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der Stadtuhr abmißt und dem Herrn Nachbar, sammt der Frau Nachbarin, die Direction seines innersten Denkens und Empfindens überträgt, um nur ja ihr hohes Wohlgefallen nicht zu verfehlen.

Ich habe noch Vieles auf dem Herzen und leiste namentlich 5 sehr ungern auf die Characteristik des einzigen Zeitgenossen Shakespeares Verzicht, der wirklich Etwas von ihm gelernt hat und dessen der Herausgeber bis jezt mit keiner Sylbe gedenkt. Aber ich breche ab, um meine Leser nicht zu ermüden und verspare mir das, so wie alles Uebrige, auf den vierten Artikel, 10 zu dem der vierte Band mir hoffentlich bald die Gelegenheit bieten wird. Nur eine vorläufige Bemerkung muß ich mir noch gestatten.

In dem Programm dieses Werkes wurden lauter neue Stücke versprochen, und zwar solche, welche die von Tieck, Baudissin, 15 Kannegießer, Bülow 2. 2. längst mitgetheilten an Vortrefflichkeit und Werth „mit wenigen Ausnahmen" weit überwiegen sollten, so daß man unwillkürlich an die Diamantenhöhle der Tausend und Einen Nacht mit ihrem Sesam, öffne Dich" erinnert wurde, an der die Weisen des Morgenlandes ahnungslos vorüber20 zogen, und die Einer, der kein Weiser war, plößlich durch einen Zufall entdeckte. Die vorliegenden drei Bände enthalten aber bereits sechs, wenn nicht sieben (über die Here von Edmonton bin ich im Zweifel) von jenen alten, nicht bloß dem Kenner, sondern jedem Gebildeten aus dem Publicum hinreichend be25 kannten Stücken, und sie werden der Mehrzahl nach vom Heraus

geber selbst ausdrücklich als die vorzüglichsten hervorgehoben. Durch diese Thatsache dürfte mein im ersten Artikel auf die allerbescheidenste Weise vorgebrachter Zweifel, ob einem Manne, wie Tieck, denn wirklich das Beste entgangen sein könne, doch 30 wohl einigen Grund erhalten! Ich darf den von der nüchternen Realistenschule des Tages so hart geschmähten großen Dichter doch nennen und als Autorität citiren? Auch von Shakespeare hieß es in England einmal, daß „jeder Affe sich besser auf die

Hebbel, Werte XII

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Natur verstehe und jeder Pavian mehr Geschmack besige, wie er, und daß in dem Wiehern eines Pferdes mehr Verstand, in dem Murren eines Kettenhundes mehr lebendiger Ausdruck und Menschlichkeit zu finden sei, als in seinem tragischen Pathos."

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Das Gastspiel der k. k. Hosschauspielerin Frau Christine Hebbel aus Wien auf dem großherzogl. Hoftheater zu Weimar ist eben so glänzend ausgefallen, als es kurz war. Die 10 Künstlerin trat in der „Maria Stuart" als Maria und in dem zweiten Theil der „Nibelungen-Trilogie" als Brunhild, in dem dritten, der „Rache“, als Kriemhild auf. Der großherzogl. Hof zeichnete Frau Hebbel in jeder Weise aus. Der Großherzog erschien nach dem zweiten Act der „Rache“ persönlich auf der 15 Bühne und sprach ihr für ihre Leistung seinen Dank aus, und die Großherzogin empfing sie zweimal in längeren Audienzen. Das zweite Mal überreichte ihr die hohe Frau eigenhändig ein kostbares, zur Erinnerung an die gespielten drei Rollen mit drei echten Perlen geziertes Armband mit den Worten, daß sie 20 es zu ihrem Andenken tragen möge.

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„Die Juden und der deutsche Staat."

1861.

Vor bald zehn Jahren erschien in Augsburg eine kleine 25 Broschüre, von einem „Deutschen“, wie es auf dem Titel hieß, die sich die Aufgabe gesezt hatte, einen Einblick in das „gefähr

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liche Treiben" der „Judensippschaft" zu eröffnen und dadurch Europa vom sicheren Untergange zu retten. „Israel infandum scelus audet, morte piandum" lautete das Motto und auf faum 27 Seiten wurden Themata abgehandelt, die ehemals 5 Folianten hervorgerufen hätten und die natürlich eine eben so bündige, als kurze Erledigung fanden. „Deutscher und Hebräer. Die Herrschaft der Juden über die Welt. Die Juden in Polen, Deutschland, Norwegen u. s. w. Zwei Sorten von Juden. Offene und geheime Juden. Judenverschwörung. Die Juden als zu= 10 künftiger Adel. Theater Juden. Zeitungs-Juden. ParlamentsJuden. Frankfurt a. M., ein warnendes Beispiel für die ganze Christenheit". Eine gewisse Unpartheilichkeit ließ sich dem Verfasser nicht absprechen; wenn seine Behauptungen auch nur wenig schmeichelhaft für das Volk Gottes waren, so stellte er doch 15 Zeugen für sich auf, die kein Jude verwerfen oder auch nur verdächtigen konnte, nämlich die sämmtlichen Propheten, die kleinen, wie die großen, und rief die Herren Laban, Jacob, Joseph, Onan, Ammon, Absalon u. s. w., so wie die Damen Rebecka, Thamar, Lot u. s. w. vor Gericht. Der Beweis wurde von dem kühnen 20 Ankläger auch vollständig geliefert, und es ergab sich das schauerliche Resultat, daß keine Todsünde existirt, deren die Nachkommen Abrahams nicht fähig wären und die sie nicht oft begangen hätten; sie haben, das steht nach ihren eigenen heiligen Schriften unzweifelhaft fest, die ganze S. a. l. i. g. i. a. mehr, als einmal 25 glänzend illustrirt. Sein Schluß oder vielmehr sein richterliches Erkenntniß, daß man dies verruchte Geschlecht von der Erde vertilgen oder doch wenigstens aus Europa und zum allerwenigsten aus Deutschland verjagen müsse, wenn nicht Alles darunter und darüber gehen solle, wäre daher wohl begründet gewesen und 30 hätte bei dem Pathos, womit es verkündet wurde, gewiß auch die Regierungen aus ihrem Schlummer geweckt, wenn er im Eifer nicht leider darzuthun vergessen hätte, daß Superbia, Avaritia, Luxuria, Jra, Gula, Invidia und Acedia bei den übrigen

