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Der deutsche Vers.

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Vermuthlich ist die Abhandlung von P. Heuser in Elberfeld: Ueber die metrische Behandlung der deutschen Sprache in Realschulen" (Büschlers Verlag in Elb.) von manchen Sprachlehrern gelesen worden. Es ist dort nachgewiesen, daß unser deuts scher Vers auf die musikalische Takttheorie gegründet werden müsse, und Hr. Heuser hat zugleich auf Apels Metrik aufmerksam ge= macht. Die metrische Behandlung unserer Sprache ist immer noch eine Frage, und ich will der Beantwortung derselben einige Zeilen widmen.

Unsere Metrik ist bekanntlich seit Jahrhunderte nicht wesentlich verändert, sondern schleppt sich mit dem aus alter Zeit Ueberlieferten im ausgefahrenen Geleise fort. Der Theorie unserer Dichtungsformen fehlt die einfache, deutsche musikalische Grundlage. Apel (1814) hat es versucht, aber darin gefehlt, daß er sich von den antiken Maßen nicht hat los machen können, und daß er die modernen, mehr auf den Accent (Qualität) gebauten, Sprachen behandelt hat wie die antiken quantitirenden Sprachen. Dichter wie Klopstock und Voß haben durch ihre den Alten nachgebildeten Vers- und Strophenformen und durch ihre an das Alterthum sich anschließenden Verstheorien den Sinn für den deutschen Accent getrübt, und haben unserer Sprache etwas aufpropfen wollen, wofür sie nicht genaturet ist.

Unsere Sprache ist allerdings auch quantitirend, allein man darf nicht außer acht lassen, daß diese Quantität - wie Grimm nachweiset im Laufe der Jahrhunderte abgenommen hat und daß unsere Verse nicht aus Wort sondern aus Versfüßen bestehen.

Der Entwickelungsgang unserer Lautverhältnisse ist einfach da, daß die meisten Vocale mit der Zeit ihre organische Kürze verloren und dafür einen schweren, gedehnten Laut angenommen haben, und diesen Unterschied hat der Ton oder Accent allmålig verwischt. In

den Wörtern Namen (nomen) und namen (ceperunt), in Wagen (currus) und wågen (audere) etc. hat jeßt die erste Silbe, die man weder kurz noch lang nennen kann, den Ton.

Der Accent hat eine solche Herrschaft sich errungen, daß die betonte Silbe die übrigen von sich abhängig gemacht hat. In jedem deutschen Worte haben wir nur eine entschieden betonte Silbe. Die Quantität hat dem Accente weichen müssen, und dies ist nicht eine Unvollkommenheit der modernen Sprachen sondern ein Vorzug. Die Sprachen halten mit aller Kulturentwickelung gleichen Schritt, sie sind intensiver geworden, sie haben das sinnliche Element durch Einschrumpfung der Flexionen verloren und haben sich in das Gebiet des geistigen erhoben.

Die deutsche Metrik muß daher auch eine andere Theorie aufstellen als die antike, an der wir immer noch hängen. Der deutsche Accent und Rhythmus muß die Grundlage der deutschen Verskunst werden. Und dieser Accent und Rhythmus sind musikalischer Natur und haben ihre Quelle im Gefühle. Was man Fuß nennt ist nichts als Takt, bestehend aus Hebung und Senkung.

Der Vers steht zwischen Musik und Sprache in der Mitte, und nimmt Theil an der Natur beider. Der dramatische Vers steht dem Prosarhythmus, der lyrische dem musikalischen Rhythmus am nächsten. Wir können 4 Arten des Rhythmus unterscheiden: Sprach und Rederhythmus, Vers- und Gesangrhythmus. Der Versrhythmus ist theils ein freier (in reflektirenden Dichtungen und Dramen), theils ein gebundener (in epischen und lyrischen Dichtungen).

Die Metrik hat es mehr mit dem Versrhythmus zu thun. In diesem haben wir nicht von Spondeen, Trochäen, Daktylen c. zu sprechen, sondern von den Momenten des Taktes (Versfüßes): Hebung und Senkung. Die betonte Silbe bildet die Hebung, die übrigen die Senkung. Ohne Rücksicht auf den Rhythmus des einzelnen Wortes, ohne Rücksicht darauf, ob dieses wenige oder viele Silben hat, bilden 2 oder 3 Silben einen Taft, und eine Reihe von solchen Takten bildet den Vers, die musikalische Sprachzeile. Jeder Taft beginnt mit der Hebung, welcher häufig ein Auftakt vorausgeht. Wie unsere Sprache den Auftakt liebt, so endet der deutsche Vers auch gern mit einer schwach betonten Silbe. Ist diese nicht vorhanden, so fühlt die Stimme das Bedürfniß zu baustren.

Auf diese Weise nehmen wir unsere Sprache wie sie ist und die ganze Verslehre wird natürlicher, einfacher und deutscher.

