir: was ist an einer Emilia gelegen, die nur dadurch gerettet werden kann, daß der Vater sie tödtet, die also das sittliche Gleichgewicht schon verloren hat und nur noch vor dem physischen, nicht vor dem geistigen Fall bewahrt wird? so antwortet er: das sagte schon Asmus, der 5 Wandsbecker Bote, aber das Publicum unterscheidet nicht so haarscharf, wie dieser, zwischen der anatomischen und der Seelen= unschuld, wenn es sich hingerissen fühlt, und ich reiße es jedes Mal hin. Wer hätte dann noch den Muth, das Examen fortzusehen, wer freute sich nicht lieber unbefangen eines Werkes, 10 durch welches eine entschieden mächtige, fast dichterische Wirkung erreicht wird, obgleich es nur auf Verstandes-Combinationen beruht? Wir ziehen ein Feuerwerk, welches gelingt, einem Gewitter vor, welches in Wetterleuchten verpufft, wenn wir auch nicht vergessen, daß wir es hier mit einem viel edleren Element 15 zu thun haben, als dort. Was die Darstellung nun betrifft, so sind die gediegenen Leistungen der HH. Fichtner und Anschüß u. s. w. bekannt. Neu waren nur Frau Hebbel als Gräfin Orsina, und Frau Rettich als Claudia. Frau Hebbel bringt Alles mit, was zur Orsina gehört, und was gerade hier 20 so unumgänglich nothwendig ist: die stolze Figur, das italiänische Feuerauge, den ganzen Adel seelenvoller Plastik. Sie wußte diese seltenen Mittel auch so zu verwenden, daß sie ihren vollendetsten Rollen eine neue, ebenbürtige hinzufügte. Dies Lieben mitten im Hassen, diese Rachsucht, die das Herz des Treulosen 25 wirklich durchbohren könnte, und doch durch einen einzigen Blick, oder Händedruck, entwaffnet werden würde, kann nicht genialer dargestellt werden. Ganz vortrefflich war der Zug, wo sie sich den Anschein giebt, als ob sie dem Marinelli Etwas in's Ohr sagen wolle, und dann hinter seinem Rücken weg mit lauter 30 Stimme gegen die Thür des Prinzen ruft: der Prinz ist ein Mörder! Auch Fran Rettich bewährte als Claudia ihre ge= wohnte Meisterschaft.

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72.

Richard III.

Tragödie von Shakespeare.

(Am k. k. Hof- und Nationaltheater zum ersten Male aufgeführt am 14. Februar.)

1852.

Wir wollen es dies Mal Andern überlassen, Hymnen auf den Shakespeare anzustimmen. Wenn das größte Genie und die günstigste Zeit zusammen fallen, muß es ein Resultat geben, 10 das vielleicht nie überboten und erst spät wieder erreicht werden kann. Es ist möglich, daß die Natur einen Dichter höchsten Ranges nur in dem Wendepunct zweier Jahrtausende hervorruft; es ist gewiß, daß ein solcher, den schon das Geburtsjahr bevorzugte, indem es ihm eine ungeheure welthistorische Erbschaft 15 anwies, in seinen subjectiven Nachfolgern keinen Nebenbuhler zu fürchten hat. Ohne Widerspruch sei daher eingeräumt, daß dem Shakespeare das Recht auf alle Dichterkronen der Welt zusteht; man haue ihm zu Ehren die sämmtlichen Lorbeerbäume Italiens um, und bringe ihm sogar die vertrockneten Kränze, 20 welche der Zugwind der Gegenwart noch hier oder dort auf diesem oder jenem hervorragenden Haupt unserer eigenen Nation sigen ließ wir haben Nichts dagegen. Nur daran zweifeln wir, ob ihm selbst das Opfer gefallen würde. Nach unserer Meinung muß es ihm sehr wenig behagen, in der neueren Literatur, be25 sonders in der deutschen, die Rolle zu spielen, die er selbst den Geist des alten Königs in seinem „Hamlet" spielen läßt. Wenn sich bei uns irgendwo etwas Lebendiges regt und der Kritiker nicht gleich aus eigener Machtvollkommenheit blank zu ziehen. wagt, so citirt er den Shakespeare und vollstreckt die Execution 30 in dessen Namen. Ein Genius, wie dieser, will aber beleben, nicht tödten.

Wir müssen, da wir doch einmal auf diesen Punct gekommen sind, leider noch weiter gehen. Wir bezweifeln es stark,

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