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Die Quantität der betonten Vokale im

Neufranzösischen.

Ein wichtiges Gebiet der romanischen Sprachforschung, welches in neuerer Zeit Gegenstand eines lebhaften Streites war, ist das Kapitel der Vokalquantität. Hauptsächlich ist die Frage nach dem Verhalten der Quantität bei der Umgestaltung der vulgärlateinischen Vokale zu romanischen Vokalen vielfach erörtert worden, SO von Canello in der Rivista di filologia romanza I, 222 und in der Zeitschrift für rom. Phil. I, 521 1), welcher allen Vokalen im Romanischen ursprünglich gleiche, mittlere Quantität zuschreibt, so von J. Storm 2), welcher >> einen romanischen Urzustand annimmt, in welchem alle Vokale kurz oder vielmehr gleich dauernd waren«; und während auf der einen Seite E. Böhmer in seinen Aufsätzen »Klang, nicht Dauer<«< (Roman. Studien III, 351 ff., 609 ff., IV, 336 ff.) Bestimmtheit der Vokaldauer auch für den weiteren Verlauf der romanischen Sprachentwickelung bestreitet, treten andererseits einige Gelehrten entschieden für erstere ein, wie G. Gröber (Zeitschr. f. rom. Phil. III, 146, IV, 464), H. Suchier (ebenda III, 135 ff.), H. Schuchardt (ebenda IV, 141), sowie B. Ten Brink in seiner Schrift >>Dauer und Klang << (Strassburg 1879), in welcher er auf Grundlage der von Diez (Grammatik I, 487) aufgestellten Sätze ein eigenes Gesetz über die Entwickelung der Vokalquantität im Romanischen formuliert und dieses Gesetz durch die Geschichte der betonten e-Laute im Altfranzösischen zu begründen sucht. Ausser von dem zuletzt genannten werden die Verhältnisse der Vokalquantität des Französischen, und besonders des Französischen der jüngeren Sprachperioden, von den hier aufgezählten Forschern keiner eingehenderen Erörterung unterzogen. Ten Brink dringt mit seinen Untersuchungen bis gegen den Ausgang des Mittelalters vor, allein ungeachtet der hieraus gezogenen Schlüsse bleibt doch noch vieles in der Geschichte der französischen Vokalquantität, vorzüglich derjenigen der neueren Zeit, dunkel und unerklärt.

1) vgl. Suchier in Zeitschr. f. roman. Phil. III, 136.

2) vgl. H. Schuchardt in Zeitschr. f. rom. Phil. IV, 141.

Französische Studien. IV. 2.

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Unter diesen Umständen liegt der Gedanke nicht fern, dass eine genauere Untersuchung der Vokalquantität im Neufranzösischen, welche jedenfalls den grossen Vorteil für sich hat, dass sie ihre Ergebnisse aus empirisch gegebenen Thatsachen gewinnt, vielleicht, wenn auch nicht unmittelbar, so doch mittelbar, zur Aufhellung dieses Dunkels ein Teil beitragen kann. Eine solche Untersuchung, und zwar womöglich eine Ermittelung von Gesetzen oder Regeln, welche den heutigen Zustand der französischen Vokalquantität beherrschen, soll den Inhalt der folgenden Seiten bilden.

