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Leben prophetisch und drohend umkreis't. Der Rausch, der in unsern Tagen die reine Freude und das stille Entzücken so oft vertreten muß, ist nie hinreißender geschildert worden, als in dem „Roman"; das sociale Zerwürfniß, aus dem er entspringt, und das übrig bleibt, wenn man auch alle Pessimisten und 5 Utopisten mit ihren Litaneien und Theoremen davonjagt, aber auch nie furchtbarer, als in dem Nachtstück aus London. Hier haben wir denn auch gleich die beiden Grundelemente der deutschen Lyrik beisammen: das naive Aufjubeln in einer trunkenen Stunde und die gewissenhaft-gründliche Reflexion über das Woher und 10 Wohin. Zuweilen machen sie sich in einem und demselben Gedicht geltend, wie z. B. in den Eidgenossen; dann hat man ein Gefühl, als ob ein anmuthiger Traum von dem zu früh erwachten Schläfer bei der Nachtlampe fortgesponnen würde, und das ist nicht behaglich. Doch es handelt sich hier nicht um Splitter- 15 richterei, sondern um Firirung des Totaleindrucks, und dieser ist eben so eigenthümlich, als nachhaltig, wenn auch keineswegs, wie es im „Epilog" heißt, salon- und pensionsmäßig. Um Einzelnes hervorzuheben, so muß ich das „Niederländische Seestück" als die vortrefflichste und erschütterndste moderne Ballade bezeichnen, 20 die ich kenne. Der „Todtentanz zu München“, nicht der Holbeinische, sondern der von der Cholera während der IndustrieAusstellung aufgeführte, reiht sich ihr in seiner ersten Nummer würdig an. Unter den „Irrfahrten“ gehören: „Am Scheidewege“, „Dämmerstunde“ und „Ein dunkles Blatt" zum Zartesten, 25 was die neuere Literatur besigt, und die Lieder aus der „Fremdenlegion", besonders der Pechvogel aus Kurhessen“, ringen mit dem Besten aus dem „Kosmopolitischen Nachtwächter" um den Kranz der Frische und der Schärfe. Der Romantik geht der Sänger aus dem Wege; sie jedoch nicht ihm, denn „Herbstlied“, 30 „Rosenmärchen“ und „Astern“ wird die Literaturgeschichte mit zu ihren reizendsten Gaben rechnen müssen. Aber es ist überhaupt characteristisch an ihm, daß er oft, und zu oft, an den

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Nachtwandler erinnert, der sich selbst anruft, und deshalb, troz des schönsten Mondenscheins, Gefahr läuft, vom Dach zu stürzen. Doch auch das hat seinen tieferen Grund in der ihm an- und eingeborenen Richtung auf das Moderne. Eine Welt, die noch 5 selbst nicht weiß, ob und wie weit sie an sich glauben darf, kann auch keinen Dichter erzeugen, der den Glauben nicht zu= weilen verlöre.

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Rahel und ihre Zeit.

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96. Literaturbriefe.

1858.

VII.

Von Eduard Schmidt-Weißenfels. Leipzig,
F. A. Brockhaus.

Ein höchst buntscheckiges, aber auch höchst überflüssiges 15 Buch. Wenn die Phrase den Gedanken erseßen könnte, so müßte man es loben. Aber die Periode ist vorüber, wo hochtrabende Redensarten, wie: „Die französische Revolution war die Hebamme der neuen Zeit“, oder: „Börne war das grollende Deutschland", oder: Rahel war ein Epos", die Geistesarmuth und 20 den Mangel innerer Reife wenigstens in den Augen der Menge mit einigem Glück zu verdecken vermogten; der lezte Journalleser würde lachen, wollte Jemand die Elsler noch einmal „Weltgeschichte“ tanzen lassen. Wenn das Ueberschrauben und verhimmelnde Carifiren längst firirter Gesichtspuncte, das un25 motivirte Wiederaufnehmen längst zurückgewiesener oder doch auf das bescheidenste Maaß reducirter eine literairische That wäre, so würde hier eine vorliegen. Aber es heißt verwirren und über den Haufen stoßen, nicht aufklären und näher be= stimmen, wenn man den kleinen Berliner Cirkel der Frau von

Varnhagen oder gar das Boudoir des Fräuleins Levin dicht neben den großen europäischen Salon der Madame StaëlHolstein oder das väterliche Haus der Mademoiselle Necker rückt. Es heißt bis in's Lächerliche übertreiben, wenn man die Rahel, deren piquante Begabung Niemand bestreitet, zum Centralpunct 5 alles schöngeistigen" Lebens in Berlin, ja in Deutschland erheben und selbst Goethes Stellung auf ihre Bemühungen zurückführen will, obgleich es vollkommen richtig, aber auch eben so bekannt und begreiflich ist, daß er die Anerkennung seiner olympischen Ueberlegenheit erst sehr spät und nicht etwa, wie 10 Mancher glauben mag, der ihn jezt bewundert, gleich durch den Göz und den Werther errang. Es heißt jedenfalls auch zu weit gehen, wenn man Heinrich Heines Dichterruhm zu einem Topfgewächs des Rahelkreises macht, so unzweifelhaft es auch zu sein scheint, das die gränzenlose Ueberschäßung dieses Talents, 15 die so wenig ihm selbst, wie seinen Zeitgenossen, zum Segen gereichte, von dort ausging, und so dankbar wir auch für das endliche Lüften des so lange mit großer Klugheit festgehaltenen Schleiers sein wollen. Dieser Art ist nun aber auch die ganze Monographie: durchaus schief in der Anlage und phrasenhaft in der 20 Ausführung; wir müssen sie daher für einen ganz und gar mißlungenen Panegyricus erklären.

