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Psychologie als Wissenschaft,

neu gegründet

auf Erfahrung, Metaphysik, und

Mathematik.

Von

Johann Friedrich Herbart,
Professor der Philosophie zu Königsberg.

Zweyter, analytischer Theil.

Königsberg, 1825.

Auf Kosten des Verfassers, und in Commission bey
August Wilhelm Unzer.

Phil 3428.47(2),

HARVARD
UNIVERSITY
LIBRARY

SEP 10 1958

Vorrede.

Man wird sich erinnern, dass gleich im Anfange

des ersten Theils von einer natürlichen Umwandlung gewisser Begriffe gesprochen wurde, welche den Philosophen unwillkührlich begegne, während sie dieselben bearbeiten. Mit Recht erwartet man im vorliegenden zweyten Bande genauere Auskunft darüber, wie die Möglichkeit solcher Umwandlung, so fern sie nicht absichtlich vollzogen wird, in den allgemeinen psychologischen Gesetzen gegründet ist. In der That werden wir die Formen der Erfahrung, welche blofs darum a priori in uns zu liegen scheinen, weil sie, von der Materie der Empfindung unabhängig, die Resultate der Complicationen und Verschmelzungen ausdrücken, allmählig vor unsern Augen hervor treten, und der Wissenschaft zu fernerer methodischer Umarbeitung gleichsam entgegenkommen sehen. Aber ein besonderer Fall, wiewohl er nur dem Gebiete der Meinungen angehört, verdient schon hier, in der Vorrede, die sich natürlich an das jetzige Publicum wendet, eine Erwähnung.

2

Als Jakobi sich entschlofs, sein berühmtes Gespräch mit Lessing bekannt zu machen: da musste er darauf gefafst seyn, dafs die Leser sich in zwey Partheyen theilen würden, je nachdem seine, oder Lessings Auctorität bey ihnen gröfser, und sie selbst entweder mehr dem Denken, oder dem Fühlen geneigt wären. Die beyden Partheyen haben sich gebildet; und stehn bis heute einander gegenüber. Nun mufs jede neue Lehre sich gefallen lassen, bey Allen, die von ihr hören, irgend eine Befangenheit in diesen Streit anzutreffen; und das ist hier um desto gewisser der Fall, weil die Partheyen gar wohl wissen, dafs die Psychologie, deren Zustimmung nicht fehlen darf, wofern die von ihnen angegebenen Erkenntnifsweisen als zulänglich betrachtet werden sollen, für sie keinesweges gleichgültig seyn kann. Daher so verschiedene Lobreden auf die Vernunft; die fast klingen, als wäre sie ein Orakel, das man bestechen mufs, damit es weissage wie man verlangt. Die Psychologie war schwach genug, logische Klassenbegriffe der innern Ereignisse für reale Seelenvermögen zu halten; darum hofft man noch einmal auf ihre Schwäche; man spart keine Zudringlichkeit, sie auch noch für intellectuale Anschauungen und Ahndungen zu gewinnen, die freylich noch etwas weiter als jene von der Wahrheit entfernt seyn würden.

Was aber war der Gewinn, welchen die gelehrte Welt erlangte, als sie erfuhr, Lessing sey Spinozist gewesen? Dies, wenn das Gewinn heifsen kann, dafs der Spinozismus allgemeiner bekannt wurde. Früher war er, wie ein Gespenst,

von Wenigen im Dunkeln mit Grauen gesehen worden; jetzt zeigte es sich, dafs er bey hellem Mittage gewissen kirchlichen Lehrsätzen nachfolgt wie ihr Schatten. Diejenige Umwandlung der Begriffe nun, welche hiebey unwillkührlich vorgeht, könnte heutiges Tages, wo der Spinozismus für die Religion der Aufgeklärten gilt, und wo Jeder entweder klug wie Lessing, oder doch unterrichtet wie Jakobi seyn will, ohne Bedenken ausführlich vorgetragen werden; allein um eindringlicher zu reden, verweise ich lieber auf die Geschichte. Man weifs, dafs Spinoza durch Des Cartes seine philosophische Bildung empfing. Wer nun die Werke des DesCartes lieset, der sieht, dafs derselbe, nachdem er seine ersten Zweifel überwunden hat, gar bald wiederum sich den gewohnten Jugend-Eindrükken überlässt, und dafs er ganz auf ähnliche Weise, wie die Kirche zu thun pflegt, die ersten Religionsbegriffe entwickelt. Anfangs wird Gott als aufserweltliches Wesen vorausgesetzt. Wie könnte man anders?

Den Menschen, der eignen Willen hat, und der stolz darauf ist, den eignen Sinn durchzusetzen, weiset ja die Kirche hin zu Gott; sie sucht dabey durch die stärksten Motive auf den Willen zu wirken; also ist sie weit entfernt, zu glauben, dieser Wille, so roh wie sie ihn antrifft, sey schon ein göttliches Leben im Menschen. Um aber den Sünder zu demüthigen, um den Gläubigen zu stärken, ist ihr kein Ausdruck zu hoch, kein Geheimnifs zu wunderbar; einzig beschäfftigt mit ihrem Zwecke, bemerkt sie nicht, dass es für sie eine Gefahr der Ueber

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