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oder Freiligrath, weil man anstatt Heinrich den Löwen in mißverstandener Ungeberdigkeit toben, anstatt wilde Thiere einander zerreißen zu lassen, den Faltenwurf der römischen Toga studirt und die Ergebnisse gelehrter Forschungen über die Gastmäler der Griechen zum Brennpunct poetischer Schilderungen macht. 5 Ja, die Sache steht schlimmer: einem Georg Büchner kam es nicht in den Sinn, dem weisen Plato Wuthausbrüche à la Danton in den Mund zu schieben, aber die Verfasser der ,,schönen Verse“ bedenken sich nicht, einem Hagen den pomphaft überlegten Character eines Lictor anzudichten! Dafür wird 10 freilich Niemand in ihren Reimen die Spreu eines tadelns= werthen Spondeus, einer doppelten Verneinung antreffen, welche leztere bekanntlich eine Bejahung ausdrückt und troßdem an mancher Stelle unsäglich zauberhaft wirkt. Eben so wird Niemand unter all den schönen Versen“ auf einen stoßen, der so aussieht, 15 wie der Goethe'sche in Wanderers Nachtlied: „Ach, ich bin des Treibens müde, was soll all der Schmerz und Lust“? eine Uncorrectheit, die hier gerade den ganzen Adelung beschämt und die seiner Zeit Kozebue, als er Goethe schulmeisterte, entgangen sein muß.

Verknöcherte Philologen mögen sich an den „schönen Verscn“ begeistern und in ihnen einen Fortschritt der deutschen Poesie erblicken; wir können darin nur den Ausdruck des tiefen Verfalles erkennen, der gegenwärtig den deutschen Parnaß beherrscht.

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108. Literaturbericht. 1859.

Die Sanjara. Roman in vier Bänden von Alfred Meißner. Zweite

Auflage. Leipzig, Fr. L. Herbig.

Der Titel dieses Romans ist ein Compliment für Arthur

Schopenhauer; das Werk selbst ist es weniger. Aber wenn der

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Verfasser auch der Aufgabe, zu deren Lösung er sich durch die Wahl eines so prätentiösen Titels anheischig machte, keineswegs Genüge geleistet hat, so hat er doch sein bestes Buch geschrieben. Diese Sansara" ist der erste deutsche Roman, bei dem die Ver5 wahrung gegen die unbefugte Uebertragung in's Französische und Englische uns nicht geradezu lächerlich vorkam; er ist vollkommen geeignet, auch jenseit des Rheins, wo er nur mit den Herren Sue und Dumas concurrirt, Leser zu finden, wenn man sich auch jenseit des Canals, im Vaterlande des großen Walter Scott, 10 spröder zeigen dürfte. Wir können den Roman jedem Freunde einer eben so spannenden, wie geistreichen Lectüre, auf's Wärmste empfehlen und fordern den Verfasser auf, den mit so großem Glück betretenen Weg ohne Zaudern und Schwanken fortzusehen. Der Roman ist die eigentliche Sphäre seines Talents, nicht das 15 Drama; dort ist es gestattet, die Verwickelung, so wie sie den höchsten Grad erreichte, durch einen „plöglichen Schlagfluß“ zu lösen, im Drama würde durch ein ähnliches Mittel nicht bloß das Interesse am Gegenstand zerstört, sondern auch die Kunstform selbst aufgehoben.

20 Ein Schneider. Roman von Karl v. Holtei. Drei Bände. Zweite Auflage. Breslau, Ed. Trewendt.

Dieser Roman steht gegen den Meißner'schen an Glanz des Colorits zurück; an Kraft und Schärfe der Zeichnung übertrifft er ihn. Für ein „Volksbuch" mögten wir ihn freilich nicht er25 klären, wie einige Beurtheiler gethan haben, noch weniger mögten wir behaupten, daß er „von Allen" gelesen werden kann, denn er enthält Dinge, die selbst einem „Familienvater" zu stark sein dürften, wenn er nicht die französische Vorschule durchgemacht hat, wie z. B. das Verhältniß Bartolinis zu Beate. Aber ohne 30 Frage hat der Verfasser in diesem Schneider ein würdiges Seitenstück zu seinen Vagabonden geliefert, die ja auch nicht neben Bibel und Gesangbuch in der Hausbibliothek aufgestellt werden.

können, und das will Etwas sagen, da er dies Mal nicht, wie früher, aus der Fülle seiner eignen Lebenserfahrungen schöpfen konnte, sondern frei erfinden mußte. Auch wollen wir, um ja nicht mißverstanden zu werden, ausdrücklich hinzufügen, daß der Roman, wenn er auch hier und da in's Bedenkliche und Bedenk 5 lichste abschweift, sich doch im Allgemeinen in gesunder Sphäre abspinnt und an einfach rührenden, ja erschütternden Scenen reich ist.

