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101.

Das Leben der Seele, in Monographien über seine Erscheinungen und Geseße,

von M. Lazarus. 2 Bände. Berlin, Schindler. 1856 und 1857.

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1858.

Die Philosophie, die in Griechenland längst vom Olymp heruntergestiegen ist, kommt in Deutschland auch allgemach vom Blocksberg herab. Die Systeme, die das Universum zu be= wältigen suchen, vermindern sich, aber die Monographien, die sich 10 mit Liebe in die einzelnen Erscheinungen vertiefen, vermehren sich. Das ist nun, historisch betrachtet, ein Rückschritt in die Zeiten Mendelssohns und Garves; wer jedoch weiß, welche Früchte das Absolute“ in der Wissenschaft, wie im Leben, getragen hat, der wird einen Fortschritt darin begrüßen müssen. 15 Zu den ausgezeichnetsten Monographien, die unserer Literatur seit lange einverleibt worden sind, gehört die Sammlung von Abhandlungen, die uns in dem Buch von Lazarus vorliegt. Schon der erste Band war reichhaltig und zeugte von einem originellen Selbstdenker, wenn wir auch, mit den Gedanken des 20 Verfassers über Bildung und Wissenschaft, so wie über Ehre und Ruhm vollkommen einverstanden, seiner Auffassung des Humors, als der Wurzel einer selbständigen und eigenthümlichen Weltanschauung, entgegentreten mußten, da wir in diesem nur den Ausdruck des im Individuum zur Empfindung gekommenen 25 und unaufgelös't gebliebenen Dualismus zu erblicken vermögen, der den übersichtlichen Höhepunct ausschließt. Der zweite Band ist aber noch viel gewichtiger, und was den Haupttheil, die Untersuchung über Geist und Sprache betrifft, geradezu als classisch zu bezeichnen. Wir haben uns mit dieser dunkelsten 30 und wichtigsten aller Materien selbst lange genug beschäftigt, um ein Lob aussprechen zu dürfen, zu dessen tieferer Begründung es hier an Raum gebricht. Dem Kundigen nur so viel, daß

Lazarus die Sprache nicht als ein Vehikel auffaßt, dessen der mit sich selbst fertige Geist sich zur Mittheilung vom Ich an das Du bedient, sondern daß er den Zeugungsact unmittelbar in sie hinein verlegt und damit alle unnüßen Fragen nach Ursprung und Zweck im Keim erstickt. Das ist nun zwar nicht 5 neu, wenigstens nicht im banalen Sinn, denn schon Plato erklärte bekanntlich das Denken für ein innerliches Sprechen, und Solger definirt die Sprache im Erwin ganz vortrefflich als „Das äußerliche Dasein des in die wirkliche Welt eintretenden Erkennens". Aber der Verfasser zeigt sich zunächst als den 10 Mann, der sonder Zweifel auch ohne Vorgänger zu dieser Einsicht gelangt sein würde. Denn es handelt sich hier, und das ist bei einem Prioritätsstreit über geistiges Eigenthum vor Allem in Betracht zu ziehen, um eine allgemeine Idee, zu der so viele Wege führen, als es Individuen giebt, nicht aber um 15 eine Spitfindigkeit, in der zwei Menschen wohl nie zusammentreffen und um die man sich, z. B. in dem lächerlichen Halm-Bacherl'schen Fall, abzankt. Dann aber ist das eigentliche Verdienst nicht in dem ersten Aperçu, sondern in der Entwicklung zu suchen, und diese ist eben so eigenthümlich, als 20 meisterhaft, wenn wir auch hie und da eine Einwendung zu machen hätten und selbst an diesem Ort unsere Verwunderung über die Seite 198 im zweiten Theil aus dem monotheistischen und, wie es scheint, specifisch mosaisch gefaßten Gottesbegriff abgeleitete Consequenz nicht ganz unterdrücken können; nach 25 unserer Meinung prägt gerade der Geist des Schöpfers", der „über den Wassern schwebt“, ohne alle Vermittlung der Kunst jeder Kinder-Phantasie ein Bild auf, während die „Dreieinigkeit“, die uns hier natürlich nur des Gegensaßes wegen kümmert, allein und ausschließlich durch den Maler Gestalt gewinnt. In- 30 dem wir jedoch troßdem dieses Buch Jedermann empfehlen, dem es um Bildung zu thun ist, erlauben wir uns noch, ihm zwei bestimmte Adressen auf den Weg zu geben. Zuerst machen wir

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den Verfasser der Briefe über das Plattdeutsche, den von uns aufrichtig geschäßten Klaus Groth, auf dasselbe aufmerksam, damit er sich überzeuge, daß er auf ein höchst untergeordnetes Moment der Sprache, das in seinem Fall obendrein großentheils 5 nur durch den langen Nicht-Gebrauch so glänzend hervorsticht, ein übertriebenes Gewicht legt, und sich hüte, sein kleines Recht durch zu hißige Verfolgung in ein großes Unrecht zu verwandeln. Dann laden wir aber auch alle unsere jungen Dichter ein, es zu studiren, die Classiker des leßten Decenniums 10 nicht ausgenommen, damit sie begreifen lernen, was Schiller mit seinem bekannten Distichon: Weil ein Vers Dir gelingt u. s. w." eigentlich meinte. Es ist sehr wahrscheinlich, daß der Purpurmantel der Meisten von ihnen an dem Verbum, das für sie zeichnet, hängen bleibt, und daß das Adjectiv, das für sie 15 colorirt, die Krone in Anspruch nimmt. Allein der Sturm der Zeit reißt ihnen, wie man an den Herren Beck, Redtwiß u. s. f. sieht, den falschen Schmuck ja doch bald von den Schultern herunter; warum sich nicht in guten Tagen mit flinker Hand selbst entkleiden und in einen warmen bürgerlichen Rock hinein 20 schlüpfen? Vielleicht trägt man dann noch blanke Knöpfe davon.

