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überhaupt kein dramatischer Conflict! Nachdem sich Unglück auf Unglück über das Haupt der Hekuba ergoffen (Vorfabel), wird ihre Tochter Polyrena als Todtenopfer für Achill geschlachtet und ihr Enkel Astyanax, um keinen männlichen Nachkommen Hektors am Leben zu lassen, vom Thurm herabgestürzt (Schluß); den Inhalt der Tragödie selbst bilden wesentlich die vergeblichen Versuche der unglücklichen Königin, diese leßten Prüfungen von sich und ihrem Stamme abzuwenden. Ebenso fehlt jede Spur tragischer Schuld, ja überhaupt ein eigentlicher Held, da Hekuba so wenig wie eine ihrer Töchter Trägerin der Handlung ist; daher kann es nicht überraschen, wenn der Dichter gelegentlich der ersten Ueberarbeitung des Dramas im Jahre 1742 ohne eine Aenderung des Grundplanes den Titel „Hekuba“ zu Gunsten des umfassenderen „Die Trojanerinnen“ fallen ließ. Gewiß ist die Königin das Bindeglied für beide Seiten der Handlung, indessen ist sie beidemal nur in zweiter Linie interessirt, so daß namentlich Polyrena, das unglückliche Sühnopfer des Achill, unmittelbarer tragische Sympathie herausfordert. In anderer Hinsicht wiederum könnte Agamemnon als die leitende Person des Dramas erscheinen, weil seine schwankende Handlungsweise den einzigen Knoten der Tragödie schürzt;18) doch fällt sein Charakter gerade, vorwiegend Schlegels Eigenthum, durch Einmischung moderner Züge aus der antiken Grundstimmung der Tragödie heraus: ganz abgesehen von seiner unköniglichen, trägen Schwächlichkeit, erscheint er religiös skeptisch (II, 1):

Unmöglich dichten stets die Götter nur auf Mord.
Nein! das betrogne Volk ehrt eines Mörders Wort;
Der Priester, der uns führt, hört, statt der Götter Stimme,
In sich vielleicht den Ruf von seinem eignen Grimme . .
Und immer überläßt des Volkes Aberglaube

Dem Zorn des Himmels sich durch seine Schuld zum Raube.

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Aehnlich steht es mit seinem freien politischen Sinne:

Zehn Jahre sei ich noch von meinem Vaterland,

Von Kindern und Gemahl, und was mich liebt, verbannt;
Eh' ich auf gräulichen entscßlichen Altären

Der falschen Staatskunst will zum Opfer Blut gewähren.

Sonst hat der junge Dichter trefflich verstanden, sich in die antike Gefühlswelt einzuleben. Kassandra grenzt in ihrer prophetischen Verzückung stellenweise wirklich an wilde Erhabenheit:

Verstörte Gräber, auf, eröffnet euren Mund,

Und thut der Schatten Zorn, die man verleget, kund! .
Sieh! wie des Glückes Zorn Ulyssens Lauf verwirrt,
Der seine Grenzen sucht und stets im Elend irrt.
Und Agamemnon du! erkenne nur dein Ende!

Den, der ein Reich zerstört, erwarten Weiberhände . .

Die edle Seelengröße der Polyrena und das herzzerreißende Weh ihrer Mutter, der greisen Hekuba, bieten eine nicht unrühmliche Nachahmung der antiken Vorbilder, wenn auch das Streben nach hoher Tragik, weil über die Kräfte des modernen Jünglings einer mittelmäßigen Zeit hinausragend, auf die Dauer zu kalter Declamation verflacht.

Darf somit Moses Mendelssohn „Die Trojanerinnen“ mit Recht „fruchtbar an edelmüthigen Gesinnungen“ nennen, so ist die Tragödie doch andererseits ebenso wenig „reich an Handlung“ als an Situationen, welche „das Herz mit Schrecken und Mitleiden erfüllen", 14) wenigstens im technischen Sinne des Wortes gewiß nicht, weil immer Entsehen an die Stelle der Erschütterung treten muß, wo wir völlig Schuldlose als Opfer bluten sehen. Vergessen wir aber nicht, daß hier die antiken Dichter in einer ungleich günstigeren Lage waren: ihren Zuhörern bildete die Sage vom trojanischen Krieg einen geschlossenen Kreis, so daß dieselben jede seiner einzelnen Phasen in den Zusammenhang des Ganzen zu sehen wußten; ihnen war beim Opfer

der Polyrena wie beim Zerschmettern des Astyanax die für sein ganzes Haus verhängnißvolle Schuld des Paris einerseits, das spätere Geschick der hervorragendsten Griechenfürsten andererseits gegenwärtig, so daß sie die Wucht der Schicksalskette von Episode zu Episode in voller Tragik empfanden. Ueberdies hat der deutsche Dichter seine Position noch verschlimmert, indem er auf die ihm von Euripides dargebotene Bestrafung der Helena, und damit auf ein wirksames tragisches Sühnmittel, verzichtete.