Marianne oder um Liebe leiden. Roman von Heinrich König. Zwei

Bände. Frankfurt, Meidinger Sohn u. Comp

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Diesen Roman fönnen wir bei aller Achtung vor dem oft bewährten Talent des Verfassers bei weitem nicht so hoch stellen, wie die beiden vorher besprochenen. Eine Fußverrenkung, aus der sich die „Rose" entwickelt, will uns als Grundmotiv der Peripetie nicht passend erscheinen, und die Bestechung des Arztes, 15 um ihn zur Anwendung schädlicher Mittel zu bewegen und dadurch eine körperliche Entstellung der Heldin herbeizuführen, dünkt uns auch für eine Aristocratin vom reinsten Wasser, die eine Mesalliance zwischen ihrem Sohne und der Gouvernante verhindern mögte, zu viel; geradezu widerwärtig kommt es uns 20 aber vor, wenn sogar der leichten Ausscheidung" gedacht wird, mit der das Uebel endlich weicht.

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Gesammelte Erzählungen und Novellen von Levin Schücking.

Vier Theile. Hannover, C. Rümpler.

Viele ringen um den Preis der modernen Novelle; wir 25 mögten ihn Schücking zuerkennen; denn wir kennen Niemand, der mit einem so scharfen Blick für die Verwicklungen der modernen Welt eine so geschickte Hand für die Entwirrung derselben verbände. Hierfür ist fast jedes der in diesen vier Bänden enthaltenen elf Stücke ein glänzender Beweis, und wir 30 glauben zur Empfehlung der Sammlung nichts Besseres sagen zu können.

Die Jronischen. Erzählung von Karl Altmüller. Göttingen,
Georg H. Wigand.

Wie vortrefflich haben Jean Paul und Wilhelm Hauff das Studentenleben geschildert! Das hat Herrn Altmüller aber nicht 5 abgehalten, sich auch noch einmal daran zu versuchen. Wir können das nur beklagen, denn das Idyllische ist ihm in's Sentimentale umgeschlagen und das Komische in's Gespreizte. Sein Stil ist leicht und gefällig, doch erbebt nur ein Schrank bis in's Inwendigste", eine Jungfrau aber bis in's Innerste, 10 ersterer etwa, wenn die Erde zittert, lettere allenfalls auch, wenn sie das Tagebuch ihres Geliebten lies't.

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Literaturbericht.
1859.

15 Zu allen guten Stunden. Dichtungen von Julius Hammer. Zweite Auflage. Leipzig, Brockhaus.

Julius Hammer ist der beste Repräsentant Dessen, was man in Deutschland gesunde Hauspoesie zu nennen pflegt. Der Deutsche empfindet das Bedürfniß der sittlichen Einkehr bei sich 20 selbst lebhafter, als die übrigen Völker Europas; er feiert den Carneval und den Aschermittwoch immer zugleich und betrachtet sein eignes Gesicht selten im Spiegel, ohne sich zu erinnern, daß doch eigentlich ein Todtenkopf dahinter steckt. Darum nimmt er auch die Kunst lieber von der ernsten, als von der fröhlichen 25 Seite, und Dichter, die ihm einen Rosenkranz reichen, sind ihm willkommener, als Dichter, die ihm zum Tanz aufspielen; er denkt so gern an's Ende, daß er den Anfang darüber vergißt. Neben dem Beschaulichen verlangt er das Erbauliche, und wenn er im Verlaufe der Zeit und der allgemeinen Nationalentwickelung 30 auch allgemach von Benjamin Schmolcke zu Heinrich Zschokke

vorrückte und den Deisten mit dem Pantheisten vertauschte: immer ist es derselbe Trieb, um dessen Befriedigung es sich handelt. Diesem Triebe kommt auch Hammer in seinen Dichtungen entgegen, und nach unserer Meinung in seiner einfachen, unverkünstelten Weise besser und eindringlicher, als Schefer und Rückert 5 in ihren hierhergehörigen Productionen; eine Familienbibliothek, die sein Schau um dich und schau in dich" aufgestellt hat, wird sich gewiß durch sein Zu allen guten Stunden" vervoll= ständigen müssen, denn in beiden Büchern weht der nämliche Geist einer sinnig ernsten Betrachtung des Menschen und der 10 Dinge.

Gedichte von Wilhelm Müller. Zwei Theile.

Leipzig, Brockhaus.

Vierte Auflage.

Die Sänger kommen und gehen, und nur die auserwähltesten überdauern das grüne Laub und verbinden das Alter des Adlers 15 mit dem Jugendschmelz der Nachtigall. Wo ist Hölty, wo sein Freund Bürger, wo sind Salis und Matthisson? Der „Dichter der Griechenlieder" ist noch nicht im Audenken seines Volkes erloschen, wie diese neue geschmackvolle Auflage beweis't, er verdient auch eine liebevolle Erinnerung, nur mögten wir ihn end- 20 lich einmal von seinem literairischen Titel erlös't sehen, da dieser über sein innerstes Wesen etwas ganz Verkehrtes aussagt. Wilhelm Müller hat viel eigenthümlicher von Wein und Liebe, als von der Befreiung Griechenlands gesungen, ja er verwandelt sich fast augenblicklich in einen Rhetoriker, wenn er die Flöte bei 25 Seite legt und nach der Tuba greift, und redet dann, statt zu blasen.

Freud' und Leid. Lieder und Bilder von C. Dräxler-Manfred.

Hannover, Rümpler.

Das Selbstbewußtsein, das aus den „Parabasen“ spricht, 30 wird durch die Leistungen nicht gerechtfertigt. Wie kann man einen so hohen Ton anschlagen, wenn man noch der Gefahr

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