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Lesebuch

für den

französischen Unterricht

auf der unteren und mittleren Stufe

höherer Lehranstalten

zur Einführung

in Land, Art und Geschichte des fremden Volkes

von

Dr. Hans Rahn,

Oberlehrer an der städtischen höheren Töchterschule zu Dresden.

Ausgabe für Mädchenschulen.

Zweite Auflage.

Mit einem Anhang,
welcher enthält:

1) einen kurzen Abriß der französischen Metrik,

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2) eine Lebensskizze der Dichter La Fontaine und Béranger,

3) eine freie metrische Übertragung der Gedichte des III. Abschnitts,
4) eine Ansicht von Paris nebst Plan der Stadt und der Umgebung,
5) eine Karte von Frankreich.

Leipzig,

O. R. Reisland.

1891.

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Vorrede.

Das vorliegende Lesebuch ist für den französischen Unterricht auf der unteren und mittleren Stufe höherer Mädchenschulen bestimmt. Ein zweiter Teil, welcher in Jahresfrist folgt, wird den Lesestoff für die oberen Klassen enthalten, doch dürfte für Schulen mit 9 oder weniger aufsteigenden Klassen bereits dieser erste Teil (vielleicht mit Zuhilfenahme eines größeren zusammenhängenden Werkes) vollständig ausreichen.

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Wie in meinem Lehrbuche, so suche ich auch hier zwischen Altem und Neuem zu vermitteln und das Althergebrachte mit den Bestrebungen der Reformn = freunde in Einklang zu bringen. Wenn ich daher auch für Beibehaltung des Lesebuchs eintrete und dasselbe sogar für die Oberstufe der Autorenlektüre vorziehe, so muß dasselbe jedoch einigen wesentlichen Forderungen der Reformbewegung Rechnung tragen; vor allem muß der Lesestoff desselben „eine Anschauung von der fremden Volksart vermitteln", d. h. die Lernenden mit Land und Leuten, sowie mit dem Denken und Empfinden des fremden Volkes bekannt machen. Es ist daher unumgänglich notwendig, daß Stücke, wie das Pferd des Kocziusko“ oder „ein Stiergefecht zu Madrid" oder „die ägyptischen Pyramiden" u. s. w. u. s. w., deren Inhalt weder ein historisches noch ein national-französisches Anschauungs- und Bildungsmoment darbietet, fortan im französischen Lesebuch nicht mehr figurieren. Sind solche Stoffe für die Geistes- und Gemütsbildung des Kindes unentbehrlich, so sind sie durch das deutsche Lesebuch oder auf andere Weise dem Gesamtunterricht zuzuführen, in das französische Lesebuch gehören sie aber nicht. Denn die französische Lektüre stellt sich mit dergleichem Inhalt Ziele, welche sie bei der geringen Stundenzahl und der Schwierigkeit des fremden Idioms nie verfolgen darf, zumal dann auch ihr eigentlicher Zweck, eine Anschauung von dem fremden Volksleben zu geben, mehr oder weniger verloren geht.

Um der gedachten Forderung der Reformfreunde nachzukommen, habe ich in dem vorliegenden Buche statt der bisher üblichen for

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malen Einteilung in Anekdoten, Erzählungen, Briefe, Gedichte u. s. w. vier oder besser gesagt drei, inhaltlich bestimmte Abschnitte zusammengestellt:

Frankreichs Land und Leute,
Aus Frankreichs Geschichte,

Aus Frankreichs Litteratur.

Den vierten Abschnitt, Französische Lektüre mit deutschem Inhalt, auf dessen Bestimmung ich unten näher eingehe, bitte ich mehr als Anhang zu betrachten.

Der erste Abschnitt will den Leser mit dem Frankreich der Gegenwart bekannt machen. Durch anschauliche Schilderungen und abgerundete Erzählungen sollen die Schülerinnen Frankreichs Bodenbeschaffenheit, seine Naturschönheiten, die Mannigfaltigkeit und den Reichtum seiner Produkte, die Flüsse, welche das Land durchströmen, die Städte, vor allem Paris, sowohl in seiner heutigen Bedeutung, wie auch als Schauplas gewaltiger politischer Ereignisse kennen lernen. Gleichzeitig mit der Eigenart des fremden Landes soll durch Bilder aus dem Volfs- und Familienleben die Eigenart des fremden Volkes dem Kinde vermittelt und so zu einer Anschauung des fremden Geistes- und Gemütslebens verholfen werden.

Der zweite Abschnitt enthält das Frankreich der Vergangenheit, d. h. die Entwicklung seiner politischen und kulturellen Verhältnisse, die wichtigsten Epochen seiner Nationalgeschichte, charakteristische Züge aus dem Leben seiner hervorragendsten Männer und Frauen u. f. w. Auch in diesem Abschnitt überwiegt die Erzählung, und nur selten tritt eine rein abstrakte Darstellung geschichtlicher Verhältnisse als Ersaß für dieselbe ein.

