Page images
PDF
EPUB

5

95.

Lyrische Poesie.

Gedichte von Franz Dingelstedt. Zweite Auflage. Stuttgart und Augsburg. J. G. Cotta'sche Verlag. 1858.

1858.

Jedes Volk hat sein Lied, und hält den ursprünglichen Ton fest, bis es verstummt. So hat auch unsere deutsche Lyrik, wie lianenhaft üppig und bunt sie sich auch durch die Jahrhunderte hinschlingen mag, sich in ihren Elementen nie ver10 ändert. Gleich weit entfernt von englischer Schwerfälligkeit, wie von französischer Leichtfertigkeit und italiänischer Spitfindigkeit, war sie von jeher das Product einer naiven Hingebung an die Dinge und einer etwas nüchternen Reflexion über sie. Unsere Dichter zerfallen nach dem Ueberwiegen des einen oder des 15 andern dieser Elemente in zwei getrennte Familien, die jedoch den gemeinschaftlichen Grundstamm keinen Augenblick verläugnen können. In Goethes Poesie der süßesten Unmittelbarkeit mischen sich, wie oft schon bemerkt und nicht selten sogar getadelt wurde, die härtesten realistischen Züge; um für den Himmel, dessen 20 Seligkeit er mit einer Engelszunge verkünden will, Glauben zu finden, stößt er die Leiter, mittelst deren er ihn erklomm, nicht zurück, sondern zieht sie nach, und zählt uns ihre Sprossen vor. Umgekehrt weiß Schiller für die kühnsten Flüge seiner Speculation noch immer das menschliche Gemüth zu erwärmen, und ihm ein 25 Gefühl einzuflößen, als ob es sich in den goldenen Wolken, zwischen denen er wonnetrunken und der Erde vergessend wandelt, auch säen und erndten ließe; er gewinnt sein Ideal durch die Verklärung des natürlichen Zustandes, nicht durch die unfruchtbare Nihilirung desselben, und gelangt zur Verklärung durch 30 simples Zurückgehen auf's Geseß, in welchem Sollen und Können denn doch zuletzt auch zusammenfallen. Diese wunderbare Mischung

des Allgemeinen und des Besondern, die das eine beständig zur Probe des andern macht, und die Blutbildung vielleicht um ihr brennendstes Incarnat bringt, sie dafür aber auch vor der Verwässerung schüßt, ist freilich zunächst ein Resultat unserer tief= sinnigen Sprache. Denn diese will, wie kaum eine zweite, über 5 all das Werden veranschaulichen, sie knüpft unermüdlich und unablässig Blüte und Wurzel zusammen, und muß darum auch die Uebergänge und die Bedingungen, unter denen sie allein zu Stande kommen, unverrückt im Gesicht behalten. Aber die Sprache ist, um weiter zurückzugreifen, ja auch eben der erste 10 und unverfälschteste Ausdruck der Nationalität, und kann Nichts abspiegeln, was nicht in ihr liegt.

Jedes Volk hat sein Lied, und hält den ursprünglichen Ton fest; allein jede Zeit variirt ihn auf eine eigenthümliche, ihren Bedürfnissen entsprechende Weise. Der deutsche Singvogel wird 15 immer ein Blatt des Baums mit in die Höhe nehmen, von dem er sich aufschwingt; aber heute ist es die Eiche des Donnergottes, und morgen ist es Holdas Linde, auf der er sißt. Anders klingt ein Schlachtgesang, und anders ein Kirchen-Choral, oder ein weicher Empfindungslaut der Liebe, wenn auch alle drei durch 20 das ihnen gemeinsame Wechselspiel von Naivetät und Reflexion. eng mit einander verwandt sind. Ob es aus dur oder aus moll geht, das hängt von den geschichtlichen Erregungen der Nation, ja zum guten Theil, bei der innigen Verbindung aller Culturvölker unter einander, von der Stimmung der Welt ab. Dieß 25 muß man vor allem beachten, wenn man unsere Lyrik und unsere Poesie überhaupt in ihrer Weiterentwicklung begreifen und gerecht gegen sie sein will. Man kann in Deutschland nicht länger Veilchen begießen, oder sich in den farbigen Schmelz des Schmetterlingsflügels vertiefen, während man in Frankreich und 30 England den Gesellschaftsvertrag untersucht und an allen Fundamenten des Staats und der Kirche rüttelt. Das ängstliche Gefühl, das sich an eine solche Untersuchung knüpft, die wenigstens