Diese Arbeit könnte überflüssig erscheinen im Hinblick auf die zahlreichen Regeln über Vokalquantität, welche bereits in den Werken französischer Orthoepisten, von Th. Beza bis auf Lesaint 1), in französischen Grammatiken und auch bei Diez (Grammatik 14, 494 ff.) auf Grund der Angaben neuerer französischer Grammatiker niedergelegt sind, allein vielen dieser Regeln auch die von Diez gegebenen nicht ganz ausgeschlossen haften Mängel an, welche sie nicht geeignet erscheinen lassen, als Grundlage für Forschungen nach früheren Sprachzuständen zu dienen. Diese Mängel bestehen hauptsächlich darin, dass einerseits die verschiedenen Quantitätserscheinungen nicht unter Kategorien gebracht sind, welche die Geschichte des romanischen Vokalismus im Allgemeinen an die Hand giebt, dass andererseits Quantitäten der Lehnwörter nicht von denen der Erbwörter getrennt sind, sowie dass vielfach orthographische Zeichen gleichsam zu Ursachen der Quantität gemacht werden, so, wenn behauptet wird, dass der Circumflex Dehnung, Konsonantengemination Kürzung eines Vokales bewirke. Es wird mithin die Aufgabe der vorliegenden Arbeit sein, derartige Fehler nach Möglichkeit zu vermeiden, die angedeuteten Mängel zu beseitigen, überhaupt das in der heutigen Sprache gegebene Material zunächst in neue Formen zu giessen 2).

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Was vor Allem dieses Material betrifft, so kann dasselbe nur aus einem Wörterbuche geschöpft werden, d. h. es muss aus einer Zusammenstellung der einzelnen Wörter der lebenden Sprache bestehen, weil die eigenthümlichen Betonungsverhältnisse des Neufranzösischen ein einigermassen genaues Erfassen der Quantität nur im Aussprechen des einzelnen Wortes oder des Wortes am Ende des Satzes gestatten. Da der Satzton im Französischen besonders stark entwickelt ist, so wird der Accent des französischen Einzelwortes im Satz, in der zusammenhängenden Rede so sehr geschwächt, dass die Tonsilben der übrigen Wörter eines Satzgliedes gegen die Tonsilbe

1) vgl. Diez, Gr. I4, 494.

2) Dass dabei jedoch einige der hier sich ergebenden Regeln mit bereits früher von anderer Seite aufgestellten identisch sein werden, liegt in der Natur der Sache.

desjenigen Wortes, welches den Satzton erhält, merklich zurücktreten 1).

Ferner kann in der zusammenhängenden Rede der rhetorische Accent Aenderungen in der ursprünglichen (der » absoluten«<, wie sich Sachs ausdrückt) Quantität der Wörter bewirken 2).

Es kann demnach nur diejenige Untersuchung erfolgreich und fruchtbringend sein, welche auf die Beobachtung der Vokalquantität des in seiner Vereinzelung ungezwungen ausgesprochenen Wortes begründet ist. Auch E. Böhmer giebt in dem letzten der oben angeführten Aufsätze (Rom. Studien IV, 346) zu, dass Bestimmtheit der Vokalquantität im isolierten Wort (und gewöhnlich auch in gebildeter Rede) bestehe.

Ein weiterer Grund für die Benutzung eines Wörterbuches zu dem hier vorliegenden Zwecke liegt in dem Umstand, dass wir gerade in Deutschland ein solches besitzen, dessen Angaben über die Vokalquantität auf vorhergegangener sorgfältigster Prüfung beruhen: es ist, wie bekannt, das encyklopädische französisch-deutsche Wörterbuch von Dr. Karl Sachs (Berlin 1877).

Um zu zeigen, mit welch minutiöser Gewissenhaftigkeit gerade die Quantität festgestellt wurde, sei hier die betreffende Stelle aus der (nicht in allen Exemplaren enthaltenen) »Schlussbemerkung der Verlagshandlung« (Seite VII) wörtlich angeführt:

>> Nicht geringe Schwierigkeit machte die Angabe der Quantität der französischen Vokale, da es hierfür an jedem brauchbaren Anhalt fehlte. Der Franzose empfindet nämlich über diesen Punkt ganz anders als der Deutsche, und können sich beide Nationalitäten hierüber nicht verständigen. Fragt man einen Franzosen, ob diese oder jene Silbe lang oder kurz sei, so meint er entweder, im Französischen gäbe es gar keine Längen oder Kürzen, oder aber, er urteilt anders als er spricht, d. h. er spricht das Fragliche oft ganz deutlich lang aus und sagt, es sei kurz, und vice versa. Der gleiche Widerspruch mit deutscher Auffassung findet sich in den zu Anfang dieses Jahrhunderts von d'Olivet über Länge und Kürze der Silben aufgestellten Regeln, die sich in allen bis auf den heutigen Tag in Deutschland und Frankreich erschienenen Werken über Aussprache mehr oder weniger wiederfinden, und welche für Deutsche geradezu unbrauchbar sind, da

