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friedigt. Allein da das, was nützt, für jeden Menschen, ja für jeden Augenblick verschieden ist oder verschieden sein kann, da man bald den augenblicklichen, bald einen dauernden, bald sinnlichen, bald geistigen Nutzen im Auge hatte, den Nutzen bald auf den Einzelnen bald auf die Gesamtheit oder doch die Mehrheit bezog, ferner da das, was nützt, im Laufe der Zeit durch Entwickelung der Wissenschaften wie der Anthropologie, der Hygiene, der Individual- und Sozialpsychologie u. s. w. immer besser erkannt wurde, so sieht man, wie verschieden zu verschiedenen Zeiten und für verschiedene Personen die Antwort ausfallen mufs, auf die Frage: was nützt?

Wer nun mit Hintansetzung dessen, worin sich von alters her die sittliche Beurteilung in Übereinstimmung befand, allein seine Aufmerksamkeit richtet auf die vielfachen Abweichungen in dem, was die verschiedenen Zeiten und Völker gut genannt und als gut befolgt haben, und ferner auf die Jahrtausende alten, immer wieder vergeblich wiederholten Bemühungen, allgemein giltige Normen des sittlichen Urteils aufzustellen, der sagt wohl es sei unmöglich, eine Ethik in dem Sinne zu gewinnen, dafs sie, wie man von jeder Wissenschaft verlangt, feste und unwandelbare Erkenntnisse darböte. Wer die Wahrheit ohne Hülle kennen lernen und zur eigentlichen Höhe menschlicher Bildung sich erheben wolle, müsse sich frei machen von der Meinung, als ob die Urteile über den Wert oder Unwert irgend eines Gegenstandes oder Verhaltens eine objektiv feststehende und giltige Bedeutung für das Beurteilte selbst hätten. Das Wahre sei die stete Veränderlichkeit der Dinge selbst und deren Verhältnisse. Die Urteile der Menschen über gut und böse, gerecht und ungerecht, schön und häfslich, wohl oder übel, seien abhängig von zufälligen und wechselnden Zuständen ihrer Natur und deshalb lediglich subjektiv, wie unwillkürlich sie auch sein mögen. Finde eine Übereinstimmung dabei statt, so sei dies blofs zufällig und vorübergehend. Zu einer objektiven Wertbestimmung böten die Dinge selbst keinen genügenden Anhalt dar. Nur wo die äufseren Lebensverhältnisse sich gleichbleiben, nur da könnten und müfsten wie die Bedürfnisse so auch die sittlichen Anschauungen dieselben bleiben; diese müfsten sich aber mit jenen ändern.

Gründe zu einer derartigen Ansicht mögen einmal in den Motiven eines ethischen Libertinismus liegen, der jeden Vorwand willkommen heifst, seinen Launen und Gelüsten freien Spielraum zu gewähren und mit Berufung auf die Relativität alles Ethischen sich am leichtesten mit dem an jeden Menschen herantretenden sittlichen Ernste der Pflicht abfinde. Ferner führt dazu das Bestreben einer falschen Vornehmheit, sich über das Gemeine zu erheben, wozu sie alles entschiedene Urteilen, namentlich auch das über gut und böse, gerecht und ungerecht zählt, und jene Urbanität, die zu keinem und von keinem sagt: du irrst, oder gar: du thust unrecht, sondern nur immer: du hast recht.

Ferner gehört hierher ein schwächlicher Skeptizismus, der nicht scharfsinnig genug ist und wohl auch nicht den guten Willen hat, die Widersprüche zu lösen, die von jeher zwischen den verschiedenen sittlichen Urteilen bestanden haben. Er wird sagen: die Menschen sind verschieden, haben von jeher verschieden geurteilt, das ist nun einmal so, viel Köpfe, viel Sinne, das wird niemand ändern. Nur ein Thor kann auf feste Normen ausgehen. Ein solcher Skeptiker vergifst, dafs jeder Anfänger wohl Skeptiker ist, aber auch umgekehrt, jeder Skeptiker ist nur Anfänger in einer Wissenschaft, und wer in der Skepsis beharrt, wo man zu festen Ergebnissen gelangen kann, der ist nicht einmal mehr Anfänger, sondern weniger als dies.