scheinbare Unsicherheit aller Zustände, die daraus hervorgeht, verbreitet sich in raschen Schwingungen über ganz Europa, und erstickt, wie die unheimlichen Zuckungen eines Erdbebens, zunächst die fröhlichen Stimmen, die aus kindlicher Brust in Dank und 5 Jubel zum Festgelage des Lebens erschallen, macht sich dann aber selbst Luft. Das sind Zeiten, in denen Hamlet seine Auferstehung in irgend einer neuen Gestalt zu feiern pflegt, und er läßt selten lange auf sich warten.

Lord Byron ist der Hamlet des Jahrhunderts. Keiner hat 10 es in der Kunst, an der Sonne nur die Flecken zu sehen, und in der Erde nur das Gewürm und die wüsten Todtengebeine zu erblicken, vor den belebenden Stralen aber, die von oben kommen, so wie vor dem frischen Grün, das sie unten erwecken, fest und dicht die Augen zu verschließen, so weit gebracht, wie er. Für 15 mich steht er in der englischen Literatur nicht einsam da. Er ist der lezte, aber freilich unendlich gesteigerte Ausläufer der Marlow, Green, Webster u. s. w., wie auf der entgegengesezten Seite sein Zeitgenosse Walter Scott in seiner heitern, unversieglichen Lebensfülle ein lezter Schößling des Shakespeare, und 20 er kann in dem Sinn sogar für einen Nationaltypus gelten, als gerade der Engländer, wie so viele wunderliche Selbstmorde und verwandte Erscheinungen beweisen, troß der allgemeinen Gesundheit des Stammes, zu einer Art von Hypochondrie geneigt ist, die von den sonst bekannten Formen dieser Krank25 heit so ganz und gar abweicht, daß er sich genöthigt sah, einen aparten Namen dafür zu erfinden. Ich bin auch weit davon entfernt, dem Byron'schen Weltschmerz, obgleich ich ihn zum Theil auf den Nationalspleen zurückführen zu müssen glaube, die subjective Wahrheit abzusprechen, oder gar ihn lieblos zu be-30 spötteln. Töne, wie sie ihm zu Gebote standen, werden nicht erheuchelt, und es ist ein sehr wirkliches, ein sehr handgreifliches Unglück, wenn ein Mensch Licht und Luft anders verlangt, als sie nun einmal sind; es ist eben so schlimm, als wenn er das Hebbel, Werke XII.

12

[ocr errors]

Uebel" oder die Wasserscheu bekäme, und das Widerwärtige und Verächtliche stellt sich erst mit den Nachäffern ein, mit den Leutchen, die, innerlich seelenvergnügt, daß der Frühling sein. grünes Kleid nicht abwirft, ihm bloß darum ein rothes wünschen, weil der geniale Britte es ihm gewünscht hat. Ich lasse es 5 ebenfalls ununtersucht, ob sein Zustand aus dem Mangel an Selbstregime hervorging, wie es allerdings scheinen könnte, oder ob dieser Mangel an Selbstregime nicht vielmehr selbst schon das Product einer fehlerhaften Organisation war. Aber Shakespeare würde in seiner berühmtesten Tragödie ein schlechtes Stück 10 geliefert haben, wenn er Hamlet das lezte Wort darin gelassen hätte, und um die Welt wird es immer bedenklich stehen, wenn Hamlet mit sprechen darf. Darum war die maaß- und gränzenlose Schwärmerei für Byron, obgleich keineswegs unnatürlich, sondern aus den Verhältnissen gar wohl zu erklären, ein höchst 15 wichtiges pathologisches Zeichen.