Das Verdienst dieses in manchen Einzelheiten wohlgelungenen, im ganzen aber verfehlten dramatischen Versuches erweist sich nach alledem als ein doppeltes, doch so, daß beide Momente auf das engste zusammenhängen: Schlegel griff unmittelbar auf die Alten zurück, ohne sich des Maßstabes der Franzosen zu bedienen, und gab eben= dadurch seiner Tragödie eine von keinem Zeitgenossen erreichte Würde. Soweit dieselbe eine Sache der Diction ist - und das ist hier vorwiegend der Fall - darf allerdings nicht außer Acht gelassen werden, daß die einzig vorliegende Fassung der „Trojanerinnen“ 15) das Resultat zweier Ueberarbeitungen (von 1742 und 45) bildet, in welchen Vers für Vers gefeilt und gemodelt wurde; 16) ja, bei längerem Leben würde der Verfasser, nach einer Andeutung 17) zu schließen, noch weiter bemüht gewesen sein, die Würde der Sprache zu erhöhen. Schon hier stoßen wir auf ein Merkzeichen von Elias Schlegels gesammter Thätigkeit: seine Zeit konnte kein Genie gebären, welches die Höhen des Parnasses im Sturme nimmt; mühsam mußte er sich durch eisernen Fleiß Schritt für Schritt seinen Weg bahnen, durch immer neue Anfäße größere Beschleunigung zum Ziele zu gewinnen suchen.

Darum muß es auch von vorn herein doppelt verdächtig erscheinen, wenn die litterarische Kritik des 18. Jahrhunderts „Die Trojanerinnen“ als Schlegels vorzüglichste

Tragödie bezeichnet. Das Genie mag sich in kühnem Jugendfluge unmittelbar zu einer Höhe erheben, die es selbst nie wieder erreichen kann; der Weg des betriebsamen Talentes aber geht, zwar langsamer, aber sicher aufwärts. Wenn nun nicht nur Moses Mendelssohn, wie wir sahen, in den „Litteraturbriefen“, sondern ebenso Löwen, Schmid und andere Kenner der Litteratur wie des Theaters 18) dieses erste Stück Schlegels allen folgenden vorzogen, wenn es noch bis in die achtziger Jahre hinein ununterbochen als eine Zierde des Repertoires galt, 19) so verdankt es diesen Ruhm den an Euripides angelehnten erhabenen Zügen, welche freilich einzig in der zeitgenössischen Bühnenlitteratur blieben. Indessen ist es kein Abfall, sondern ein Ausfluß unwillkürlicher Erkenntniß von den Grenzen seines Talentes und seiner Zeit, wenn sich Schlegel von nun ab schrittweise den Franzosen nähert: er vermochte antiken Geist nachzuempfinden, wo er sich in Stoff und Form anlehnen durfte; ein deutsches Theater durch selbstschöpferische Nachbildung der Antike war er aber nicht fähig zu schaffen; dazu fehlten auch alle äußeren Bedingungen, weil die Zeit weder große Stoffe bot noch große Charaktere bildete. Es war also nur folgerichtig, daß Schlegel nach einem modernen Mittler der griechischen Tragik auszuschauen begann. Das Ziel war überdies nicht der Anschluß an die Antike als Selbstzweck, die Aufgabe hieß damals wie immer -: eine deutsche National-Litteratur zu schaffen; 2o) erwies sich ein Wetteifer mit der Antike als vorläufig aussichtslos, so war ein ergebnißreicher Anschluß an andere, näher stehende Muster fruchtlosem Experimentiren vorzuziehen.

Denkwürdig wie dieser erste Anlauf erweist sich der zweite Versuch des jungen Fürstenschülers, ein deutsches Drama wesentlich in Anlehnung an die Griechen zu schaffen. Angeregt durch die Iphigenie auf Tauris" des Euripides schrieb er 1737 ein Trauerspiel „Die Geschwister in

Taurien", welches gleichfalls, namentlich in den beiden lezten Akten, mehrfachen Verbesserungen (1739, 42 und noch später) unterzogen wurde; auch dieses Werk erhielt 1742 einen veränderten Titel „Orest und Pylades". 21) Aus der Weise, in welcher Schlegel hier seine Quelle bearbeitete, spricht bereits die klare Erkenntniß mancher unverwischbaren Unterschiede zwischen antikem und modernem Empfinden. Deshalb begnügt er sich nicht mit Ausstoßzung und Einfügung einzelner Motive, wobei wir sogleich die Tendenz obwalten sehen, nach französischer Manier die Verwicklung zu vermehren und so die Handlung zu bereichern. Er läßt daher Iphigenie ein Todtenopfer für Orest bereiten, welches dieser auffindet und in begreiflicher Neugier beraubt; in seiner krankhaften Raserei muß Orest sodann einen Eingeborenen verwunden und, zur Verantwortung gezogen, durch die Inschrift des Todtenopfers als Grieche verrathen werden. Ebenso geschieht die Entwirrung durch ein dem modernen Empfinden näher stehendes Mittel: wie schon Gottsched in der Kritischen Dichtkunst“ es für ,,keine Kunst" erklärt hatte, durch einen unmittelbaren Beistand des Himmels eine Fabel glücklich auszuführen", so verzichtet Schlegel auf das directe Eingreifen der Athene und begnügt sich mit Veröffentlichung eines Drakelspruches. Ein ähnlicher Angleichungsversuch offenbart sich in dem Streben, die Rolle des antiken Chors bis zu einem gewissen Grade der Eutrophe, einer Vertrauten von Iphigenie, zu übertragen. 22)

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Weitaus bedeutungsvoller aber ist die Erhebung der ganzen Fabel auf die Höhe moderner Sittlichkeit: nicht nur die wiederholte edelmüthige Aufopferung der beiden Freunde ist kräftig und zum größten Theil eigenartig herausgearbeitet, sondern Schlegel legte auch, freilich nachdrücklicher erst in der dritten Redaction (1742), direct den Gegensaß von Barbarei und Menschlichkeit in die Fabel.

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