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6. Das Roß und der Stier.

Auf einem feurigen Rosse floh stolz ein dreister Knabe daher. Da rief ein wilder Stier dem Rosse zu: „Schande! von einem Knaben ließ' ich mich nicht regieren!"

„Aber ich, versezte das Roß. Denn was für Ehre könnte es mir bringen, einen Knaben abzuwerfen?"

7. Die Gans.

Die Federn einer Gans beschämten den neugebornen Schnee. Stolz auf dieses blendende Geschenk der Natur, glaubte sie eher zu einem Schwane, als zu dem, was sie war, geboren zu sein. Sie sonderte sich von ihresgleichen ab und schwamm einsam und majestätisch auf dem Teiche herum. Bald dehnte sie ihren Hals, deffen verräterischer Kürze sie mit aller Macht abhelfen wollte. Bald suchte sie ihm die prächtige Biegung zu geben, in welcher der Schwan das würdigste Ansehen eines Vogels des Apollo hat. Doch vergebens; er war zu steif, und mit aller ihrer Bemühung brachte sie es nicht weiter, als daß sie eine lächerliche Gans ward, ohne ein Schwan zu werden.

8. Die Geschichte des alten Wolfs.

I.

Der böse Wolf war zu Jahren gekommen und faßte den gleißenden Entschluß, mit den Schäfern auf einem gütlichen Fuß zu leben. Er machte sich also auf und kam zu dem Schäfer, dessen Horden seiner Höhle die nächsten waren.

,,Schäfer, sprach er, du nennst mich den blutgierigen Räuber, der ich doch wirklich nicht bin. Freilich muß ich mich an deine Schafe halten, wenn mich hungert; denn Hunger thut weh. Schüße mich nur vor dem Hunger; mache mich nur satt, und du sollst mit mir recht wohl zufrieden sein. Denn ich bin wirklich das zahmste, sanftmütigste Tier, wenn ich satt bin."

,,Wenn du satt bist? Das kann wohl sein, versezte der Schäfer. Aber wann bist du denn satt? Du und der Geiz werden es nie. Geh deinen Weg!"

II.

Der abgewiesene Wolf kam zu einem zweiten Schäfer.

,,Du weißt, Schäfer, war seine Anrede, daß ich dir das Jahr durch manches Schaf würgen könnte. Willst du mir überhaupt jedes Jahr sechs Schafe geben, so bin ich zufrieden. Du kannst alsdann sicher schlafen und die Hunde ohne Bedenken abschaffen.“

,,Sechs Schafe? sprach der Schäfer, das ist ja eine ganze Herde!" „Nun, weil du es bist, so will ich mich mit fünfen begnügen,“ sagte der Wolf.

,,Du scherzest; fünf Schafe! Mehr als fünf Schafe opfre ich kaum im ganzen Jahre dem Pan."

„Auch nicht viere?" fragte der Wolf weiter, und der Schäfer schüttelte spöttisch den Kopf.

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„Nicht ein einziges! fiel endlich der Bescheid. Denn es wäre ja wohl thöricht, wenn ich mich einem Feinde zinsbar machte, vor welchem ich mich durch meine Wachsamkeit sichern kann."

III.

Aller guten Dinge sind drei," dachte der Wolf und kam zu einem dritten Schäfer.

„Es geht mir recht nahe, sprach er, daß ich unter euch Schäfern als das grausamste, gewissenloseste Tier verschrieen bin. Dir, Montan, will ich jezt beweisen, wie unrecht man mir thut. Gieb mir jährlich ein Schaf, so soll deine Herde in jenem Walde, den niemand unsicher macht als ich, frei und unbeschädigt weiden dürfen. Ein Schaf! Welche Kleinigkeit! Könnte ich großmütiger, könnte ich uneigennüßiger handeln? — Du lachst, Schäfer? Worüber lachst du denn?"

,,, über nichts! - Aber wie alt bist du, guter Freund?" sprach der Schäfer.

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Was geht dich mein Alter an? Immer noch alt genug, dir deine liebsten Lämmer zu würgen."

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Erzürne dich nicht, alter Jsegrim! Es thut mir leid, daß du mit deinem Vorschlage einige Jahre zu spät kommst. Deine ausgebissenen Zähne verraten dich. Du spielst den Uneigennüßigen, bloß um dich desto gemächlicher, mit desto weniger Gefahr nähren zu können.“

Der Wolf ward

dem vierten Schäfer. der Wolf machte sich

IV.

ärgerlich, faßte sich aber doch und ging auch zu Diesem war eben sein treuer Hund gestorben, und den Umstand zu nuge.