Namentlich aber ist der relative Standpunkt in der Ethik durch falsche Theorieen befestigt worden. Dazu gehört besonders die des absoluten Werdens. Darnach mufs der Gedanke an ein bestimmtes Verhalten, in welchem man beurteilend und ausführend verharren soll, ganz und gar aufgehoben werden. Alles ist dem Wechsel unterworfen, und es fehlen die ruhigen und sich stets gleich bleibenden Ideale. Dergleichen aufstellen und festhalten zu wollen, würde den Gesetzen des wahren Geschehens, d. h. des ewigen Wechsels, widersprechen. Es tritt an die Stelle bestimmter Ideale der Gedanke des absoluten Fortschrittes, ohne bestimmtes Ziel, ohne würdigen Zweck. Nur Leben, nur Bewegung, kein Stehenbleiben bei irgend etwas, fort und immer fort, von einem zum andern. Weg mit alledem, was irgend etwa auf ein festes Bestehenwollen hindeuten mag. Das Verharrenwollen darin ist Sünde.

Es soll hier nichts dagegen gesagt werden, ist doch das ganze Buch dagegen gerichtet. Aber das ist gewifs: wenn diese Einwürfe, wie sie seit alters gegen die absolute Ethik gemacht sind, sich immer wieder erneuern, dann ist es auch immer wieder nötig und zeitgemäfs, die absolute Ethik zu verteidigen und darzulegen.

Indes auch eine andere Erwägung zeigt, dafs unsere Ethik noch immer am Platze oder, wie man sagt, aktuell ist. Sie erhebt uns nämlich auf den Standpunkt, von wo aus man nicht allein die neuzeitlichen Bestrebungen überblicken und beurteilen kann, sondern setzt auch in den Stand, das Körnchen Wahrheit zu schätzen, was in jeder der verschiedenen Richtungen steckt. Es ist ein Geist des Guten in dem Bösen, heifst es bei Shakespeare. Ein System wird widerlegt durch Aufdeckung seiner Irrtümer, es wird besiegt durch Würdigung der in ihm verborgenen, nichtverstandenen Wahrheitselemente. Es ist nicht genug anzugeben, was falsch und warum es falsch ist, es gilt auch zu zeigen, warum das Falsche so oft für richtig angesehen wird.

Man werfe zu dem Zwecke einen Blick auf die einzelnen sittlichen Ideen, wie sie im vorliegenden Buche entwickelt werden. Da stellt die innere Freiheit die Übereinstimmung des Willens mit der eigenen Einsicht auf, sie will nichts von einer fremden, blinden, aufgedrungenen Autorität, nichts von Zwang wissen. Wird dies einseitig festgehalten und ausgeführt, so heifst es: gieb dich, wie du bist, nimm keine Rücksicht auf anderer Meinung, auf veraltete Sitten, Vorurteile u. s. w., sondern bilde deine eigene Individualität aus, wie sie ist, und biete sie anderen dar.

Nun versetze man sich in eine Zeit mit strengen, für alle gleichförmigen, von äusseren Autoritäten vorgeschriebenen Pflichten, oder mit künstlich geschraubten gesellschaftlichen Zuständen, wo mit den tausend Rücksichten äufserer Etikette alle eigene Individualität niedergehalten wird, wo eigentlich nur die eine Regel gilt: falle nicht auf. Auf eine solche Zeit wird immer als Reaktion folgen: Geltend machen der eigenen Individualität, sich befreien von den einengenden Banden, von dem unnatürlichen Drucke. Man denke z. B. an Rousseaus Bestrebungen und den Beifall, den er so weithin fand: der Mensch lebe in Übereinstimmung mit sich selbst! er will nichts anderes, als wozu seine eigentüm

liche Natur ihn antreibt. Nur der ist glücklich, der im Frieden mit seiner eigenen Natur lebt. Man denke auch an Kants Autonomie, an Fichtes Wort: der höchste Trieb im Menschen geht auf absolute Übereinstimmung mit sich selbst, ferner an das, was der absolute Idealismus als Kern aller Moral ansah: Übereinstimmung, sogar Identität des Vielen und des Einen; man denke an die Romantik und ihren Gegensatz gegen das Klassische mit seiner Ruhe, seinem Ebenmasse, seiner Objektivität, dagegen bei der Romantik ein Betonen des subjektivsten Gefühls, der augenblicklichen Empfindung, der Eingebung im Gegensatz zur verständigen Überlegung.