Das in allen seinen Tiefen aufgeregte Europa machte in dieser Schwärmerei eigentlich dasselbe Hamlet - Fieber durch, welches Deutschland in den siebziger Jahren geschüttelt, und das sich im Werther entladen hatte. Wir unsererseits wurden nicht 20 mehr so stark davon berührt, weil es eben nur noch als Recidiv auftrat. Bitterer Ernst wurde der Weltschmerz diesmal nur in Nicolaus Lenau, und er fiel denn auch als Opfer seiner traurigen Verwechselung der Lupe, die denn doch nur in einzelnen Momenten zur Hand genommen sein will, weil sie das Detail auf Kosten 25 des Ganzen hervorhebt, und keinen freien Ueberblick gestattet, mit dem Auge, das die wohlthätige Natur dem Menschen mit auf den Weg gegeben hat. Bei unserem Heinrich Heine dagegen, der sich eine gute Weile als Conductführer und Leichenmarschall des jüngsten Tages gebärdete, ging der große Riß", über den so er jammerte, nicht einmal durch die Weste, geschweige durch das Herz; er brauchte so wenig den Schneider, als den Chirurgen zu bemühen, und er zeigte auch bald genug durch die Grimassen,

die er schnitt, wie es mit dem schwarzen Frack und mit den Trauerflören um Hut und Arm gemeint gewesen war. Aber eben weil der Ernst fehlte, war unsere Weltschmerzperiode eine der widerlichsten unserer ganzen Literaturgeschichte, und verdient 5 im vollsten Maaß die Züchtigung, die ihr seitdem zu Theil geworden ist. Dennoch blieb sie nicht ohne Frucht, sie hatte doch den Gesichtskreis erweitert und den Blick geschärft, und man sand nach und nach den Uebergang vom Abstracten zum Concreten, von den Sonnenflecken, die uns nicht kümmern, zu den Spinn10 websfäden, die uns die Fenster verdunkeln. Dieß war das ent= schiedene, vielleicht noch nicht genug gewürdigte Verdienst unserer politischen Dichterschule, vor allen aber Franz Dingelstedts, der ihr durch seinen „Nachtwächter“ erst die poetische Weihe gab. Diese merkwürdige Production, die bedeutendste von allen hie15 her gehörigen und fast die einzige von bleibendem Gehalt, unter= schied sich nämlich dadurch von den übrigen, daß sie, weit entfernt sich im Ausspinnen allgemeiner Ideen-Phantome oder im Construiren von oben herab zu gefallen, sich kühn und muthig auf die Erscheinungen warf und diese mit sichrer Hand in's 20 rechte Licht rückte. Darum zündete sie überall, und sogar bei denen, die, wie es dem Referenten selbst erging, der Richtung keineswegs hold waren, die sich aber aufrichtig freuten, durch das epigrammatisch zugespizte Bild doch endlich von der luftigen Phrase erlöst und wieder auf festen Boden gestellt zu werden. 25 Ich wiederhole hier einfach, was ich vor funfzehn Jahren aussprach, und ich kann zur Characterisirung, wie zur Empfehlung der ausgewählten Gedichtsammlung, die uns jetzt vorliegt, nichts Besseres sagen, als daß der Dichter diesem Grundzug seiner Natur vollkommen treu geblieben ist. Mit ganzer Seele der 30 modernen Welt und der Gegenwart zugewandt, gleicht er bald der Biene, welche einer Blume, die unter wankenden Ruinen blüht, noch im Moment des Zusammensturzes den lezten Honig entsaugt, und bald dem Raben, welcher das dem Tode verfallene

« PreviousContinue »