Bewohnern des Planeten in gebührender Verachtung stehen und der Opfer entbehren. Aber darin war seine Leistung mangelhaft, und diesem Umstande haben es die Juden wahrscheinlich zu verdanken, daß der weltliche Arm sich bis jezt nicht gegen sie erhob, und daß sie sich nicht auf der Flucht an ihren Millionen s zu Tode schleppen mußten, wie einst bei der eiligen Verabschiedung von Aegypten an den Gold- und Silbergeschirren. Eine vor kurzem erschienene Broschüre: „Die Juden und der deutsche Staat"*) nimmt die Sache wieder auf und stimmt in Geist und Gesinnung mit der früheren überein, wenn auch der Form 10 nach eine. viel höhere Bildung aus ihr spricht und wenn sich auch nicht verkennen läßt, daß sich in ihr kein Calumniant oder ein Denunciant, wie sie nach dem Revolutionsjahr zu Tausenden aus dem Sumpfe hervorkrochen, sondern ein Mann von Character und Ueberzeugung äußert. Der Verfasser be- 15 dient sich derselben Methode, wie sein, wie soll ich sagen, schmußiger oder scheckiger Vorgänger, aber er citirt zu seinen Zwecken nicht den Jonas und Jeremias, er leitet die Zerstörung Jerusalems nicht aus den geheimen Sünden Israels ab und erzählt nicht eine scandalöse Anecdote aus dem Hause 20 Davids, wo man einen Beweis erwartet. Er bestrebt sich ein psychologisch-historisches Bild des Juden, wie es sich theils in den heiligen Urkunden, die von ihm selbst herrühren, unmittelbar reflectirt und wie es sich theils aus den Zeugnissen fremder Völker herstellen läßt, in möglichst scharfen Umrissen zu geben, 25 und seine Bemerkungen sind in der Regel eben so richtig und unpartheiisch, als die Schlüsse, die er aus ihnen zu ziehen sucht, falsch und ungerecht. Er hat es darin versehen, daß er den Juden nicht wieder in den Orientalen auflös'te und so auf die allgemeinen Naturbedingungen zurückführte, denen gegenüber 30 alle Zurechnung aufhört, weil ein unendlich weit höherer Calcul

*) Berlin und Posen, Nicolai'sche Buchhandlung.

beginnt; jedenfalls aber regt sein Büchlein eben so oft zum ernsten Nachdenken an, wie das Pamphlet seines Vorgängers zum Lachen, und auch dem Juden selbst wird es nicht schaden, wenn er sich, unbekümmert um einige Absurditäten und Ge5 hässigkeiten, wozu ich z. B. die Ableitung des Sabbaths nach Manetho zähle, gründlich damit beschäftigt.

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Walter Scotts Leben.*)

1862.

Walter Scott hat ein höchst eigenthümliches Schicksal gehabt. Er war Decennien lang der ausschließliche Liebling Europas, und jezt schämt sich fast jede gebildete Köchin, mit einem Roman von ihm in der Hand betroffen zu werden. Man hat den Spieß, mit dem man Andere vertheidigt, geradezu umgedreht und gegen 15 ihn gekehrt. Wie wird mit der Popularität geprahlt, wenn es in Deutschland einmal gelingt, einen Roman über die zweite Auflage hinaus zu bringen; welche aesthetische Schlüsse werden aus einem solchen Factum, das doch immer eben so viel für den Scharfblick des Verlegers, wie für das Talent des Verfassers, be20 weis't, weil es eben so gut äußere, als innere, Gründe haben kann, abgeleitet! Mit welcher Sicherheit wird der goldene Stuhl neben Cervantes und Goethe bestiegen, und wie gnädig blickt man auf Fielding und Richardson, denen man allenfalls noch ein Plätzchen auf dem Fußschemel gönnt, hernieder, wie tief verachtet man 25 Spindler und Clauren, die doch auch einmal galten und lange genug. Bei Walter Scott soll die Popularität aber Nichts gelten, ja es soll gegen ihn zengen, daß der Hofrath über einen neuen

*) Walter Scott. Ein Lebensbild. Aus englischen Quellen zusammengestellt von Dr. Felix Eberty. Zwei Theile. Breslau, Verlag von Eduard 30 Trewendt.

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