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gegenübersteht. Die individuellen Charakterzüge des ersteren haben ihre Grundlage in dem Gedankenkreise, der bei den verschiedenen Menschen verschieden ist, und den darin wurzelnden Gefühlen und Begierden, in der Menge, der Stärke und den Verbindungen der Vorstellungen, in den organischen Einflüssen, welche die Vorstellungsreihen teils verzögernd, teils beschleunigend begleiten und ein schnelleres oder langsameres Abweichen vom oder Hinneigen zum Gleichgewicht bedingen, in dem damit zusammenhängenden Temperament, Gemeingefühl und anderen Fak

toren. Diese Momente haben mitunter lange bevor der subjektive Teil des Charakters hervortritt und an der Konstitution des Inneren teilnimmt, eine Stärke, zusammenhängende Festigkeit und Dauer gewonnen derart, dafs für eine mangelhafte und einseitige Auffassung der Charakter früher, als die psychische Möglichkeit erlaubt, scheint fertig zu sein."1) Wie beschaffen ein so gebildeter objektiver Charakter ist, wird sich hauptsächlich zeigen in dem, was er treiben, haben und dulden will. Es ist leicht ersichtlich, was in dieser Beziehung die ersten Jugendeindrücke, das angeborene Naturell und die absichtliche Erziehung wirken können.

Dies aber kann dem Individuum, da es ohne dessen Zuthun in ihm entstanden ist, nicht zugerechnet werden, wohl aber können andere Menschen einen grofsen Teil der Schuld oder des Verdienstes daran haben, insofern diese wenigstens teilweise Urheber des objektiven Charakters jenes Individuums sind.

Aus dieser objektiven Grundlage bilden sich die ersten Anfänge des eigentlichen Ich. Dessen Natur ist es nun, einmal nur in diesen Vorstellungsreihen seinen Sitz zu haben und andererseits doch ihnen allen als das Subjektive, auf welches sie bezogen werden, gegenüberzustehen. Gewisse dieser Vorstellungsreihen werden zu dem eigentlichen Ich in einer innigeren Verbindung als andere stehen und werden die ersten selbstbewussten Apperzeptionen bewirken. Ein derartiges Erwachen des subjektiven Teils hat man sich selbstverständlich verglichen mit dem bisherigen Verhalten nicht als ein plötzliches, vollkommen anders geartetes Ereignis in der Seele zu denken, sondern es geschieht dies nur sehr allmählich. Aber von da an, wo mit Bewusstsein die Apperzeption

1) Strümpell, Die Vorschule der Ethik. 1844, S. 158.

vollzogen wird, wird auch der Charakter zum Teil das eigene Werk des Ich. Die einzelnen Teile des bisher rein objektiven Charakters werden jetzt den Prozessen der Erwägung, Erwählung und Entschliefsung unterworfen, und hierbei wird sich der subjektive Teil des Charakters bilden, indem er entweder den objektiven bestätigt, oder mifsbilligt und verändert.

Im ersten Falle, wenn aufserdem die einzelnen Teile des objektiven Charakters untereinander schon eine gewisse Gleichartigkeit zeigen, kommt der Mensch bald zur Einheit mit sich selbst oder zur psychologischen Freiheit. 1) Soll diese Freiheit die volle sittliche Freiheit sein, dann müfste der Mensch beim Hervortreten der eigentlichen Subjektivität sich finden als durchweg erwählend das Gute und verwerfend das Böse. „Das gute Herz müfste sich verklären zur schönen Seele. . . . Aber das harmonische Gleichmass aller Neigungen und die ruhige Sicherheit der Entschliefsungen, die den sittlichen Beifall an eine solche Individualität fesseln könnte, sind fast eine ideale Voraussetzung." 2) Wohl für jeden Charakter, den sittlichen wie den nicht-sittlichen, wird ein Kampf zwischen dem objektiven und dem subjektiven Teile zu bestehen sein. Denn die Teile des objektiven Charakters sind fast in jedem Individiuum viel zu mannigfaltig, untereinander widersprechend und wechselnd, als dafs sie sich ohne weitere Umformung zu einem herrschenden Willen, worauf ja der eigentliche Charakter beruht, vereinigen liefsen. Geschieht nun diese Umformung, und damit die Konzentration des objektiven Charakters, dann bildet sich der Charakter zur psychologischen Freiheit aus; geschieht dies noch aufserdem im Sinne der sittlichen Ideen, dann wird jene Einheit mit sich selbst zur sittlichen Freiheit und „der Cha

1),,Gewöhnlich sucht der Mensch, der sich selbst betrachtet, nur sich auszusprechen. . . . Das Bemühen, sich aufzufassen, wirkt unmittelbar als ein Bemühen, sich zu befestigen; denn das Festere wird dadurch vor dem minder Festem noch mehr im Bewusstsein hervorgehoben. Der Mensch kommt dadurch leicht zu irgend einer Art von Einheit mit sich selbst. Hierin liegt ein Wohlgefühl, was mächtig genug ist, sich der inneren Censur Meister zu machen. So erheben sich die Hervorragungen des Objektiven zu Grundsätzen in dem Subjektiven des Charakters; und die herrschenden Neigungen sind nun legalisiert.“ Herbart, X. 120. Pädag.

