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dem Würfelbecher in der Hand und der spißen Müße auf dem Kopf für Kinder und Ammen um ein Billiges den Errleben oder den Eckartshausen in Scene sezt.

II.

Es ist eine verwunderliche Erscheinung, die dem Literaturfreund 5 nicht entgangen sein kann, daß sich im letzten Decennium die epischen Dichtungen in Deutschland ungemein stark vermehrt haben. Darin müßte man einen Fortschritt erblicken, wenn diese Dichtungen aus einer gesteigerten Fülle plastischer Kraft hervorgegangen wären, der die Formen der Novelle, der Erzählung 10 und des Romans nicht mehr genügen konnten. Es verhält sich aber in den meisten Fällen geradezu umgekehrt; wer nicht das Zeug hatte, eine spannende Novelle, eine motivirte Erzählung oder einen wohl gegliederten Roman zu liefern, der trat als Epiker auf. Das Publicum ist leider noch immer geneigt, den 15 Vers an sich schon als eine Leistung zu betrachten und sich in gebundener Rede Dinge gefallen zu lassen, welche es mit Entrüstung abweisen würde, wenn der Poet sie ihm in schlichter Prosa vortragen wollte. Man frage sich z. B., ob eine Handlung, wie sie der in 10 oder 20 Auflagen verbreiteten Amaranth 20 zu Grunde liegt, in dem nachsichtigsten aller Sterblichen wohl einen geduldigen Zuhörer fände, während vielleicht ein Kosakenhetman sein Roß anhielte, wenn er im Vorüberbrausen auch nur einen einzigen Zug von dem Kampf zwischen Hector und Achill oder dem zwischen Hagen und Siegfried auffinge, um Alles 25 zu hören. Denn Homer vergißt über dem Ida und den schönen Aussichten, die der Berg darbietet, nicht den Jupiter-Ammon, der darauf sigt, und der Dichter der Nibelungen über die gestickten Hoffleider nicht die Helden, die sie tragen sollen. Die ephemeren Epifer, von denen hier die Rede ist, kommen aber „vom Buchs- 30

baumlöffel mit dem Pflaumenmus" kaum zur Hand, die ihn zum Munde führen soll, und dennoch verlangt das Epos eben darum, weil es auf der einen Seite die Welt in ihrer ganzen erdrückenden Breite entfaltet, um so unerbittlicher auf der andern, 5 daß der Mensch sich mächtig von ihr abhebt. Zu den besten Producten dieser Art gehört unbedingt

Euphorion. Eine Dichtung aus Pompeji in vier Gesängen von
Ferdinand Gregorovius. Leipzig, F. A. Brockhaus.

Es ist eine beachtungswerthe Talentprobe, aber auch er ist 10 stark im Beiwerk und schwach im Hauptpunct; die Beschreibungen sind vortrefflich, und die Figuren sind unbedeutend. Der Verfasser hat die „leßten Tage von Pompeji" zu seinem Thema gewählt und erinnert an einen berühmten, zu seiner Zeit viel gelesenen Roman von Bulwer. Die Aehnlichkeit ist aber keine 15 bloß äußere, durch den Stoff hervorgerufene; das Gedicht ist im Gegentheil durch die ganz und gar moderne Behandlung der Liebe entschieden auf den Boden des Romans hinübergerückt worden, und weis't die Forderungen desselben nun doch wieder vornehm ab. Das giebt einen eben so unauflöslichen, als un20 erquicklichen innern Widerspruch zwischen der Staffage und den Figuren; wenn wir uns an die Ampeln und Marmorbecken halten, so vermissen wir die Lydia des Horaz, und wenn wir auf Euphorion und Jone eingehen, so wünschen wir ihnen. deutsche Taufnamen und sehen uns nach der Theetasse um. Der 25 Verfasser wende nicht ein: der Mensch bleibt zu allen Zeiten und unter allen Umständen Mensch. Das ist vollkommen richtig, aber er wird in allen seinen Lebensäußerungen durch die jedesmalige Culturstufe seines Volkes bedingt, und der Römer hatte nicht die entfernteste Anlage zum Werther. Dieser Mangel ist 30 schlimm; noch schlimmer ist ein anderer. Ein Bild kann an einen verkehrten Platz gehängt und dessen ungeachtet gut aus

geführt sein; ein deutscher Jüngling kann sich in Pompeji wunderlich ausnehmen, aber uns recht wohl gefallen, sobald wir ihn in Gedanken unter eine Linde versehen, die melancholisch vom Mond beschienen ist. Doch dem Euphorion ist auch dadurch nicht zu helfen; der Verfasser hat den Uebergang vom Epos 5 zum Drama, vom äußern Umriß zum treibenden und springenden Lebenspunct, nicht ein einziges Mal gefunden, und bis auf einzelne Züge, die aber eben darum an Funken erinnern, die in's Wasser fallen, ist Alles todt und kalt geblieben. Im ganzen Homer steht nicht eine Rede, die troß der unendlichsten Kunst, die sich 10 hinter ihr verbirgt, nicht einen Eindruck machte, als ob sie improvisirt wäre; im ganzen Euphorion findet sich keine, die nicht sorgfältig für ein Declamatorium vorbereitet und auswendig gelernt schiene. Dagegen verdienen die Schilderungen das höchste Lob, und aus dem Ganzen spricht ein reicher, ge- 15 bildeter Geist, der zwar nicht berufen sein dürfte, die Geheimnisse der Menschenbrust zu verkünden, der aber auf anderen Gebieten gewiß Erfreuliches leisten wird.