,,Schäfer, sprach er, ich habe mich mit meinen Brüdern in dem Walde veruneinigt, und so, daß ich mich in Ewigkeit nicht wieder mit ihnen aussöhnen werde. Du weißt, wie viel du von ihnen zu fürchten hast. Wenn du mich aber anstatt deines verstorbenen Hundes in Dienste nehmen willst, so stehe ich dir dafür, daß sie keines deiner Schafe auch nur scheel ansehen sollen.“

„Du willst sie also, versezte der Schäfer, gegen deine Brüder im Walde beschüßen?"

,,Was meine ich denn sonst? Freilich."

„Das wäre nicht übel! — Aber wenn ich dich nun in meine Horden einnähme, sage mir doch, wer sollte alsdann meine armen Schafe gegen dich beschüßen? Einen Dieb ins Haus nehmen, um vor den Dieben außer dem Hause sicher zu sein, das halten wir Menschen....."

„Ich höre schon, sagte der Wolf, du fängst an zu moralisieren. Lebe wohl!"

V.

,,Wäre ich nicht so alt! knirschte der Wolf. Aber ich muß mich leider in die Zeit schicken.“ Und so kam er zu dem fünften Schäfer. ,,Kennst du mich, Schäfer?" fragte der Wolf.

,,Deinesgleichen wenigstens kenne ich," versezte der Schäfer.

Meinesgleichen? Daran zweifle ich sehr. Ich bin ein so sonderbarer Wolf, daß ich deiner und aller Schäfer Freundschaft wohl wert bin." Und wie sonderbar bist du denn?"

"

„Ich könnte kein lebendiges Schaf würgen und fressen, und wenn es mir das Leben kosten sollte. Ich nähre mich bloß mit toten Schafen. Ist das nicht löblich? Erlaube mir also immer, daß ich mich dann und wann bei deiner Herde einfinden und nachfragen darf, ob dir nicht ....'

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„Spare der Worte! sagte der Schäfer. Du müßtest gar keine Schafe fressen, auch nicht einmal tote, wenn ich dein Feind nicht sein sollte. Ein Tier, das mir schon tote Schafe frißt, lernt leicht aus Hunger kranke Schafe für tot und gesunde für krank ansehen. Mache auf meine Freundschaft also keine Rechnung und geh!"

VI.

„Ich muß nun schon mein Liebstes daran wenden, um zu meinem Zwecke zu gelangen," dachte der Wolf und kam zu dem sechsten Schäfer. „Schäfer, wie gefällt dir mein Pelz?" fragte der Wolf.

„Dein Pelz? sagte der Schäfer, laß sehen! Er ist schön; die Hunde müssen dich nicht oft unter gehabt haben."

Nun so höre, Schäfer; ich bin alt und werde es so lange nicht mehr treiben. Füttere mich zu Tode, und ich vermache dir meinen Pelz." „Ei, sieh doch! sagte der Schäfer, kömmst du auch hinter die Schliche der alten Geizhälse? Nein, nein! dein Pelz würde mich am Ende siebenmal mehr kosten, als er wert wäre. Ist es dir aber ein Ernst, mir ein Geschenk zu machen, so gieb ihn mir gleich jest." Hiermit griff der Schäfer nach der Keule, und der Wolf floh.

VII.

„O die Unbarmherzigen! schrie der Wolf und geriet in die äußerste Wut. So will ich auch als ihr Feind sterben, ehe mich der Hunger tötet; denn sie wollen es nicht besser."

Er lief, brach in die Wohnungen der Schäfer ein, riß ihre Kinder nieder und ward nicht ohne große Mühe von den Schäfern erschlagen.

Da sprach der weiseste von ihnen: „Wir thaten doch wohl unrecht, daß wir den alten Räuber auf das Äußerste brachten und ihm alle Mittel zur Besserung, so spät und erzwungen sie auch war, benahmen."

9. Philotas.

Ein Trauerspiel.

"

Wie Lessing in seiner Emilia Galotti" deutsche Zustände und Verhältnisse in italienisches Gewand kleidet, so giebt er in seinem Philotas“ in griechischer Verkleidung preußische und deutsche Gesinnung und Denkart aus der Zeit des siebenjährigen Krieges wieder, und der Philotas" ist daher in hervorragendem Sinne ein nationales Drama unserer Litteratur. Zwar hat Lessing die Namen Philotas, Parmenio, Aridäus und Strato dem Zeitalter Alexanders des Großen entlehnt, aber er denkt nicht daran, geschichtliche Personen in seinem Drama darzustellen und ein Bild aus jener Zeit zu geben; was er schildert, hat er vielmehr der unmittelbaren Umgebung entnommen. Handlung und Aufbau sind so einfach als nur irgend möglich; Lessing strebte sichtlich nach der einfachen Größe der griechischen Tragiker. Die Sprache ist epigrammatisch zugespizt und mit Sentenzen durchseßt; zur Prosa griff Lessing im Gegensaz zu dem weitschweifigen und eintönigen Alexandriner.