2) Hartenstein, Die Grundbegriffe der ethischen Wissenschaften, 1844. S. 445.

rakter steht als Herr des Verlangens im Dienst der Ideen.“ „Die Gesamtheit nun aller Überlegungen und Thätigkeiten, durch welche der Einzelne sich selbst als Gegenstand des beharrlichen sittlichen Beifalls zu erscheinen versucht, vereinigt sich in dem Begriffe der sittlichen Selbstbildung.1)

Mit dem bewussten Festhalten oder Umgestalten des objektiven Charakters beginnt die Zurechnung, denn es beginnt der Charakter selbst mit das eigene Werk der Person zu werden, und es kann das, was im objektiven Teile des Charakters anderen Personen, als den Urhebern zugerechnet werden mufs, nun nachdem dies mit vollem Bewusstsein festgehalten wird, dem Individuum selbst noch einmal zugerechnet werden. Diese Zurechnung nimmt dem einen nicht, was sie dem anderen giebt.

Der Charakter des Menschen hat demnach drei Bestandteile, er ist zum Teil mit der Individualität angeboren, zum anderen Teil anerzogen, sei es absichtlich oder zufällig, zum dritten ist er selbst erworben. „Die Moralität eines jeden ist das Produkt seiner äufseren und inneren Lebensgeschichte, zu welcher letzteren aber allerdings sein eigenes Wollen gehört. Wer wenigstens nicht schwere Verirrungen zu bereuen, nicht bittere Vorwürfe über Gethanes oder Unterlassenes sich zu machen hat und sich in der sittlichen Selbstbeherrschung auch für die Zukunft sicher fühlt, hat doch nicht Ursache, auf seine Tugend stolz zu sein; denn die Mittel dazu und die gute Stunde, in der er zum erstenmal von dem inneren unvergänglichen Werte des Guten ergriffen wurde und bewusst das Gute zu wollen anfing, verdankt er nicht sich selbst, sondern seinem gütigen Geschicke. Es ziemt ihm, dies dankbar anzuerkennen und zu bedenken, dafs wem viel gegeben ist, von dem auch viel gefordert wird." 2)

Endlich bedarf es nach den vorangegangenen Erörterungen kaum der Bemerkung, dafs man den Charakter nicht als etwas unveränderlich Feststehendes, als etwas, was unter allen Umständen sich selbst gleich bleibt, anzusehen hat, sondern als etwas, welches hier niemals so ausgebildet ist, dafs die äufseren und inneren Lebensschicksale gar keinen Einflufs mehr darauf ausüben

1) Vgl. das Weitere bei Hartenstein a. a. O. S. 440.

2) Drobisch, a. a. O. S. 91.

könnten. „Der Flufs der Zeit geht nicht neben den menschlichen Gemütern vorbei, sondern er geht durch sie hindurch, das heifst, er geht nicht, wie das Wasser an den Wänden der Röhre vorüber, sondern gleich dem elektrischen Strome durch die Substanz, auf deren eigene Natur es ankommt, ob sie ihn leiten oder hemmen werde." 1)

1) Herbart, IX, 364. Die Litteratur über Freiheit und Zurechnung s. Volkmann v. Volkmar, Psychologie § 151.

Über das Verhältnis der Religion zur Moral.

Moral und Religion stehen im Verhältnis einer gegenseitigen Ergänzung. Nicht aber so, als ob die sittliche Einsicht an und für sich nicht klar und selbständig herausgebildet werden könnte ohne Hinzunahme gewisser Lehren der Religion, oder als ob der Inhalt dessen, was die Moral für das menschliche Verhalten als absolut mustergiltig vorschreibt, unsicher wäre ohne die Bestätigung durch irgend welche religiöse Sätze. Die sittliche Einsicht beruhet auf einer unmittelbaren Evidenz, der religiöse Glaube dagegen nicht. Die sittliche Erkenntnis bedarf zu ihrer Reinheit nicht der religiösen Erkenntnis; vielmehr dient die sittliche Einsicht zur Läuterung der religiösen Vorstellungen. Handelt es sich aber um Ausführung dessen, was die Ethik vorschreibt, handelt es sich um sittliche Bildung, um Besserung, handelt es sich um einen sicheren Halt im Leben, kurz handelt es sich um eine Menge von Bedürfnissen, welche die Moral mit Rücksicht auf die wirklichen Zustände der Menschen anregt, handelt es sich darum, das Schwache zu stärken, das Kranke zu heilen, das Niedergeschlagene zu erheben, so ist da die Religion die notwendige Ergänzung der Ethik.

Gehen wir der Sache etwas näher nach.

Weder die sittliche Einsicht bedarf zu ihrer Evidenz der Religion, noch bedarf das sittliche Wollen, um als absolut vortrefflich zu gelten, einer Auffassung nach religiösen Rücksichten.

Um zu erkennen, was löblich und schändlich, was gut und böse, schön und häfslich ist, mufs die Aufmerksamkeit auf das gerichtet werden, aus dessen deutlicher Vorstellung diese Urteile sich jedem Einzelnen unmittelbar ergeben. Der Mensch fühlt

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