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Ideen ins Auge, dann kommt die einseitige Bewunderung des Grofsen und Starken zu stande. Konnte doch selbst der feinsinnige W. v. Humboldt einmal so weit gehen und sagen: Energie ist die einzige Tugend des Menschen. 1)

Nun lässt sich bekanntlich jeder Mensch am leichtesten durch das imponieren, worüber er kein klares Urteil hat. Nennt man Menschen, Werke, Ereignisse grofs oder bedeutend, so ist das meist ein sicheres Zeichen, dafs das so Beurteilte uns einigermassen verwirrt, uns zu viel darbietet, als dafs man sofort ein klares sachgemäfses Urteil fällen könnte. In seinem eigenen Fach läfst man sich nicht so leicht imponieren, man bewundert wohl die Gröfse, eben weil man das Grofse an ihm zu schätzen weifs, aber man lässt sich nicht davon unterjochen oder verwirren. Anders, wenn Menschen etwas beurteilen, worin sie selbst nichts leisten und ihre eigene Schwäche fühlen. Darum finden die Helden der That so oft übermäfsige Bewunderung von den Helden der Feder und umgekehrt. Ihre Verherrlichung der urwüchsigen, rücksichtslosen Kraft stammt nicht aus eigenem Kraftüberschufs, sondern aus Krafthunger. Man idealisiert an den Helden das, was dem Bewunderer selbst fehlt. Wenn man die Reden so vieler hört

oder hört von unseren gernegrofsen Kolonialbeamten, die am liebsten für sich kleine Sultanate errichten, so wird man sehr lebhaft an ein Wort Treitschkes erinnert, das er bei Gelegenheit der Ermordung Kotzebues durch G. Sand sagt: die Todsünde des neunzehnten Jahrhunderts, jener impotente Gröfsenwahnsinn, spielt fast bei allen berufenen Verbrechen der modernen Geschichte seine Rolle." 2)

Darum bemerkt schon Novalis in seinen Gedanken über Moral, dafs das Ideal schöner Gemütsart mit keinem gefährlicheren Nebenbuhler zu kämpfen habe als mit dem Ideal der höchsten Kraft und des thatenvollsten Lebens, diesem Traum des Barbaren, der blofs die richtige Beimischung von Stolz, Ehrgeiz und Selbstsucht zu erhalten braucht, um zum vollkommenen Ideal des Bösewichts zu werden. Nur zwei Tugenden giebt's, ach wären sie immer beisammen! Immer das Grofse auch gut, immer das Gute auch grofs." (Schiller.)

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1) Werke 1841. I. 221, 19, 248, 200.

2) Deutsche Geschichte des 19. Jahrh. II, 521.

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Wenn fernerhin Tolstoi nach allen Richtungen hin ausführt: ,,Widerstehe nicht dem Bösen", so ist dies eine einseitige Hervorhebung der Idee des Rechts mit ihrer Forderung: „meide den Streit, überlasse." Oder wenn unsere Sozialisten verlangen: jeder mufs haben nach seinem Bedürfnis und Wunsch oder beschränkend hinzusetzen: jeder wenigstens nach seinem Verdienst, jedem nach seiner Fähigkeit und jeder Fähigkeit nach ihrer Leistung, so machen sich hier die Ideen des Wohlwollens und der Billigkeit und zwar einseitig geltend.