Um den Taft drehet sich alles. Dieser kann nur aus langs, mittel- und furzzeitigen Silben bestehen, im Werthe 1/4, 1/8, 1/16 (over). Größere Währung bezeichnen wir durch Verlängerungspunkte. Durch Notenbezeichnung wird die Zeitdauer einer Silbe genauer angegeben als durch Worte häufiger wird die zweite Silbe offenbar schneller gesprochen als die lezte, und kann also nicht ? sondern muß

♪♪♪ bezeichnet werden.

und, z. B. in dem

Mehr als 3 Silben kann ein Taft nicht haben. Welche Verbindungen kommen nun vor?

In unserer ganzen poetischen Literatur finden wir (die nach antifer Metrik gebildeten, undeutschen Formen abgerechnet) hauptsächlich 3 Taltarten:

1) Der zweisilbige (s. 8. trochäische) Takt: J ♪ ♪ z. B. einsam ; 2) Zweisilbiger Takt mit Auftakt (f. 9. jambischer): ♪♪

3. B. Ich kenne ;

3) Dreisilbiger Takt (s. 8. daktylischer Fuß): ♪

strahlenden.

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Dadurch haben wir einen festen, unserer Sprache natürlichen Haltpunkt gewonnen, und das ganze Heer von antiken Versfüßen fönnen wir bei Seite lassen. Wir bezeichnen nur einige Verse nach Dieser einfachen Theorie.

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Cin

1

Blumen

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2

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glödchen vom Boden her- vor Ein viertaltiger Vers mit Auftakt und mit unregelmäßigem Zeitmaße, weil zweis und dreifilbige Talte sich vorfinden. In der

Musik würde der Auftakt den vierten zu einem vollen Takte ergän zen; in der Sprache pausirt die Stimme nach dem betonten Schlusse des Verses.

Hab' ich den Markt und die Straßen doch nie so einsam gesehen! Ein Sechstakt oder s. 8. Herameter.

Sehen wir die Verse genau an, so finden wir überall den 3⁄4 Takt, und auf diesen 3⁄41⁄2 Takt können alle s. g. Versfüße zurückgeführt werden, er ist das rhythmische Prinzip unserer Sprache.

Alle etwaigen Bedenken müssen verschwinden, wenn man berücksichtigt, daß wir es im Verse uur mit einzelnen Silben nicht mit Wortfüßen zu thun haben. Die Rhythmusverhältnisse ändern sich je nach der Stellung im Verse; im Zusammenhange verschieben sich die Wortfiguren. Es ist daher ganz gleichgültig, welche Figuren die Wörter, einzeln gelesen, bilden. Nur im Verse hat der Rhythmus seine eigentliche Geltung.

Mich dünkt, durch solche Behandlung wird die Verslehre erquicklicher, weil sie dem Sprachgefühle näher gebracht wird; sie wird für den Schüler ein intensiveres Bildungsmoment, und um so anziehender je näher sich diese Hülfsdisciplin der Lectüre anschließt.

Ich habe versucht, nach diesen Grundsägen, die ich hier nicht weiter ausführen kann, die Verskunst ausführlicher zu bearbeiten in einem Wertchen (bei Huber et C. in St. Gallen), betitelt: „die deutsche Verskunst oder die Wohllautsverhältnisse in Formen der deutschen Dichtungssprache erläutert und auf ihre musikalischen Grundlagen zurückgeführt, von

Zürich.

Theodor Vernaleken.

Studien zu Shakspeare's Hamlet.

Zweiter Artifel.

In den früheren Mittheilungen über den Hamlet habe ich getrachtet, das Mannichfaltige dieses Trauerspiels auf die Einheit der in ihm dargestellten Idee zurückzuführen; es bleibt mir nun noch übrig auch über seine Entstehung in dem Geiste des Dichters etwas zu versuchen.

Ein Kunstwerk, mit dem wir vertraut und das uns lieb geworden ist, leitet uns von selber zu seinem Urheber. Wie wir in der Beschäftigung mit demselben unserer Individualität uns bewußt werden, so tritt die fremde, mächtigere des Künstlers uns entgegen, deffen Genius uns gefangen hält, und mit dem wir durch das Medium seines Werkes uns in homogene Thätigkeit gesezt finden. Diese Wirkung gibt sich auf vielfache Weise kund. Wer, dem es zu Theil geworden ist, einen jener Heroen der Menschheit persönlich gekannt zu haben, rühmt sich nicht fröhlich dieses Glückes. Wir andern besuchen den Ort wo sie gelebt, die Stätte, welche sie be= wohnt haben. Was ihre Hand berührt, was sie besessen und ihnen. angehört hat, die Feder, welche sie geführt, die Züge ihrer Handschrift werden zu geschäßten Reliquien. Denn selbst das Geringfügigste scheint durch die Unmittelbarkeit seiner Beziehung zu erfeßen, was ihm an eigner Wichtigkeit abgeht. Ebenso werden wir von dem Individuum des Urhebers wieder zu dem Werke zurückgeführt. Dieses es ist am Ende, welches uns durch dasselbe näher treten, begreiflicher werden soll. Wir wollen die schaffende Thätigkeit des Genius belauschen, nicht blos wie sie in dem von ihm

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