Jerusalem. Epische Dichtung von Adolph Stern. Leipzig, Verlag

von Heinrich Hübner.

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In diesem Gedicht decken sich Staffage und Figuren besser, wie in dem vorigen, die Aufgabe war aber freilich auch leichter, denn wir stehen auf dem Boden der jüdisch-christlichen Weltanschauung, und haben Menschen vor uns, die nicht bloß unser Fleisch und Blut mit uns theilen. Das soll jedoch nicht zum 25 Nachtheil des Verfassers gesagt sein; er hat den Fall Jerusalems in einer Reihe ergreifender Bilder vorgeführt und nicht bloß im Ganzen historischen Blick bewiesen, sondern auch im Einzelnen jenen feinen Sinn für's Detail beurkundet, von dem die Beseelung abhängt. Hier werden keine Platonischen Dialoge gehalten, 30 sondern menschliche Gespräche, die zu dem, was eben vorgeht, in unmittelbarster Beziehung stehen, ohne darum in's Triviale

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zu fallen und etwa die orthographischen Fehler der Alltagsrede mit zur Naturwahrheit zu rechnen. Dafür spricht auch Alles zum Herzen.

Anna. Ein livländisches Lebensbild von Minna von Mädler geb. Witte. Hannover, Karl Rümpler.

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Ein Buch, das aus dem Elsaß oder aus den Ostseeprovinzen kommt, kann gewiß bei jedem Deutschen auf doppelte Nachsicht zählen. Wenn sich daher auch nicht läugnen läßt, daß diese Anna“ besser als einfache Novelle hervorgetreten wäre, da der 10 gestrenge Gebieter, der Reim, ihr mehr genommen, als gegeben hat, so wird sie sich dennoch Freunde erwerben und verdient es auch durch manche liebliche Schilderung und manchen der Natur abgelauschten Zug.

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III.

Die Singvögel gehen im deutschen Dichterwalde nicht aus; auch in den letzten Monaten hat sich, unbekümmert um Eis und Schnee, wieder eine große Anzahl eingestellt. Wir wollen sie dies Mal in solche eintheilen, die einzeln fliegen, und in solche, die in Schaaren erscheinen, und die ersteren zuerst vornehmen. 20 Freilich müßten wir lächeln über unser eignes Geschäft; das Echo,

das sie finden, ist ihre beste Kritik, und wenn die Nachtigall überhört wird, weil es gerade Jahrmarkt ist und alle Liebenden zum Tanz eilen, der Spaß aber Jubel erregt, weil sein Geschmetter zum Lärm der Janitscharenmusik paßt, so läßt es sich beklagen, 25 aber nicht ändern. Der Tag verrauscht, die Nacht bricht ein, und wie Weniges erlebt den nächsten Morgen!

Gedichte von Karl Gottfried Ritter von Leitner. Zweite sehr
vermehrte Auflage. Hannover, Victor Lohse.

Diese Sammlung tritt bereits in zweiter Auflage hervor, 30 und sie verdient eine noch größere Verbreitung, denn sie bietet

des nachhaltig Schönen Vieles dar. Zwar können wir nicht mit Karl von Holtei in Leitner einen Balladendichter erblicken, der, wenn nicht neben, so doch unmittelbar hinter Ludwig Uhland mit erhobenem Haupt einher zu schreiten berechtigt wäre. Dazu fehlt nicht mehr, als geradezu Alles: Tiefe und Ursprüng= 5 lichkeit der Erfindung eben so, wie Glut und Präcision der Ausführung. Auch in seinen Liedern vermißten wir den leichten Flügelschlag der Fittige, ohne dafür durch Gold und Edelsteine in den Fängen entschädigt zu werden; sie können so wenig als Gemüthsergüsse, wie als Reflexionserzeugnisse befriedigen. Die 10 Gelegenheitsgedichte wären sogar besser ganz weggeblieben; der= artige Votivtafeln dürfen nur Goethe und Schiller aufstellen, und der lettere hat es nicht einmal gethan. Höchst Erfreuliches liefert der Dichter dagegen im Sonett, und vortrefflich ist er im Epigramm. Die Abtheilungen: „Im Park Rosenhain“ und 15 „Friedhof-Blumen" sind lyrischer, als alle seine Lieder, und plastischer, als alle seine Balladen, und in den „vermischten Distichen“ finden sich Stücke, welche die griechische Anthologie zieren würden; z. B. Canova, die Tanzende und Anderes.

Neue Gedichte von Rudolph Gottschall. Breslau, Verlag
von Eduard Trewendt.

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Wenn die Schönheit auf dem Wege des Bürstens, Reibens, Zähnepuzens und Salbens zu Stande käme, so hätten wir sie hier vollendet vor uns stehen. Dieser Mittel bediente sich je= doch die Venus nicht, ehe sie aus dem Meere emporstieg, sondern 25 Frau Pompadour, bevor sie ihr Boudoir verließ. Die ganze Sammlung macht den Eindruck absichtlicher und bewußter Koketterie, und das sowohl durch die Materie, wie durch die Form. Angelernte und geschickt nachgemachte Naturlaute wechseln ab mit sogenannten socialen Bildern: jene erinnern an die 30 Italiäner, die in großen Städten zur Weihnachtszeit mit künstlichen Vögeln hausiren gehen, deren Gezwitscher sie nach

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