1) vgl. Lubarsch, Französ. Verslehre S. 28 u. 31. Lesaint, prononciation franç., 2. éd., p. 445. Mätzner, Französ. Grammatik S. 45. 2) vgl. Lubarsch 1. c. S. 29. Diese Thatsachen bestätigt auch Sachs, wenn er in der Einleitung (S. XXII) zum Wörterbuch bemerkt:

>>In der Verbindung [des einen Wortes] mit andern Wörtern entstehen, in Bezug auf die Länge und Kürze (Quantität) der Sylben, natürliche Schwankungen und Abweichungen, je nach der Stelle, welche das Wort im Satze einnimmt, und nach dem Affekte des Sprechenden. Die lange Endsylbe_eines Wortes wird noch gedehnter werden, wenn das Wort zu Ende des Satzes steht, table z. B. also länger in »le roi est à table« lauten, als in »la table du roi &c.<<

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sie meist das Gegenteil von dem enthalten, was ein deutsches Ohr in praxi hört. Um aus diesem Dilemma herauszukommen und einen festen Anhalt zu gewinnen, schlugen wir folgenden, zwar mühsamen, aber sicheren Weg ein: Es wurden über alle im Französischen zwischen Vokal und folgendem Konsonanten möglichen Lautverbindungen je sechs Beispiele gesammelt und in Listen zusammengetragen; Ganzen für etwa 1000, sage tausend, verschiedene Kombinationen. Die so gesammelten Beispiele haben nun gebildete Franzosen aus den verschiedensten Gegenden Frankreichs einer aus mindestens drei Deutschen bestehenden Versammlung vorgelesen. Jeder Einzelne der deutschen Hörer hatte eine besondere, mit der des Vorlesers gleichlautende Liste vor sich liegen, in welche er neben dem betreffenden Beispiele eintrug, ob er lang (-), kurz (~) oder halblang () gehört habe. Jedem der hörenden Deutschen lag jedesmal eine neue Abschrift der Liste vor, damit er durch die bei einer früheren Sitzung gemachten Vermerke in seinem Urteil nicht beeinflusst werde. Die in diesen Hör-Konferenzen gewonnenen Resultate wurden nun aus den einzelnen Listen zusammengestellt und dasjenige als Richtschnur adoptiert, wofür die meisten Stimmen sprachen. Mit wenigen Ausnahmen herrschte in allen Fällen Einstimmigkeit darüber, ob eine Silbe lang oder kurz sei. Wo die Stimmen auseinander gingen, adoptierte man die halbe Länge als Regel. Auf diese so gewonnenen Gesetze musste nun bei Angabe der Aussprache jedes einzelnen Wortes, nicht blos der Richtigkeit, sondern auch der Konsequenz wegen, oft Rücksicht genommen werden, als jedes französische Wort Silben hat.

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Dazu kamen u. A. die Recherchen über Bindung und Nichtbindung (wobei, wie in vielen anderen Punkten, die Umgangssprache von der populären oder erhabenen, style soutenu, abzuheben war), Bestimmung der Diphthongen (bei zusammentreffenden Vokalen), Rücksicht auf eine Unzahl von Ausnahmen und durch den Sprachgebrauch bedingten Verschiedenheiten anscheinend ganz gleicher Fälle, und schliesslich die Druck-Korrektur.<<