Die Selbstbekenntnisse Schillers. Vortrag, gehalten in der Rose zu Jena. Von Dr. Kuno Fischer. Frankfurt a. M., Joh. Chr. Hermann'scher Verlag.

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Ein Meisterstück in Form und Gehalt, das einmal wieder zeigt, was die gesunde Speculation vermag, wenn sie nicht zu stolz ist, an die Erscheinungen heran zu treten. Bei dem berühmten Namen des Verfassers bedarf diese Publication keiner Empfehlung; sie wird aber Manchen auf schmerzliche Weise 30 an dessen frühere Thätigkeit auf aesthetischem Gebiete erinnern,

wie er sie namentlich in der deutschen Monatsschrift von Adolph Kolaczek in Bezug auf das neue Drama entwickelte, und den lebhaften Wunsch rege machen, ihn nach so langer Pause zu dieser zurückkehren zu sehen.

5 Schillers Leben und Werke. Von Emil Palleske. Erster Band. Berlin, Franz Duncker.

Eine Biographie, die erst zur Hälfte vorliegt, gleicht einem Gemälde, das erst halb fertig ist. Beide sehen die Kritik in Verlegenheit, denn sowohl ihr Lob, wie ihr Tadel, kann wider10 legt werden; sie wird sich deshalb das lezte Wort und die Revision immer vorbehalten. Indem wir uns dem Werke zu= wenden, das uns zu dieser Bemerkung Anlaß giebt, können wir ihm zunächst bezeugen, daß es einem wirklich vorhandenen Bedürfniß entgegenkommt, und das ist schon viel. Gustav Schwab 15 genügt nicht mehr, schon aus dem einfachen Grunde, weil ihm eine Masse des wichtigsten Materials, das erst lange nach ihm flüssig wurde, für seine verdienstliche Leistung nicht zu Gebote stand; und doch ist neben ihm kein Anderer zu nennen. Der neue Bearbeiter hat dies Material auf das Sorgfältigste zu= 20 sammengelesen und benußt, wozu kein gewöhnlicher Grad von Fleiß und Gewissenhaftigkeit gehörte. Auch mit dem Gesichtspuncte, den der Verfasser im Einleitungscapitel aufstellt, stimmen wir überein; gewiß ist Schiller, der von frühster Jugend auf entbehrte und duldete, weit eher das deutsche Normalkind, als 25 Goethe, den nicht bloß die Muse, sondern auch das Glück schon in der Wiege anlächelte. Es ist keine Frage: der in einer Hütte geborene, in einer militairischen Zwangsanstalt erzogene, durch's Leben geheßte und endlich wie ein Bettler verscharrte Schiller, der nun doch in einer Fürstengruft ausruht, giebt 30 einen ganz vortrefflichen Helden für ein Volksbuch ab. Aber Palleske hat den Ton nicht getroffen; Phrasen, wie: „Der Stein verschweigt den Menschen, um den Gott zu offenbaren“,

muß man nicht brauchen, wenn man auch von Danneckers Büste ausgeht, sie schrecken Jedermann ab, nicht bloß den Bauer und Bürger, sondern auch und noch mehr den Mann von aesthetischer Bildung. Die ganze Darstellung leidet an Schwulst, keine Gestalt tritt plastisch hervor, wenn man den Herzog Karl aus- 5 nimmt, der scharf und prägnant, aber schwerlich ganz treu ge= zeichnet ist, und man athmet ordentlich auf, wenn der brave, natürliche und trog seiner Geradheit feinsinnige Streicher einmal citirt wird. Dieß ist das Hauptgebrechen, das uns aber nicht verhindert, das Werk als interessant und theilweise auch 10 als geistreich zu empfehlen; was wir gegen die kritischen Erörterungen einzuwenden hätten, versparen wir für eine spätere gründliche Ausführung.

VIII.

Der Nachsommer. Eine Erzählung von Adalbert Stifter. 3 Bände. 15 Besth, Heckenast.

Drei starke Bände! Wir glauben Nichts zu riskiren, wenn wir Demjenigen, der beweisen kann, daß er sie ausgelesen hat, ohne als Kunstrichter dazu verpflichtet zu sein, die Krone von Polen versprechen. Wir machen jedoch den Verfasser nur in 20 geringem Grade für das mißrathene Buch verantwortlich; er war sogleich bei seinem ersten Auftreten Manierist und mußte, verhätschelt, wie er wurde, zulezt natürlich alles Maaß verlieren. Anfangs schüchtern und durch die Erinnerung an Lessings Laokoon in der behäbigen Entfaltung seiner auf's Breite und 25 Breiteste angelegten Beschreibungsnatur vielleicht noch ein wenig gestört, machte er bald die Erfahrung, daß dieser einst so ge= fährliche Laokoon in unseren Tagen Niemand mehr schadet, und faßte Muth. Zuerst begnügte er sich, uns die Familien der Blumen aufzuzählen, die auf seinen Lieblingspläßen gedeihen; 30

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