Der dritte Abschnitt unternimmt es, die Lernenden, soweit dies auf der Unter- und Mittelstufe angängig ist, mit dem litterarischen Frankreich bekannt zu machen. Nur zwei Dichter - Lafontaine und Béranger konnten für den vorliegenden Teil Berücksichtigung finden. Denn bei Dichtern ist nicht bloß ein Verständnis ihrer Werke, sondern auch eine gerechte Würdigung derselben, vor allem aber ein Erfassen ihres poetischen Schaffens und ihrer Individualität anzustreben, und das war auf dieser Stufe nur bei den zwei genannten möglich. Es soll aber dieser Abschnitt neben seiner eigentlichen Bestimmung, die Lernenden mit Frankreichs Litteratur bekannt zu machen, auch dem oben gedachten Hauptzweck des französischen Lesebuchs Rechnung tragen. Um eine breitere Grundlage zu gewinnen, sind auch einige Gedichte anderer Verfasser (aber nur ihres Inhalts wegen) beigegeben worden.

Der für die Oberstufe bestimmte Teil wird dieselben Abschnitte: Frankreichs Land und Leute, Aus Frankreichs Geschichte, Aus Frankreichs Litteratur - enthalten, nur wird der lezte Abschnitt, der in dem vorliegenden Buche notwendigerweise eine etwas stiefmütterliche Behandlung erfahren hat, den beiden andern dort ebenbürtig zur Seite treten. In den einzelnen Abschnitten werden dann auch

ganze Werke, wie Melle de La Seiglère, Athalie, Novellen von Daudet u. s. w. mit unwesentlichen Kürzungen Aufnahme finden. Ich erwähne dies nur, um meinen Standpunkt der Autorenlektüre gegenüber klar zu stellen. Sobald die Lektüre ganzer Stücke, ohne Nachteile mit sich zu führen, den betonten Forderungen Rechnung trägt, ist sie willkommen. Zeigt sie sich hierin aber weniger leistungsfähig, als es Bruchstücke kleineren oder größeren Umfangs sind, so ist sie zu verwerfen. Denn der eigentliche Zweck der französischen Lektüre besteht darin, den Lernenden ein möglichst vollständiges Bild von den nationalen Eigentümlichkeiten und der geschichtlichen und litterarischen Entwicklung Frankreichs zu geben. Ein solches Bild aber läßt sich am besten mosaikartig zusammenseßen, und auch ein größeres Werk wird immer nur einen Teil dieses Mosaikgemäldes ausmachen.

Von einer ausschließlichen Beschäftigung mit zusammenhängenden, besonders geschichtlichen, Werken ist man ja auch im Kreise der Reformfreunde bereits zurückgekommen. Mit Recht bemerkt Ricken1), daß eine Anschauung vom fremden Volksleben und Volksgeist nur auf einer viel breiteren Grundlage gewonnen werde, als ein paar historische Schriften sie liefern können. Andere Nachteile der ausschließlichen Autorenlektüre hat Rauschenfels 2) in vortrefflicher Weise zusammengestellt, und schon Münch) bezeichnete das Anlesen der mehr oder minder dickleibigen Werke einiger hervorragender Autoren als ein verbreitetes und kaum vermeidliches Übel.

Die als Norm für dies Lesebuch dargelegten Gesichtspunkte sind aber auch wohl vereinbar mit dem Hauptzweck der Lektüre, sowie dem allgemeinen Zweck jedweder Unterrichtsdisciplin, „zu einer freien Bildung des Geistes und Gemütes beizu tragen." Denn die gewählten Stoffe stehen nicht bloß in einer der gedachten Beziehungen zu Frankreich, sie sind gleichzeitig ihres Gedankeninhalts wegen auch an und für sich Lesenswert, sie sind anziehend und anregend, dem Verständnis der Lernenden angepaßt und ihrem Bildungsbedürfnis entsprechend, sie sind vor allem fittlich fördernd und menschlich bildend.

Bei einer fachlichen Anordnung des Stoffes, wie sie das vorliegende Buch bietet, konnte die Reihenfolge der Stücke nicht mehr (wie bisher üblich) durch die Schwierigkeit des Verständnisses bestimmt werden. Um daher dem alten pädagogischen Grundsaße: „Vom Leichteren zum Schwereren" gerecht zu werden, muß hier der Lehrende durch eigne Auswahl die formale Anordnung der Lehrstücke bewirken 4), was unerläßlicher

1) Zeitschrift für neufranzösische Sprache und Litteratur X, 1.
2) Methodit des französischen Sprachunterrichts. Leipzig 1890.
3) Zur Förderung des französischen Unterrichts. Heilbronn 1883.
Das erste Stück (Seite 1) z. B. dürfte erst dann zur Lektüre gelangen,

wenn man den ersten Abschnitt zusammenfassend abschließt.

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