Es ist klar, dass aus einem derartigen Verfahren als Resultat die wirkliche Aussprache des modernen Französisch der gebildeten Klassen, wie sie einem unbefangenen Hörer ins Ohr fällt, hervorgehen muss; dass bei diesem Verfahren allerdings auch Inkonsequenzen und Abweichungen nicht ausbleiben können, wird sich im Verlaufe der folgenden Untersuchung herausstellen, doch werden sie fast nirgends in dem Masse auftreten, dass dadurch eine gewonnene Regel wieder aufgehoben würde. Denn »> lässt sich,« wie H. Schuchardt1) bemerkt, >> das Vorkommen zahlreicher Schwankungen in der Aussprache zwar nicht leugnen, so hebt sich doch das Regelmässige von dem unter be

1) Zeitschr. f. rom. Phil. IV, 141.

sonderen Bedingungen Eintretenden oder dem überhaupt Möglichen ganz bestimmt ab.<<

Liegt nun auch in Sachs' Wörterbuch die Quantität sämmtlicher, der betonten wie der unbetonten, Vokale genau aufgezeichnet vor, so erscheint es doch angezeigt, die Untersuchung auf die betonten Vokale, als das wichtigste Gebiet aller romanischen Lautentwickelung, zu beschränken. Ueberdies lassen sich Quantitätsunterschiede, welche schon in betonten Vokalen weniger bemerkbar, als z. B. im Deutschen sind 1), in unbetonten Vokalen nur äusserst schwer feststellen, da, wie Ploetz 2) bemerkt, und wie sich auch aus Sachs nachweisen liesse, jeder lange Vokal, sobald er in unbetonter Silbe steht, an Dehnung verliert und mit wenigen Ausnahmen zu einem mittleren Laute wird 3), wenngleich zugegeben werden muss, dass in diesen wenigen Ausnahmen die Länge des vortonigen Vokals gerade stark genug hervortritt, um in gewissen Fällen, wenn auch kaum in der Ausdehnung, wie Schuchardt 4) anzunehmen scheint, den Wortaccent sich unterthänig zu machen 5).

Das Material für die folgenden Untersuchungen werden also die betonten Vokale nach Sachs, und zwar die Tonvokale der Erbwörter liefern, doch wird es vielfach nicht unnütz sein, die Lehnwörter zur Vergleichung heranzuziehen, da die Behandlung der Quantität ihrer Tonvokale geeignet ist, die für die Erbwörter gefundenen Regeln deutlicher hervortreten zu lassen.

Die Frage, unter welche Gesichtspunkte nun dieses Material zu fassen, in welche Kategorien es einzuordnen sei, kurz, welche Richtung die folgende Untersuchung einzuschlagen habe, ist folgendermassen zu beantworten.

Es unterliegt wohl kaum einem Zweifel, dass das Grundgesetz der Vokalquantität der romanischen Sprachen darin besteht, dass die Tonvokale in offener Silbe (d. h. im Silbenauslaut) lang, in geschlossener Silbe (d. h. im Silbeninlaut) kurz sind, wie dies schon Diez (Grammatik I4, 487) unter Hinweis auf die gleiche Erscheinung in der deutschen und neugriechischen Sprache ausgeführt hat 6).

S. 18.

1) vgl. Mätzner, Französ. Grammatik S. 45.

Systemat. Darstellung der französ. Aussprache, 10. Aufl., Berlin 1877, 3) vgl. auch Bernh. Schmitz, Französ. Grammatik S. 33. 4) Zeitschr. f. rom. Phil. IV, 144.

franz. Sprache II, 559.

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5) vgl. Diez, Grammatik I4, 511, 512.

vgl. Koschwitz in Zeitschr. f. neu

6) vgl. G. Gröber in Zeitschr. f. rom. Philologie III, 148: »Dass in den romanischen Sprachen die Vokaldauer nicht ausschliesslich, aber wesentlich von der Stellung der Vokale im Silbeninlaute und -Auslaute bedingt ist, und dass darauf die Verschiebung der Quantität der Vokale in lateinischen Wörtern beruhe, scheint mir eine ebenso sichere als naheliegende Erkenntniss.<< E. Böhmer bestreitet allerdings (Roman. Studien IV, 343) die Gültigkeit

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