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102.

Literaturbriefe.

XIII.

Das Leben der Seele in Monographien über seine Erscheinungen und Geseze von M. Lazarus. 2 Bde. Berlin, Schindler.

1858.

Ein Buch von seltener Gediegenheit, das wir jedem Gebildeten warm empfehlen. Der erste Band enthält drei Aufsäge über Bildung und Wissenschaft, über Ehre und Ruhm und über 30 den Humor; der zweite ebenfalls drei über Geist und Sprache,

über den Tact und über die Vermischung und Zusammenwirkung der Künste. Alle sind gehaltvoll und werden, wenn sie das Thema auch nicht immer vollständig erschöpfen, doch sicher auf's Fruchtbarste zum eignen Denken anregen; die Abhandlung über Geist und Sprache müssen wir mit zum Tiefsinnigsten rechnen, 5 was über diese geheimnißvollste aller Materien je geschrieben worden ist. Das ist eine andere Auffassung, als diejenige, die sich in den Briefen über Hochdeutsch und Plattdeutsch von Klaus Groth hervorwagt, und die einmal wieder recht schlagend zeigt, daß die Virtuosität im Genre sich sehr wohl mit völliger 10 Unklarheit über den Zweck der Kunst und den Werth ihrer Mittel verträgt. Wir kommen nicht ohne triftigen Grund bei einer Gelegenheit, die uns vergönnt, das höchste Lob auszusprechen, auf das vorlaute Büchlein des sonst so tüchtigen Holsteiners zurück; es ist doch gar zu traurig, wenn ein wackerer Mann 15 nicht einsehen will, daß es sich um's Spiel und nicht um die Vervielfältigung der Flöten handelt, und daß der vom Meister vernachlässigte Ast seinen Proceß darum noch gar nicht gewonnen hat, weil er beweisen kann, daß auch aus ihm ein Instrument zu bohren gewesen wäre.

Der Mensch und die Leute. Von Bogumil Golz. 5 Hefte. Berlin, Franz Duncker.

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Bogumil Golz hat sich durch sein Buch der Kindheit einen Namen gemacht; Hebbel sagte in seiner ausführlichen Characteristik, er sei der Einzige, der den Weg zum Paradiese der Jugend 25 zurückgefunden habe, und das Wort hatte Grund. Das „Westpreußische Idyll", das er folgen ließ, war eine Olla potrida und ging mit Recht spurlos vorüber; der „Kleinstädter in Aegypten" war wieder markig und characteristisch, fiel aber hier und da in einen Orakelton, den seltsam genug gerade Der am 30 leichtesten annimmt, der erst spät Gehör findet. Jezt ist das Orakel vollkommen ausgebildet. Der Verfasser hat viele glück

liche Einfälle, die aber sammt und sonders seinem subjectiven, durch die wunderlichsten Sympathien und Antipathien bedingten Verhältniß zum Gegenstand entspringen; auch beobachtet er scharf, aber so einseitig und verbittert, daß er über ein Mäuse5 loch, das ihn an der Façade ärgert, gar wohl den Thurm eines Doms übersehen kann. Das Alles trägt er nun mit einem Anspruch auf Allgemeingültigkeit vor, als ob vom pythagoräischen Lehrsaß die Rede wäre, und daher rührt es, daß man den seltsamen Kauz auf seinen Kreuz- und Querzügen mit Ver10 gnügen begleitet und ihm doch am Ziel fast immer den Rücken kehrt. Nichtsdestoweniger gehört sein Buch zu den interessantesten. Erscheinungen des lezten Jahres; es bringt im ersten Heft eine Menge Bemerkungen über den Menschen, und versucht dann die Hauptnationen, Engländer, Franzosen, Spanier, Türken, Russen, 15 Polen, Juden und Italiäner zu characterisiren, indem es sie an uns Deutschen mißt. Die Wärme, womit es das Heimische gegen das Fremde verficht, thut wohl, und es ist den enthusiastischen Touristen gegenüber auch gut placirt, die es vergessen, daß man auf Reisen ruhig vor den Bildern steht, zu 20 Hause aber, schweißbedeckt, mitten darin.

Deutsche Cultur- und Sittengeschichte. Von Johannes Scherr. Zweite verb. Auflage. Leipzig, Otto Wigand.

Dieses Werk, das in seiner kernigen Gedrungenheit doch kein einziges Culturmoment überhüpft oder zu karg abfertigt, 25 mögten wir in eben so vielen Händen erblicken, wie den Katechismus Luthers. Es ist ein Volksbuch, wie ihrer wenige geschrieben werden, und giebt über das Woher unserer Nation so bündigen Aufschluß, daß über das Wohin gar keine Frage mehr entstehen kann.

30 Schiller, als Philosoph. Vortrag von Kuno Fischer. Frankfurt, Hermann. Ein vortrefflicher Pendant zu Schillers Selbstbekenntnissen von demselben Verfasser. Wer das weiß, was es heißt, die

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