Erster Auftritt.
Philotas.

So bin ich wirklich gefangen? Gefangen!

fang meiner kriegerischen Lehrjahre!

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O ihr Götter! O mein Vater! - Wie gern überredete ich mich, daß alles ein Traum sei! Meine frühste Kindheit hat nie etwas anders als Waffen und Läger1) und Schlachten und Stürme geträumt. Könnte der Jüngling nicht von Verlust und Entwaffnung träumen? Schmeichle dir nur, Philotas! Wenn ich sie nicht sähe, nicht fühlte, die Wunde, durch die der erstarrten Hand das Schwert entsant! Man hat sie mir wider Willen verbunden. O der grausamen Barmherzigkeit eines listigen Feindes! Sie ist nicht tödlich, sagte der Arzt, und glaubte mich zu trösten. Nichtswürdiger, sie sollte tödlich sein! Und nur eine Wunde, nur eine! Wüßte ich, daß ich sie tödlich machte, wenn ich sie wieder aufriß und wieder verbinden ließ, und wieder aufriß- Ich rase, ich Unglücklicher! Und was für ein höhnisches Gesicht jegt fällt mir es ein - mir der alte Krieger machte,

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1) Noch heute süddeutscher Plural, im älteren Neuhochdeutsch allgemein üblich. Lesebuch für höhere Lehranstalten. V.

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der mich vom Pferde riß! Er nannte mich: Kind! - Auch sein König muß mich für ein Kind, für ein verzärteltes Kind halten. In was für ein Zelt hat er mich bringen lassen! Aufgepugt, mit allen Bequemlichkeiten versehen! Es muß einer von seinen Buhlerinnen gehören. Ein ekler Aufenthalt für einen Soldaten! Und anstatt bewacht zu werden, werde ich bedient. Hohnsprechende Höflichkeit!

Strato. Prinz

Zweiter Auftritt.

Strato. Philotas.

Philotas. Schon wieder ein Besuch? Alter, ich bin gern allein.
Strato. Prinz, ich komme auf Befehl des Königs —

Philotas. Ich verstehe dich! Es ist wahr, ich bin deines Königs Gefangener, und es steht bei ihm, wie er mir will begegnen lassen. Aber höre, wenn du der bist, dessen Miene du trägst bist du ein alter ehrlicher Kriegsmann, so nimm dich meiner an und bitte den König, daß er mir als einem Soldaten, und nicht als einem Weibe begegnen lasse.

Strato. Er wird gleich bei dir sein; ich komme, ihn zu melden. Philotas. Der König bei mir? und du kömmst, ihn zu melden? Ich will nicht, daß er mir eine von den Erniedrigungen erspare, die sich ein Gefangener muß gefallen lassen! Komm, führe mich zu ihm! Nach dem Schimpfe entwaffnet zu sein, ist mir nichts mehr schimpflich. Strato. Prinz, deine Bildung, voll jugendlicher Anmut, verspricht ein sanfteres Gemüt.

Philotas. Laß meine Bildung unverspottet! Dein Gesicht voll Narben ist freilich ein schöneres Gesicht

Strato. Bei den Göttern! eine große Antwort! Ich muß dich bewundern und lieben.

Philotas. Möchtest du doch, wenn du mich nur erst gefürchtet hättest. Strato. Immer heldenmütiger! Wir haben den schrecklichsten Feind vor uns, wenn unter seiner Jugend der Philotas viel sind.

Philotas. Schmeichle mir nicht! Euch schrecklich zu werden, müssen sie mit meinen Gesinnungen größre Thaten verbinden. — Darf ich deinen Namen wissen?

Strato. Strato.

Philotas. Strato? Der tapfre Strato, der meinen Vater am Lykus1) schlug? —

Strato. Gedenke mir dieses zweideutigen Sieges nicht! Und wie blutig rächte sich dein Vater in der Ebene Methymna!) So ein Vater muß so einen Sohn haben.

1) Ein vielfach vorkommender Flußname, so im alten Assyrien, Phönikien, Phrygien, Pontus. 2) Stadt auf der Insel Lesbos.

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