Das Fehlerhafte aller dieser Betrachtungen und Forderungen besteht darin, dafs jedesmal dabei nur eine der Ideen zum Leitstern erhoben wird; sie bestätigen insofern das Wort Herbarts: Soll eine praktische Philosophie, eine Lehre vom Thun und Lassen, von den unter Menschen zu treffenden Einrichtungen, vom geselligen und bürgerlichen Leben gewonnen werden: so kann es keinen gröfseren Fehler geben, als wenn man irgend eine der praktischen Ideen einzeln heraushebt, um die blofs um ihretwillen notwendigen Anordnungen zu erforschen. Vielmehr nur alle vereinigt können dem Leben seine Richtung anweisen, sonst läuft man die gröfste Gefahr, einer der übrigen aufzuopfern, und dadurch kann ein von einer Seite sehr vernünftiges Leben von mehreren anderen Seiten höchst unvernünftig werden. Diese Warnung ist um so notwendiger, weil ohne alle wissenschaftliche Vorbildung jeder Mensch seine eigene sittliche Einseitigkeit zu haben pflegt, vermöge deren ihm diese oder jene unter den praktischen Ideen lebhafter vorschwebt als die übrigen, die er in gleichem Grade anerkennen und ehren sollte. Der eine strebt nach blofser Kultur (Vollkommenheit), der andere kennt nur die Liebe (das Wohlwollen) und achtet nicht der Billigkeit noch des Rechts, ein dritter möchte die Staaten zu blofsen Zwangsmaschinen machen im Namen des Rechts ohne Rücksicht auf die Billigkeit noch auf wohlwollende und bildende Einrichtungen; ein vierter verwechselt das Recht mit der Billigkeit und will ohne Rücksicht auf vorhandene rechtskräftig gewordene Anordnungen und Urkunden die gesellschaftlichen Vorteile und Nachteile ausgleichen, damit alles, was Menschen einander zugestehen, sich gegenseitig vergelte; ein fünfter endlich meint den Gipfel der Weisheit zu ersteigen, wenn er die für sich leere

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Idee der inneren Freiheit (welche sich ohne Kenntnis der übrigen Ideen in blofse Konsequenz verwandelt) als die Summe alles Edlen und Guten anpreist. Keine dieser Verirrungen ist verkehrter als die andere, obgleich eine gefährlicher werden kann als die übrigen. Verderblicher aber als gemeine Irrtümer sind die sämtlichen hier erwähnten darum, weil jeder von ihnen sich mit einem gewissen Trotz behauptet, den das Bewusstsein der einzelnen zu Grunde liegenden praktischen Ideen hervorbringt. 1) Dieser Trotz beruht darauf, dass jede Idee von jedem Unbefangenen als etwas absolut Wohlgefallendes unmittelbar gefühlt wird, und jeder also im Rechte ist, wenn er sich dies unmittelbar empfundene Wohlgefallen nicht abstreiten läfst. Und eben darum hebt uns Herbarts Ethik auf die Höhe, von der aus jede sittliche Verirrung und Einseitigkeit verstanden, beurteilt, teilweis anerkannt und berichtigt werden kann.

Die Reihenfolge, in welcher die fünf Ideen dargestellt werden, ist verschieden je nach dem Gesichtspunkt, der dabei verfolgt wird. Waitz und Strümpell stellen die Rechtsidee voran, weil ein Zusammenleben der Menschen zunächst auf diese führt, und das Recht in mancher Beziehung als Vorstufe und Bedingung der höheren Sittlichkeit betrachtet werden kann. In ähnlicher Weise verfährt Resl aber aus einem anderen Grunde, er sucht die Ideen psychologisch zu erklären. Wieder aus anderen Gründen stellt Ziller die Idee der Vollkommenheit voran. Ich selbst habe anderwärts mit der Idee des Wohlwollens begonnen, weil Sympathie und Antipathie wohl die ersten sittlichen Regungen innerhalb der Familie sein dürften. 2) Läfst man sich indes lediglich von den Grundgedanken einer wissenschaftlichen Ethik leiten, so mufs die Idee der inneren Freiheit voran stehen, denn nur da, wo der Mensch sich selbst Gegenstand der Betrachtung und Beurteilung wird, wo er also selbst urteilt über sich selbst, nur da

1) Herbart, Einleitung § 95.

2) Waitx, im Anhang der zweiten Auflage seiner Pädagogik. Strümpell, Abhandlungen aus dem Gebiete der Ethik, 3 Hefte. 1895. Rest in der Zeitschrift für exakte Phil. VI. 227. Ziller, Allgemeine philosophische Ethik. 0. Flügel, Das Ich und die sittlichen Ideen im Leben der Völker.

kann von dem die Rede sein, was den Namen sittliches Urteil und sittliches Wollen verdient.

Schliesslich sei bemerkt, dafs in dieser zweiten Auflage manches von der ersten weggelassen, manches andere aus den Abhandlungen in der Zeitschrift für exakte Philosophie aufgenommen ist.

0. Flügel.

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