In einem Briefe an Körner vom Jahre 1790 redet der bekannte Ferdinand Huber, welcher das Vertrauen, das G. Forster ihm schenkte, damit vergalt, dafs er ihm die Frau entführte, über die Philosophie folgendermalsen: „Meinem Bedürfnis nach ist jede Philosophie, als zusammenhängende Reihe von Abstraktionen aus dem Vorhandenen und Gedenkbaren sehr überflüssig, weil keine mir ein Licht aufsteckt, das ich nicht für den Augenblick ohne sie fände, und über den Augenblick hinaus täglich glaube. Ihr strebt mir etwas hinzustellen aufser mir und aufser euch; ich mufs ewig von mir ausgehen und komme doch auch überall hin, und habe den Gewinnst der höchsten Freiheit, die keine absolute Wahrheit kennt." Natürlich dann auch nicht die Giltigkeit dessen, was das zehnte Gebot besagt.

Hiermit spricht F. Huber aus, was ein charakteristisches Zeichen auch unserer Zeit ist: das Geltendmachen, Sichauslebenlassen des eigenen Ich in der allerindividualsten Form. Und wie es gar oft im Sittlichen oder vielmehr Unsittlichen heifst:,,Bin ich mächtig, so bin ich auch ermächtigt." „Erlaubt ist, was (mir) gefällt," so geht vielfach auch die Kunst auf eine Darstellung der Natur aus, genau so wie sie ist, wie sie sich uns etwa in einer Augenblicksphotographie giebt, nicht wie sie wirklich von uns gesehen wird.

Man höre, wie dies einer, der diesen Standpunkt einnahm, beschreibt: Ich war da, um mein eigenes Ich zu behaupten, um mein eigenes Selbst zu geniefsen, um alle die kleinen Eigenschaften meines Wesens umzuformen und auszuhauen bis auf den letzten wunderlichen Schnörkel. Mein Ich zu geniessen und

anderen mein Ich zum Genufs zu bieten das war meine einzige höchste Pflicht. Alle Gefühle, alle Rücksichten habe ich verbrannt auf dem Altarfeuer vor dem heiligen Bilde meines Ichs, vor dem Abgotte, den ich meine Kunst nannte . . . und überall begegnete ich raffinierten Egoisten, blasierten Dekadenten, rücksichtslosen Bohemen und moralverachtenden Übermenschen. Das Ich, das selbstherrliche, autonome Ich ist die höchste Instanz und die einzige Norm für Leben und Handeln geworden. 1)

Auch die vielen Auflagen des nun schon längst wieder vergessenen Buches: Rembrandt als Erzieher, waren gleichsam ein einziger Ruf nach Individualität, nach Persönlichkeit.

Unschwer ist zu erkennen, dafs dies alles Zerrbilder der inneren Freiheit sind. Nur wer diese recht gefafst hat, sieht, was in all diesen Reden das Körnchen Wahrheit ist.

Nun geht aber die Betrachtung weiter. Soll denn jeder nach seiner Individualität leben dürfen? Hat denn jeder eine wirkliche Individualität? Sind nicht die meisten nur Dutzendware, Herdentiere ohne eigentliche eigene Individualität? Wie viele die nur vegetieren wie Exemplare der Fauna oder Flora! Nur der Hervorragende oder, um ein Schlagwort zu brauchen, nur der Übermensch hat Individualität und mag sie nach allen Seiten hin unbeschränkt geltend machen! Dichter und Historiker und mit ihnen wohl auch poetisierende und Zeitalter deutende Philosophen gefallen sich darin, seltene Menschen begriffen zu haben, das Wunderliche nicht zu bewundern, das Schlechte als ein Natürliches zu erklären. Kommt ihnen nun die Moral in die Quere, so wird sie beschuldigt, nicht auf der Höhe der Zeit zu stehen, bornierte Ansichten zu haben, das Notwendige nicht als ein Freies begreifen zu können und was dergleichen Redensarten mehr sind." So spricht Herbart (IX, 355) von seiner Zeit. Es gilt für uns noch ganz genau. Wer mit der Physiognomie der sittlichen Ideen vertraut ist, erkennt in den Reden von der Weihe der Kraft, dem Kultus des Genius, von energistischen Urteilen, vom Willen zur Macht, vom Übermenschen u. s. w. sogleich die Idee der Vollkommenheit. Diese lobt das Starke neben dem Schwachen. Fafst man sie allein, losgelöst von den anderen

1) Jörgensen, Lebenslüge und Lebenswahrheit. Aus dem Dänischen, 1897.

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